Applaus oder Aufruhr? Warum wir die Geister eines planetarischen Kommunismus rufen sollten

Geister sind der Urstoff des Imaginären – sie treten als Vorstellung in Erscheinung und aktivieren im Zuge dessen ein verborgenes Potenzial oder Areal der Vorstellungskraft. Verdrängtes, Vergessenes und Versäumtes erfährt eine Aktualisierung. Die Frage, die sich heute stellt: können wir dieses Potenzial urbar machen, obgleich auch der Rechtspopulismus das Imaginäre instrumentalisiert? Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki kommentiert.

*

Freitagabend in Berlin, es ist heiß. Hier und da Menschentrauben, die die Eröffnung, der Berlin Biennale feiern. Ein großer Sportwettbewerb, der sich durch den Tiergarten zieht, wühlt Staub auf den Straßen auf. Im Hebbel Theater steigt derweil das Performing Arts Festival. Bei der Lecture Performance von andcompany & Co. stilllovingtherevolution? stellt sich die Imaginäre Bewegung vor, die Anfang Mai in Frankfurt ins Leben gerufen worden ist: eine Bewegung, die im Raum des Imaginären angesiedelt ist, aber gerade deshalb umso realer sein möchte.

Als Antwort auf den sich ausbreitenden Rechtspopulismus gedacht, werden die Geister der kommunistischen Bewegung aber auch Geister der Frankfurter Schule und des Godard-Kosmos wachgerufen. Eine ihrer Pointen, ich paraphrasiere: “Warum delegitimiert man eine Bewegung indem man sagt, sie existiere “nur” in der Vorstellung? Müsste es nicht stattdessen heißen, eine Bewegung kann nie OHNE Vorstellung existieren?”

Nach der Performance stehen die Leute vor dem Theater herum, nehmen kühle Getränke zu sich, führen Gespräche. Später, als es schon fast Mitternacht ist, kommt das Gespräch in einem der Kreise auf BILD. “BILD hetzt jeden Tag gegen Geflüchtete. Jeden Tag!” “Dabei geht wie selbstverständlich unter, dass weitaus mehr Asylbescheide falsch negativ ausgestellt worden sind.” “Man müsste die Springer-Zentrale angreifen.” “Aber bitte nicht aus denselben Gründen wie 1968!” Ich sage: BILD ist selbstverständlich unmöglich! Doch ich finde, dass Der Spiegel ein größeres Problem darstellt. Zumindest in diesem Kontext.

Es ist immer noch sehr warm auf den Straßen als ich auf dem Rückweg durch die Berliner Nacht radele. Die Impulse des Abends schwirren mir durch den Kopf und verbinden sich mit Eindrücken vom Vorabend, an dem wir „Fugitive Belonging“ gelauncht haben und mit zwei Aktivistinnen aus Afrika (Jennifer Kamau und Abiol Lual Deng) sowie einem Sozialwissenschaftler aus Kanada (Max Haiven) die Verbindungen zwischen dem ‘Summer of Snowden’ und dem ‘Summer of Migration’ diskutiert haben, die das Buch als solches erkundet. Hier kamen wir auch auf die Rolle der Medien zu sprechen. Im Laufe des Wochenendes habe ich dazu noch weiter nachgedacht.

Ich habe mir die Frage gestellt, ob BILD als Feindbild emanzipatorischer Bewegungen taugt. Ist der Treffer jedweder symbolpolitischer Intervention nicht quasi garantiert, weil BILD so offensichtlich inakzeptabel ist? Applaus ernten, okay, aber will man nicht auch Aufruhr und Streit? Anders gesagt: Wenn der Treffer hier so einfach zu setzen ist, müsste das eigentliche Ziel dann nicht woanders zu suchen sein? Dort, wo wir Schwierigkeiten bekommen, das Ziel überhaupt zu definieren und zu erreichen?

Preaching to the converted?

Es liegt auf der Hand: “Hetze sells”. Das zeigt BILD in Zeiten von Gauland und Seehofer einmal mehr. Doch das ist nicht überraschend, denn “Hetze sells” hat in dem Laden quasi Tradition. Weil das so ist, hat das Blatt ermöglicht, dass der Rechtspopulismus sich ausbreitet. Nun profitiert es davon und trägt zu dessen Konsolidierung bei, vielleicht auch zur weiteren Verbreitung. Vielleicht. Vielleicht werden aber auch nur jene bedient, die ohnehin schon immer bedient worden sind mit allerlei Xenophobie und Rassismus. Preaching to the converted? Oder hat sich das Denken und Handeln der BILD-Leserschaft seit dem Aufkommen von Pegida, AfD und Co. verändert? Oder fühlt man sich einfach nur noch bestätigter denn je? Die politischen Implikationen wären historisch zu erkunden, was ich an dieser Stelle leider nicht leisten kann.

“Hetze sells” – das haben auch andere erkannt und surfen die Welle. Auch die liberalen Medien. Nach außen hin stellt sich das als Arbeit im Auftrag öffentlichen Interesses und journalistischer Objektivität dar. Manche mögen auch tatsächlich daran glauben, doch klarerweise geht es um die Auflage, um Klicks. Nebenbei ventiliert man eigene Ressentiments, lässt Großintellektuelle das aussprechen, was man sich selber nicht traut und verschafft sich somit auch die Genugtuung, des “Man wird es doch wohl noch sagen dürfen!” Ein Beispiel dafür sind Peter Sloterdijks Einlassungen in Der Spiegel zur hiesigen Migrations- und Intergrationspolitik. Der Philosoph durfte dort enthemmt seinen rechten Impulsen nachgeben und die imaginäre Dichotomie “Überfremdung vs. nationaler Schutzraum” stark machen, um en passant mit der einstudierten Geste des Wahrsagers darauf zu verweisen, dass wir noch lange, wirklich lange nicht so weit seien, um mit diesen ganzen Migrationsströmen anders als abwehrend umzugehen. Petrys “Schusswaffengebrauch an Grenzen” philosophisch sanktioniert. Von höchster Stelle.

All das, so suggerieren liberale Medien, bedient die “berechtigte” Neugier der Leserschaft. Doch was ist berechtigt? Und bedient es nicht vielmehr deren (verdrängte) Ressentiments und pornografisch-voyeuristische Lust am rechten Extrem? Wie auch immer. Die Tatsache, dass bei liberalen Medien wie Der Spiegel “Hetze sells” nicht zum traditionellen Geschäftsmodell gehört, sollte, ja, muss aufhorchen lassen. Wir blicken hier auf ein, zwei Dekaden der Boulevardisierung zurück und können uns damit vielleicht erklären, wie “Hetze sells” salonfähig werden konnte. Klar, auch hier haben ökonomische Erwägungen stets eine Rolle gespielt: Mehr Boulevard gegen Auflagenschwund. So konnte man sich einen guten Stand auf dem Markt sichern, auch wenn die Rolle, ein Leitmedium von europäischem Format zu sein, wie Jürgen Habermas das gerne gesehen hat, längst in Frage gestellt worden war.

Die Stärke des Rechtspopulismus verkörpert nicht BILD…

Leitmedium und Boulevard – das verträgt sich nicht. Auch kam der Zweifel auf, ob es so etwas wie ein Leitmedium in einer zusehends boulevardisierten, fragmentierten und digital-vernetzten Medienlandschaft überhaupt noch geben kann. Der eigene Anspruch, eine nicht wegzudenkende Säule der Demokratie zu sein, war ganz offensichtlich in Gefahr geraten. Doch es hatte sich auch eine Möglichkeit herausgeschält, eben das zu kompensieren: Man konnte versuchen Politik zu machen und sich gelegentlich als Ersatz-Partei zu inszenieren, wie Wolfgang Michal konstatiert. Ganz nach dem Vorbild von BILD, die mit ihrer so genannten Paternoster-Methode immer unverhohlener über Politiker-Karrieren und damit auch über Politik zu entscheiden begann, so verwandelte sich auch Der Spiegel in ein Medium, dem das Medium-sein nicht genügte, nicht mehr genügen konnte, und fortan nun auch Politik zu machen begann.

Erinnern wir uns etwa an den Fall Wulff. Der Spiegel wollte mitentscheiden wer Bundespräsident ist – und wofür dieser zu stehen habe. Wulff, der unter anderem für den Satz “Der Islam gehört zu Deutschland” stand, sollten ein paar komische Spesenrechnungen die Karriere kosten. Er wurde erfolgreich und nachhaltig von der öffentlichen Bühne entfernt. Bezeichnend ist die schier unerträgliche Selbstgerechtigkeit von Der Spiegel während des Nachspiels: Als Recherchen ergeben hatten, dass Wulff tatsächlich viel weniger anzulasten gewesen war als ursprünglich angenommen, jedenfalls nicht ansatzweise genug, um eine Amtsenthebung zu legitimieren, versteifte man sich auf das Moralisieren. Schließlich: Wenn hierzulande der moralische Kompass fehlt, dann muss eben Der Spiegel ran. Das legitimiert dann auch Hetzkampagnen gegen Politiker. Das also nennt sich journalistische Objektivität?

Hier spielen die verschiedenen Dynamiken der Medienkrise zusammen. Der Spiegel boulevardisiert sich, profitiert von “Hetze sells” (wie schon auch während der ‘Griechenland-Krise’ deutlich geworden war) bietet Rechtspopulisten eine Bühne, etc. – all das gerahmt von dem Anspruch nicht nur Medium zu sein, sondern auch Politik zu machen. Journalistische Objektivität ist da längst über Bord gegangen. Mit ihr auch der moralische Kompass. Denn wer Politik macht, um stärker wahrgenommen zu werden, für den ist das moralisch Richtige immer eine Auslegungssache. Mit einem Auge auf Auflagen- und Klickzahlen, darf man dann auch rhetorische Figuren der radikalen Rechten auf dem Cover featuren, wie etwa im Nachspiel zum “Sommer der Migration”, als Der Spiegel “Deutschland im Ausnahmezustand” ausrief, Merkel klein und und schwach darstellte und damit die Geister vom “starken Führer” rief.

Das alles klingt nach BILD. Das ist wohl wahr. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen BILD und einem liberalen Blatt wie Der Spiegel. Während BILD (‘lediglich’) die Temperatur des politischen Klimas herstellt, ist Der Spiegel bezeichnend für und beteiligt an den tektonischen Verschiebungen in der politischen Landschaft hierzulande. Wo Regression und Rechtspopulismus getarnt als Schmutz und Dummheit zu Hause sind, ist allenthalben bekannt. Doch wo das nun mehr oder weniger schleichend Einzug hält, will man in Deutschland oft noch gar nicht so recht glauben – und versperrt sich damit gegen eine realistische Diagnose von der Verbreitung und Gefahr des Rechtspopulismus.

…sondern Der Spiegel

Viele glauben standhaft, dass ‘die Medien’ für den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland nicht verantwortlich sind. Das hat übrigens auch ein Sprecher bei seinem Chaos Computer Congress-Vortrag „Pointing Fingers at ‘The Media’“ als das Ergebnis seiner Untersuchungen präsentiert. Nun zeigt aber der Blick auf Der Spiegel zweierlei sehr deutlich: Erstens, die Beteiligung und Verantwortung ist nicht wegzureden. Zweitens, der Glaube an das Unbeteiligtsein, der von Der Spiegel selber stark gemacht wird (apropos: journalistische Objektivität!) – gerade dieser illusionäre Glaube trägt dazu bei, dass sich der rechte Affekt weiter verbreiten kann. Die liberalen Institutionen lassen sich anstecken – unter welchem Vorwand auch immer – und machen so passiv oder aktiv Politik.

Welche politische Implikationen das hat, hat die Berliner Gazette im Open Call zu Ambient Revolts skizziert: Als die Redaktion Anfang März 2018 von einer einmonatigen Europareise nach Berlin zurückkehrte, war die Stimmung im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich, denn die Geister des G20-Gipfels betraten die Bühne plötzlich wieder. Symptomatisch dafür war der Karriereschritt von Olaf Scholz. Statt für die Folgen seines “miserablen Managements” als Hamburger Bürgermeister zu zahlen – wir sprechen von der schwersten Ausübung staatlicher Gewalt in der jüngeren Geschichte Deutschlands –, wurde Scholz Finanzminister und sogar Vizekanzler im vierten Kabinett von Angela Merkel. Dieser beunruhigende Schritt war wie ein Echo auf die Vorgänge in Italien Anfang der 2000er Jahre, wo viele hochrangige Polizisten und Politiker, die für systematische Gewaltexzesse während des G8-Gipfels in Genua 2001 verantwortlich waren, hinterher befördert wurden.

Wenn die Beförderungen von proto-typischen Staatsverbrechern vor unser aller Augen passieren können und als normal angesehen werden, anstatt einen öffentlichen Aufruhr auszulösen, dann ist die Öffentlichkeit als solche in Gefahr. Schließlich folgte auf Scholz’ Beförderung ein Schweigen. Dieses Schweigen ist insofern aussagekräftig, als dass es einen impliziten Rahmen für Zensur darstellt. Schweigen wird zu einer konstitutiven Bedingung für die Öffentlichkeit nach G20: Während (linke) Kritik an der Regierung und ihrer Interpretation von Demokratie unterdrückt wird, werden Rechtspopulisten, wenn sie etwa bereitwillig inszeniert werden – auch von liberalen Medien wie Der Spiegel – eleviert.

Was ist zu tun?

Wenn also das breitere Spektrum der Linken delegitimiert und die extreme Rechte legitimiert wird, dann wird die Öffentlichkeit durch zwei gleichzeitige Bewegungen eingezäunt. Beide Bewegungen, so unterschiedlich sie auch sind, haben gemeinsam, dass sie dazu beitragen, den öffentlichen Diskurs für Opposition, für Dissens und vor allem für eine größtmögliche Pluralität von Beiträgen zu schließen – letztere würden auch marginalisierte, unsichtbare und illegalisierte Akteure umfassen, für die diskursive Öffnungen in der Regel sehr prekär sind.

Es versteht sich von selbst, dass die genannten Merkmale seit jeher die zentralen Grundlagen jeder Demokratie sind, doch gerade in diesem historischen Moment – in Deutschland, in Europa und darüber hinaus – gilt es den größten kollektiven Mut aufzubringen, um ein solches grundlegendes demokratisches Engagement tatsächlich auf die Beine zu stellen. Wir sind es nun, die herausgefordert sind zu erkunden, wie sich dieser Mut in vielen verschiedenen Formen manifestieren kann. Was ist zu tun?

Berufsverbrecher, wie Klaus Theweleit populistische Medienvertreter mal nannte, müssten an den Pranger gestellt werden. (Übrigens zückte Theweleit den Berufsverbrecher-Begriff bei einer Veranstaltung im Hebbel Theater im Jahr 2005, damals bei einem gemeinsamen Auftritt mit Norbert Bolz. Es ging damals um die Idee von Deutschland nach der Wende und in Zeiten von Globalisierung. Der Titel: “Rebirth of a Nation?”. Freilich, diese Konstellation ist dreizehn Jahre später nicht mehr denkbar. Bolz ist – wie seine Aktivitäten auf Twitter dokumentieren – selber zu einem Berufsverbrecher avanciert, mit dem sich Theweleit niemals die Bühne teilen würde.)

Doch das Ziel sollte man freilich nicht (oder zumindest nicht nur) auf Personal-Ebene suchen, sondern vor allem im Bereich des Diskurses und somit auch im Bereich der Vorstellung. Dort also, wo nicht zuletzt der Glaube an der Unschuld der liberalen Institutionen verankert ist. Man kann und will sich hierzulande einfach nicht vorstellen, dass die damit etwas zu tun haben. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass der Rechtspopulismus die kollektive Vorstellung ein stückweit kolonisiert hat und sich im Zuge dessen die Idee etablieren konnte, dass das rechte Denken vom verdrängten Rand der Gesellschaft emergiert und nicht aus deren Mitte, wo “liberale Institutionen die Demokratie für sich gepachtet” haben.

Bruchstücke einer möglichen Vergangenheit

“Eine Bewegung existiert nie ohne Vorstellung” – diese Erkenntnis, die andcompany&Co. bei ihrer Lecture Performance buchstäblich geistreich formulierten, haben auch Pegida, AfD und Co. verinnerlicht. Deutschland – das ist für sie ein imaginäres Territorium mit Grenzen, die es so nie gegeben hat oder geben durfte. Sie rufen braune Geister wach und damit Bruchstücke einer Vergangenheit, die es hätte geben können oder die es geben könnte: eine Welt, in der ‘wir unter uns’ sind.

Wenn sich die Rechten eine Welt nicht vorstellen können, in der wir alle zusammen leben können, wenn die Rechten deshalb sogar bereit sind, die Welt untergehen zu lassen – in Bezug auf den Brexit attestiert der Kulturkritiker Jan Verwoert etwa einen Todestrieb, der das Land und die Wirtschaft des Landes in den Abgrund reißen will, frei nach dem Motto: “If we can’t live together, so let us die together!” –, wenn also eine Vorstellung für das Zusammenleben gänzlich fehlt, liegt nichts näher als eben diese Vorstellung zu entwickeln.

Das ist der große Schwachpunkt der Rechten und des Rechtspopulismus im Allgemeinen: Sie haben keine Vorstellung für ein Zusammenleben, das den Komplexitäten unserer Zeit gerecht werden könnte. Die Geister, die sie rufen sind regressive, nostalgische, eskapistische und nicht zuletzt vom Todestrieb beseelte Geister. Es ist die Aufgabe jeder alternativen Bewegung, diese offensichtliche Schwäche zu erkennen und nicht zu reproduzieren. Die Geister, die wir rufen sollten, von denen wir uns heimsuchen lassen sollten, müssten die Vorstellung in neuer Weise stimulieren.

Der Philosoph Jacques Derrida hatte mit “Marx´ Gespenster” den Vorschlag gemacht, den Kommunismus zu reimaginieren. Das ist aktuell wie noch nie. Nicht weil Karl Marx gerade 200-jähriges Jubiläum feiert, sondern weil sein Projekt, der Kommunismus als Idee, Fiktion und Vorstellung, eine Welt modelliert, die das gemeinsame Existieren ermöglicht – für alle, von allen.

Geister der Zukunft

Eines ist klar: Das ‚Zusammenleben mit Fremden‘ auf dem Planeten (aber auch in dieser einen Gesellschaft) lässt sich genauso wenig abschaffen, wie sich die Migrationsströme beenden lassen. Das liegt nicht nur an der Eigensinnigkeit Migrierender und Flüchtender, sondern auch daran, dass ein Land wie Deutschland aus ganz unterschiedlichen Gründen auf migrierende Arbeitskräfte angewiesen ist – Stichworte wären „alternde Gesellschaft“ und „flexible Ökonomie“. Mit der Einführung der Gastarbeiter in den 1960er Jahren hat diese spezifische Abhängigkeit einen Namen bekommen. Auch wenn dieser Name inzwischen etwas antiquiert klingt, so ist jedoch das, was er benennt, also den spezifischen Bedarf an migrierenden Arbeitskräften, mit zunehmender Alterung der Gesellschaft und Flexibilisierung der Ökonomie im Steigen begriffen.

In der absehbaren Zukunft werden immer mehr “Gastarbeiter”, also immer mehr “Fremde” kommen – eben auch weil Deutschland sie braucht. Während sich die ökonomische und die demografische Lage verschärfen wird, werden wohl auch die Abschottungsimpulse stärker. Das eine bedingt das andere in einem Deutschland, dessen Migrations- und Integrationspolitik auf einem schier unauflösbaren Widerspruch fußt, wie ForscherInnen wie Manuela Bojadzijev immer wieder deutlich gemacht haben: Man ist von der migrierenden Arbeitskräften abhängig, kann aber mit dem Gedanken dieser Präsenz (geschweige denn mit dem Gedanken der Abhängigkeit) von “Fremden im eigenen Land” nicht leben. Weil der Rechtspopulismus diesen Widerspruch nicht ansatzweise zu überwinden versucht, sondern nur verschärft und damit die Krise hierzulande nährt, sollten Alternativen dazu her, schnellstmöglich.

Wir sind nun dazu herausgefordert, die kollektive Vorstellung selbst auf neuen Boden zu stellen – und dabei das Potenzial des Verdrängten und Unbewussten nicht im Ressentiment, sondern im Gemeinsamen zu suchen. Die zukunftsweisenden Geister des Kommunismus oder der Umbruchjahre 1968 und 1989 führen Bruchstücke und Bausteine der möglichen Ko-Existenz aller im Gepäck. Von und mit ihnen zu lernen, bedeutet zweierlei: Erstens, die Vorstellung für das Ausmaß der rechtspopulistischen Regression auf liberale Institutionen zu erweitern – und im Zuge dessen die wahre Stärke sowie Beschaffenheit des ‘Gegners’ zur Kenntnis zu nehmen. Zweitens, die Vorstellung für das mögliche nächste Kapitel der Menschheitsgeschichte hin zu einem planetarischen Miteinander unter Gleichen zu öffnen.

Jetzt, da die Grenzen des Vorstellbaren durch die inhärente Zensur des in der Öffentlichkeit Sagbaren und Zeigbaren immer stärker militarisiert werden, sind Interventionen – ob Demonstrationen oder Veranstaltungen –, bei denen die aus der Öffentlichkeit verdrängten Gesichter und Stimmen in Erscheinung treten können, ein erster Schritt, um die Geister der gemeinsamen Zukunft wirksam werden zu lassen.

Anm. d. Red.: Das Foto stammt von Marco Fieber und steht unter CC-Lizenz.

6 Kommentare zu “Applaus oder Aufruhr? Warum wir die Geister eines planetarischen Kommunismus rufen sollten

  1. sich an eine mögliche Zukunft erinnern, ich mag diese Vorstellung sehr! Ich musste dabei an Proust denken…, der große Meister der Erinnerungsprosa hat in seinem fulminanten Werk so beeindruckend gezeigt, dass Erinnern immer auch Erfinden ist: die Zukunft erfinden, aus der Vergangenheit heraus…

  2. Black Lives Matter: Du sprichst im letzten Absatz von “Demonstrationen oder Veranstaltungen, bei denen die aus der Öffentlichkeit verdrängten Gesichter und Stimmen in Erscheinung treten können”. Am 29.6. findet eine Demo von Black Lives Matter statt. Die InitiatorInnen sagen: “Start der Demonstration ist der U-Bahnhof M*straße. Seine rassistische Namensgebung steht mit dem brandenburgisch-preußischen Versklavungshandel in Verbindung und ist symbolisch für den mangelnden Willen zur Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland.”
    Geht dahin!
    https://www.facebook.com/events/195891814375987/

  3. die “Spiegel”-Kritik finde ich berechtigt, man könnte sie ja noch viel weitergehender und detailreicher führen, mit Blick auf das Interview mit Rüdiger Safranski etwa oder die Götz-Kubitschek-Homestory (dazu auch: https://www.der-rechte-rand.de/archive/2544/kubitschek-homestory ) und die allgemeine alt-right-Faszination, aber Du berührst schon sehr neuralgische Stellen; und: die Frage des Imaginären und seiner Mobilisierung von rechts und links stellte sich auch schon den Antifaschisten à la Georges Bataille in den 1930er Jahren, die den Mythenzauber der Nazis als Mythenraub interpretierten und ihre Gegenstrategie in der nietzscheanische Mimikry an den autoritären Gestus der Faschisten suchten.

  4. Diesem außerordentlich beunruhigenden Beitrag ist voll zuzustimmen. Gefährlich für die politischen Entwicklungen ist, wie ein ehemals doch eher liberal-links orientiertes Medium, wie der Spiegel, nunmehr populistisch zu einer Plattform des Rechtsextremismus wird und damit zunehmend die konservativ bürgerliche Mitte in sein Bann zieht. Ich frage mich, wie ein Jacob Augstein, der ja auch Herausgeber des „der Freitag” ist und dort sogar teilweise überzeugend argumentiert, solchen Spagat aushalten kann, ohne dass es an seiner Glaubwürdigkeit kratzt. Aber diese Doppelmoral greift rasant um sich. Damit hält Europa den Neoliberalismus und die Leichen im Mittelmeer aus. Es ist die verkommene Moral des Christentums, seine Heuchelei. Dagegen hat eine Jugend, die eine Zukunft haben will, aufzustehen und zu kämpfen, und zwar außerhalb der Institutionen und Ideologien, nämlich auf den Straßen und Plätzen mit ihrer Musik und evolutionären Energie. „Politik sells” darf es nicht geben.

  5. Dein essay ist wichtig, und ich bin d’accord mit der funktionsbestimmung einerseits von BILD, anderseits des SPIEGEL. oder sagen wir: bin insgesamt d’accord. ich meine, dass BILD und SPIEGEL mehr oder weniger das gleiche politische management machen, nur für zwei verschiedene klassen (etwas krass gesagt). z.b. BILD und “flüchtlingskrise”: Du vergisst, dass BILD im anfang die willkommenskultur propagiert hat, sogar mit einem button “welcome”. BILD hat imgrunde merkels go-and-stop-taktik 100 pro abgeBILDet (für die “massen”, die vor allem an fußball und stars interessiert sind).

    “hetze sells” ist zu pauschal – sie sind schon ein bisschen politischer (Du bringst ja selber den fahrstuhleffekt und die causa wulff). sie haben auf “hetze” umgeschaltet, als merkel auf abschottung und abschiebung umgeschaltet hat (frühjahr 2016: türkei-griechenland-deal). diese ergänzungen stärken aber, was Du zum SPIEGEL sagst: denn der war niemals, gerade auch im sommer 2015, auf “willkommens”-linie. und das mittels der groß-tuis safranski und sloterdijk. zusammen mit dem SPIEGEL muss man DIE ZEIT nennen. beide machen eine klare politik, die MITTE neu zu definieren (bildlich gesprochen NACH RECHTS GERÜCKT) und dadurch zu retten. das wurde in der ZEIT derartig krude formuliert, dass es eine analyse der kultuRRevolution ( https://zeitschrift-kulturrevolution.de ) hätte sein können (bloß affirmativ statt kritisch).

    insofern passt mein mutismus wegen des korrekturstresses doch wieder genau: denn es geht um ein buch mit dem titel: “Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus”. die ganze “flüchtlingskrise” ist ein musterbeispiel für denormalisierung und normalisierung. erstens denormalisierung: es war – und ist – tatsächlich eine krasse denormalisierung (hegemonial-medial als “kontrollverlust” beredet). alles läuft (das ist normalismus) per statistiken – und die statistiken, ja die ganze verdatung – war zusammengebrochen. es war k e i n e normale einwanderung, die notwendig für das kapital ist. es gab gar keine normalistische “filterung” mehr. es war de facto ein notstand (eben eine große denormalisierung). wenn Du mich fragst: die ursache dieses “kontrollverlusts” war die versenkung griechenlands: denn die “flut” aus der türkei begann im frühjahr 2015, während schäuble & Co. voll beschäftigt waren, varoufakis plattzumachen.

    sie konnten das “thema” solange nicht in die medien geben, wie tsipras noch nicht bedingungslos kapituliert hatte. sie hätten bei vorgezogenen verhandlungen mit erdogan und tsipras über die “flut” den schuldenerlass nicht weiter blockieren können. so kam es zum “stau” der 3000000 in ungarn.

    ich bin weiter überzeugt, dass merkel in kurzfristiger panik handelte und auf ihre berater, besonders von kapitalseite, hörte, die eine große “welle” von “fachkräften” plus billiglöhnern für kurzfristig managbar und mittelfristig profitabel hielten. sie setzte außerdem zynisch auf die antirassistischen kräfte in der zivilgesellschaft, die sie ansonsten ständig verleumdet (“multikulti ist gescheitert”). trotzdem war der erfolg der AfD damit programmiert – und damit ein neues problem auf dem tisch, nämlich die “integration” (nicht der flüchtlinge! sondern) der AfD-wählerschaft (durch die rettung einer NACH RECHTS GERÜCKTEN MITTE). all das ist keineswegs gelöst! die denormalisierung ist keineswegs schon normalisiert.

    mit den von Dir beschworenen geistern sympathisiere ich voll. das heißt aber, dass zu den notwendigen “vorstellungen” (d’accord) der normalismus gehören sollte und damit die überlegung transnormalistischer auswege (dazu mein buch). damit wir nicht bei einem preaching to the converted hängen bleiben, das weder die AfD noch die NEUESTE MITTE juckt.

  6. Obwohl ich es richtig finde, den SPIEGEL nicht aus der Verantwortung zu entlassen und auf die Rolle hinzuweisen, die gerade liberale Medien für den Aufstieg der von ihnen verharmlosend nur “Rechtspopulisten” genannten Neofaschist*innen spielen, frage ich mich doch, ob Du nicht die besondere Gefährlichkeit von BILD zu sehr herunter spielst. Dein Text geht zurück auf eine Diskussion, ob man, wenn man 50 Jahre später ’68 reenacten will, nicht wieder vor die Springer-Zentrale ziehen müsse mit dem alten Spruch: “Enteignet Springer!”

    Interessanterweise kann man einen ehemaligen Springer-Mann dafür als Gewährsmann heran ziehen, der eben das jüngst über BILD unter Julian Reichelt gesagt hat: BILD sei – wie seit den 60er Jahren nicht mehr – ein “Kampagnenblatt”. Und damit eine Art “Vorfeldorganisation der AfD”: https://www.tagesspiegel.de/medien/vorfeldorganisation-der-afd-ex-bams-chef-rechnet-mit-bild-zeitung-ab/23131370.html

    In den USA wird längst über die “Alt-Right” und die “Alt-Light” gesprochen: zur “Alt-Light” gehören all jene Figuren, die mit der sog. “Alt-Right” (eine US-Variante der sog. “Neuen Rechten”, besonders vertrollt und vulgär) sympathisieren, ihr nacheifern – und sie dadurch erst in den Mainstream gebracht haben: Figuren wie der tragische Milo Yiannopoulos oder Mike Cernovich usw. Es ließe sich schon fragen, ob Reichelt auch so eine Figur abgibt.

    Aber um das Ganze nicht zu sehr zu personalisieren: Lässt ihn der Springer-Konzern gewähren, weil sie in Wahrheit Angst vor diesen rechten Troll-Armeen haben, die dem althergebrachten Medien das Wasser abgraben? Was wir seit der Trump-Wahl gesehen haben ist ja, dass die alten Medien ihre Gatekeeper Funktion nicht länger wahrnehmen können. Eine Weile wurde das von der libertären Linken bejubelt. Und jetzt?

    Ist die BILD die CSU der Zeitungen? Reissen sie in ihrer Panik all die andren Institutionen mit sich ins Vakuum? Eine Art “Selbstmord aus Angst vor dem Tod”? Es gibt von Brecht einen schönen Satz über Leute, die auf einem gefährlich gebogenem Ast sitzen, in deren Händen jedes Instrument zur Säge wird…

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.