Gegenrepublik Volksbühne: Warum der Bastard die Zukunft im Blick hat – selbst wenn er zurückschaut

Berlin im Jahr 1991. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wird nach dem Mauerfall neu geboren. Hier kommt ein Bastard zur Welt: weder Ost, noch West können die Elternschaft bestätigen. Thomas Martin, der Hausautor, denkt über die jüngste Geschichte seines Theaters und den Beitrag zur Nachwende-Kultur in Deutschland nach. Ein mehrteiliges Interview. Hier der zweite Teil.

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Von der Opposition im Ost-System zur Opposition im West-System: Aus dieser Sozialisationserfahrung heraus ist an der Volksbühne ein besonderer Boden für kreatives Schaffen, für Theater und für Kunst im Allgemeinen entstanden. Könnten Sie ein Beispiel geben für diese besondere Form der Hybridisierung von Ost und West?

TM: Was die Kunst anbelangt, ist da immer mehr Hybris als Hybrid im Spiel …

Oder sagen wir Bastardisierung…

TM: Das ist vielleicht besser, Bastardisierung. Man kann es, was das Haus betrifft, genau beschreiben. Die Gewerke – technischer Bereich, Ton, Licht, Requisite, Maske und Kostüm – kommen zum großen Teil aus dem Osten, sind sozialisiert im Osten, viele waren schon hier, bevor Frank Castorf als Intendant angefangen hat. Nach der Schließung des Schiller-Theaters kamen einige von dort hierher, in einer Art Zwangssozialisierungsmaßnahme Ost, wenn man so will, und das ist jetzt auch schon 23 Jahre her. Was den künstlerischen Bereich angeht, ist das sehr gemischt: Da gibt es unser Miniaturensemble fast paritätisch Ost/West, es gibt die Dramaturgie und die künstlerische Leitung, da ist der Osten in der Minderheit.

Das heißt, es gibt Streit, produktiven Streit, man setzt sich unterschwellig permanent mit dieser Sozialisierung auseinander. Diese unterschiedlichen Sozialisierungs- und Bildungshintergründe spielen eine Rolle, es geht darum, die Unterschiede nicht zu verdecken, die Gruppierungen nicht zu sehr in einen Hybrid zu verwandeln, sondern darauf hinzuweisen, ich hab das anders gelernt, deshalb will ich etwas anderes erreichen. Vor anderen Erfahrungshintergründen äußert man sich auch anders.

Ein Bastard will ein Jemand werden, deshalb guckt er vor allem nach vorn…

Es gibt diesen Satz von Eugen Gottlob Winkler (den man wie wenige einen deutschen Dichter nennen kann, er nahm sich im Alter von 24 Jahren, nachdem ihn ein Gestapo-Mann vor Thomas Manns verlassener Villa in München anhielt, das Leben), und diesen Satz hat Heiner Müller oft zitiert in den schönen Jahren 1989/90: Zwischen der Verschiedenheit zweier Erfahrungen kann es kein Streitgespräch geben. Verschiedene Erfahrungen kannst du immer wieder ansprechen, aber eine Erfahrung ist etwas, das über das Aussprechbare hinausgeht, die prägt sich auch physisch ein, manchmal durch einen Schock. Die Erfahrung erlebt man, sie impft einen, man kann sie beschreiben, darüber reden, was ja auch die Basis von Kultur ist, aber die Erfahrung machst singulär nur du, auch innerhalb einer kollektiven Erfahrung.

Für wie viele Menschen, in Zahlen gesprochen, wäre diese Art von Sozialisationserfahrung repräsentativ?

TM: Ich hab sie nicht gezählt, die Statistiker sagen: im Osten waren es knapp 17 Millionen am Ende.

Also für knapp ein Fünftel der in Deutschland lebenden.

TM: Ich denke, für die meisten ist das gar nicht relevant. Es gab einen umfassenden Assimilationsprozess. Das ist ja nicht unbedingt negativ, vielen ist es wichtig, dass man aus dieser Unterschiedlichkeit rauskommt. Daraus entsteht auch eine Moderne, dass die verschiedenen Kunstrichtungen, ästhetische Ausrichtungen, ideologische, zusammenkommen. Schlingensief wäre ohne den Mauerfall erstens hier nicht gelandet und zweitens ein ganz anderer Künstler geworden. Er hat diesen Epochenbruch in sein Werk einbezogen, in einer Unmittelbarkeit, wie kaum ein anderer.

Das heißt, es geht nicht um das Argument der Repräsentationskultur, sondern darum, dass vor diesem Hintergrund eine kreative Basis entstand, die aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit Einzigartiges ermöglicht hat?

TM: Die erste Inszenierung Castorfs auf der Großen Bühne hier, „Räuber von Schiller“, Premiere im September 1990, während dieser kommissarischen Gruppenintendanz, war eine Inszenierung von immenser politischer Wirkung. Die DDR-Vergangenheit in der gesamtdeutschen Gegenwart, die ja gerade erst begann, hatte eine ungeheure Reibungskraft, da prallten zwei total verschiedene Erfahrungshorizonte ziemlich brutal aufeinander, da war eine Siegermentalität im Spiel und Widerstand. Das war keineswegs durchweg die Harmonie der endlich vereinten Brüder und Schwestern, das war auch Kampf und Chaos. Und das war das beste daran.

Castorfs „Räuber“ waren von dieser anarchischen Position geprägt: hier fahren zwei Wertesysteme ineinander. Der Riß der Epoche geht durch die Familie, durch die Ästhetik, Schiller-Pathos gegen Pop-und-Punk-Rotzigkeit, durch die Politik, durch die Bande. Die Räuber traten in DDR-Grenzuniformen auf, was für viele ein Schlag in die Fresse war, für den Westdeutschen, der das nicht unter Ästhetik subsumieren konnte, wie für den betroffenen Dissidenten, der in der DDR Repressalien unterworfen war, und das nicht ironisch nahm, wenn Karl Moors leicht lädierte Räubertruppe das Lied der Moor-Soldaten sang, das der Kommunist Wolfgang Langhoff im KZ geschrieben hat.

Das klingt nach einer faszinierenden Provokation…

Das hat extrem polarisiert! Ein gezielter Eklektizismus, der sagt, vorbei ist nicht vorbei, nichts ist vorbei, nichts ist vergangen, nicht mal die Vergangenheit. Wir haben uns damit auseinanderzusetzen, nicht nur dieser Menschenstamm, sondern auch der Stamm an Kultur ist geimpft mit politischen Verwerfungen und Erfahrungen, die man verarbeiten muss. Das ist alles Material.

Man kann auch, wie es das Deutsche Theater unter Langhoffs Sohn Thomas gemacht hat und seither betreibt, auf eher neutrale Ästhetik, die nicht weh tut, nicht verstört, setzen, nur da landest du dann im Kunstgewerbe und nicht zwangsläufig in der Hochkultur. Da ist Theater dann der reine Daseinszweck und nicht mehr. Hier, das versteht sich immer auch als ein Gesellschaftsmodell, diese Volksbühne. Eine Gegenrepublik.

Können Sie für das, was unter Ihrer Leitung geschehen ist, ein Beispiel geben?

TM: Als ich hier ankam in diese etwas düstere Stimmung…

Das war 2010.

TM: … und kein Spielplan existierte. Da gings in der Not erstmal um eine Verortung, wo kommt man eigentlich her, wer ist man, auf welchem Stadium des Weges, den man noch eine Weile gehen wird, befindet man sich? Eine länger zurückliegende Idee, dass man sich mit dem konkreten Ort Berlin, mit der direkten Geschichte der Volksbühne, dem Humus und den Knochen, die unterm Pflaster liegen, auseinandersetzt. Es gab ein Berlin-Spektakel 1987, anlässlich der 750-Jahrfeier, Berliner Geschichte von der Märzrevolution 1848 über Weltkrieg I und II und dem anschließend real existiert haben wollenden Sozialismus, mit Stücken von Müller, Trolle, Braun und Brasch, von ostdeutschen Autoren, und es gab Anfang der 70er Jahre die Besson-Spektakel mit ihrem Jugendfestivalflair. Castorf wollte immer schon ein Berlin-Spektakel machen, und ich dachte, das wäre der richtige Zeitpunkt, da das doch sehr abgedriftet war, die Ästhetik der Volksbühne, in etwas von der eigentlichen Geschichte weit Entferntes, die ja hier zum Fundament gehört.

Vom Verschleiß der künstlerischen Leitung, der Chefdramaturgen im Dutzend sollte man eigentlich schweigen. Noch während ich hier anfing war Stefan Rosinski im Amt, der im Prinzip das Gleiche wie Dercon, nur mit anderen Namen vorhatte, der an der eigenen Unfähigkeit und mangels Rückendeckung durch die Politik gescheitert ist, er hatte einen Haufen Schutt hinterlassen. Da haben wir über den Sommer dieses Spektakel entwickelt unter dem Titel „Extrem jerne politisch!“, um diese Konstanten auf lustvolle und theatralische Art zu überprüfen: Woher kommen wir? Welches Verständnis von Politik haben wir? Was heißt politisches Theater?

Godard sagt: Ich mache keine politischen Filme, aber ich mache Filme politisch.

Ja, genau. Doch das ist ohne die historische Komponente, nur die halbe Wahrheit. Dazu gehört auch die Frage: Auf welchem Grund steht diese Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, der ursprünglich Bülowplatz und 12 Jahre lang auch mal Horst-Wessel-Platz hieß? Was konnte man von diesem wuchtigen Bau aus sehen, gegenüber vom Karl-Liebknecht-Haus, vom Kino Babylon, vor dem der spätere Stasi-Minister Mielke zwei Polizisten erschoß, die zuvor auf Demonstranten geschossen hatten, in welche historischen Zäsuren war das Theater einbezogen?

Wir haben den ganzen Baukörper zum Spielraum gemacht, in den Büros und Garderoben wurde gespielt, im Keller, an über 50 verschiedenen Orten im ganzen Haus, es gab schnelle mobile Theatereinheiten, die überall auftreten konnten. Das lief zwei Tage, hatte einen ungeheuren Zulauf und war ein Konsolidierungsprozess fürs Haus, ein Erfolg in der Wirkung wichtiger nach innen als nach außen. Natürlich ist so ein Spektakel auch eine totale Überreizung und Überforderung, und führt auch deswegen alle zusammen, weil du physisch so beansprucht bist, gezwungen bist, unter hohem Druck etwas auf die Beine zu stellen, was nur gemeinsam geht. Natürlich ist auch, daß eine solche in kurzer Zeit erzeugte Masse ein heftiges Qualitätsgefälle mit sich bringt, da geht es zunächst wirklich um die Quantität, um die Wucht eines Aufschlags.

Volksbühne als Gesellschaftsentwurf. Kunst immer auch als Angebot mit den Mitteln, die sie hat, in den Formaten, in denen sie denkt, immer auch ein Angebot zu machen, zu zeigen, so könnte es auch aussehen.

TM: Ein alternatives Gesellschaftsmodell. Ohne Utopie ist es in der Kunst schwer und das Theater ist ein Utopia in Miniatur. Ein Modell. Es ist interessant, wenn du das Haus während der fast 40 Jahre im Osten betrachtest: da gabs einen Kindergarten, einen Betriebsarzt, einen Masseur, einen Lebensmittelladen, das war wie eine kleine Stadt …

Hier, in der Volksbühne? Das Haus wirkt in der Tat so groß, dass man das Gefühl hat, man ist in einer eigenen Welt.

TM: Es gab das als begleitende Infrastruktur zur Kunstmaschinerie. Eigentlich war in dieser Struktur, der Kombination von gepflegtem DDR-Kleinbürgertum und Avantgardeanspruch auf der Bühne, in Mischung von Proletkult und Bohème, das Besondere der Volksbühne angelegt.

Dieses Theater ist die Stadt unter den Theatern, und die Belegschaft hat sich ihre Sozialisierung erhalten, nicht verklärend, man geht auch ironisch damit um, aber der Gedanke ist nicht unwichtig und hier bezeichnen sich nicht wenige als Familie. Mit allem, was dazu gehört an Streit, Liebe, Hass und Versöhnung, Arbeit. Arbeit vor allem. Man darf das nicht romantisieren, der Kollektivbegriff hat sich verändert, der Zusammenhalt, in der Kunst ohnehin nur flüchtig, schwindet, die Ausstellung des Einzelnen wird wichtiger als die Ensemblearbeit, das Monomanische, die Selbstbehauptung nimmt zu.

Der Weg führt vom Wir zum Ich und nicht umgekehrt. Dennoch, der angstfreie Produktionsprozeß, der hier in den beschriebenen Zusammenhängen möglich ist, ist andernorts selten geworden. Dieses Stadttheater Volksbühne ist ein besonderes Stadttheater, darauf sollte man bestehen. Und als Stadttheater, als Schauspielhaus läuft ihre Zeit offensichtlich ab.

Diese Frist, diese zwei Jahre gehören für uns in eine Doppel-Saison, die zwei reguläre Spielzeiten umfaßt. Dafür werden wir auch ein paar versprengte Geister zurückholen, Carl Hegemann, der hier längere Zeit Dramaturg war, zum Beispiel, oder Schauspieler, die hier geprägt worden sind, von hier aus ihren Weg an andere Bühnen, ins besser bezahlte Fernsehen und ins Kino genommen haben. Mit denen unter diesen besonderen Umständen noch einmal hier zu arbeiten, das ist wichtig.

Anm.d.Red.: Das Interview ist als Dreiteiler erschienen. Teil 1: Berlin wird ein Puppenhaus. Teil 2: Gegenrepublik Volksbühne. Teil 3: “Angstloser Freiraum wird kleiner”. Das Foto oben zeigt einen künstlerisch-utopischen Entwurf einer möglichen Zukunft der Volksbühne, konzipiert durch den Künstler Jakob Michael Birn. Das Gespräch mit Thomas Martin führte der Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki. Lesen Sie auch den Debatten-Beitrag der HU-Professorin Tanja Bogusz.

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