Die Kritik an Amazon gehört zum Grundrauschen (sub-)politischer Debatten. Betrachten wir, wofür der Onlineversandhändler in der öffentlichen Wahrnehmung steht, so bleibt ein wichtiger Aspekt unterbelichtet: die laufende Expansion nach Ost- und Südosteuropa und die damit einhergehenden Konsequenzen für die arbeitenden und konsumierenden Bevölkerungen vor Ort. Die Autorin und Wissenschaftlerin Sabrina Apicella stellt im Folgenden drei Thesen vor, um die gesellschaftspolitische Bedeutung der Expansion Amazons in Osteuropa zu reflektieren.
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Es gibt Dinge, die praktisch alle kapitalistischen Unternehmen tun. Sie beuten ihre Arbeiter*innen aus und versuchen, die Löhne so weit zu drücken, dass sie gerade noch für die Reproduktion der Arbeiter*innen ausreichen. Auch nutzen sie den Stand der Produktivkräfte zur Steigerung der Produktivität ihrer Arbeitsprozesse, bestenfalls um im Wettbewerb mit anderen Unternehmen einen Vorsprung zu haben. Dazu gehört auch, dass Unternehmen expandieren. Die konkrete Beschreibung der Art und Weise, wie Amazon dies alles für sich umsetzt, ist dennoch wichtig – nicht zuletzt, um die Basis für politische Potenziale auszuloten.
Das Besondere
Was also ist neu an Amazon? Zum Beispiel, dass das 1994 in Seattle gegründete Unternehmen von Anfang an massiv wächst, obwohl es erst seit der COVID-19-Pandemie Gewinne im Bereich Onlineversandhandel einfährt. Und dies trotz hoher Versandkosten und obwohl es mit viel Aufwand Retouren bearbeitet, bezahlt, teilweise sogar intakte Waren entsorgt. Dennoch ist Amazon heute weltweit größter Onlineversandhändler mit großem Gewicht besonders in den USA und Europa und nach seinem Konkurrenten Walmart, einem US-Einzel- und Versandhandelsunternehmen mit stationärem Schwerpunkt, sogar auf Platz zwei der weltweit umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Auf der Seite der Kund*innenschaft haben zwei Jahre Pandemie und fehlende staatliche Einschränkungen dem Onlineversandhandel insgesamt zu mehr Popularität und Umsatz verholfen. Sein Anteil am gesamten Marktvolumen des Einzel- und Versandhandels in Deutschland hat sich der Pandemie verdoppelt.
Amazons hohe Umsätze und Produktivität fielen schon zuvor ins Auge. Früh hat Amazon durch die Nutzung des Internet und Einbindung digitaler Technologien sowie Transportentwicklungen einen Produktivitätsvorsprung gegenüber der Konkurrenz für sich genutzt, einen jungen Markt erschaffen und sich selbst darin als Vorreiter und Trendsetter positioniert. Mit Folgen für die Verkaufsarbeit, für die das „Prinzip Amazon“ steht: Das besondere an Amazons Modell ist die vollständige Trennung des für den Verkauf notwendigen Kontakts zu Kund*innen (der im Onlineversandhandel auf der „toten“ Plattform stattfindet) von denjenigen Arbeiten, die zur Warenbewegung nötig sind.
Dies führt uns in die Distributionszentren, die sogenannten Amazon Fulfillment Center, benannt nach dem Firmenselbstbild – wie von magischer Hand sollen hier alle Kund*innenwünsche erfüllt werden. Ergänzt durch kleinere Prime Hubs und Verteilzentren, in denen allerdings externe Verkäufer*innen keine Waren einlagern können, stellen die Distributionszentren allein schon durch ihre Größe wichtige Dreh- und Angelpunkte der Warenbewegungen im Logistiknetzwerk dar. Hier bewegen verhältnismäßig wenige Arbeitskräfte fernab der Kund*innen eine große Menge an Waren. Dies geschieht als Fabrikarbeit, in einfachen Arbeitsschritten, die stark vorgegeben sind und kontrolliert werden.
Die Arbeiter*innen werden in wenigen Stunden angelernt, technische Geräte und Software leiten sie zu Hunderten durch die riesigen Hallen, geben den nächsten Handlungsschritt vor, während die Arbeiter*innen nicht selbst entscheiden, welche Waren sie in welcher Reihenfolge verräumen („Stow“) oder den Regalen entnehmen („Pick“). Die Verkaufsarbeit wird, mit Karl Marx gesprochen, reell subsumiert, mit der Folge, dass sie äußerst produktiv und zugleich von vielen Arbeiter*innen als entfremdet erlebt wird: als uninteressant, als wenig bis gar nicht beeinflussbar, als gefährdend für Körper und Geist oder – aufgrund der ständigen Leistungskontrollen – als stressig. Dies verbindet Amazon mit einer wenig ausgeprägten Mitbestimmungskultur, einer feindseligen Managementlinie gegenüber Gewerkschaften, seiner Niedriglohnpolitik und einem leistungsbezogenen, paternalistischen und hierarchisch-autoritären Führungsstil.
Doch mit Amazon expandiert auch der Protest der Beschäftigten in den Distributionszentren: an Standorten in Polen, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich gibt es seit 2013 anhaltende, organisierte Streiks. Die Pandemie hat zu einem weiteren Erstarken von gewerkschaftlichen Protesten und Streiks geführt – sogar auch erstmalig „zu Hause“ in den USA.
Amazons Expansion nach Osteuropa
Amazon möchte seinen (potenziellen) Kund*innen näherkommen, um diese innerhalb eines Tages und sogar innerhalb von Stunden zu beliefern. Schon früh eröffnete das Unternehmen hierzu die ersten Distributionszentren in Europa. Heute sind über 80 Standorte über Europa verteilt – Tendenz steigend. Jedoch spannen die Standorte kein gleichmäßig verteiltes Netz über den Kontinent, sondern konzentrieren sich in west- und zentraleuropäischen Ländern. Die ersten europäischen Distributionszentren gingen ab 1998 in Großbritannien und ab 1999 in Deutschland in Betrieb; bis heute sind diese Länder Schwerpunkt des Geschäfts außerhalb der USA. Es folgten Neuansiedlungen in Frankreich, Spanien, Italien und seit Mitte der 2010er Jahren auch in Polen, Tschechien und der Slowakei. Die logistische Ratio bei der Verteilung der Standorte lautet: Egal von wo in Europa Kund*innen ihre Bestellung aufgeben – sie sollen in nicht mehr als 24 Stunden beliefert werden können. Es dürfte nicht überraschen, dass den großen Absatzmärkten hohe Priorität bei der Ansiedlung eingeräumt wird.
Die relativ späten Ansiedlungen in Osteuropa ab den 2010er Jahren wurden bisher zurecht als Strategie der Aufstandsbekämpfung zur Spaltung der Beschäftigten an verschiedenen Standorten gesehen. Hierüber legen beispielsweise die polnischen Gewerkschaftsaktivistinnen Magda Milanowska und Agnieszka Mroz lesenswert Zeugnis ab. Nationale Unterschiede wie divergierende Lohnhöhen, Steuern, Mitbestimmungs- und Arbeitsschutzgesetze begünstigen dies. Sie sind im Prozess der EU-Konversion nicht abgebaut worden. Man könnte also sagen: sie sind politisch gewollt. Auch Amazon bedient mit kostengünstigen Arbeitskräften aus Polen, Tschechien und der Slowakei vorwiegend den deutschen Markt.
Daher lautet meine erste These, dass Amazon auch weiterhin versuchen wird, die gewerkschaftliche Forderung nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen in den europäischen Distributionszentren durch innerbetriebliche Konkurrenz und das Ausnutzen des europäischen Lohngefälles zunichte zu machen.
Wie Bevölkerungen (mit öffentlichen Mitteln) zu Neukund*innen gemacht werden
Doch sind Polen und andere zentral- und südosteuropäische Länder nicht allein die „verlängerte Werkbank“ Deutschlands. Heute hat Amazon in Polen mit 13 Standorten annähernd so viele Distributionszentren wie in Deutschland, wo es 15 sind. Zum Vergleich: Großbritannien hat 26, Spanien 10, Frankreich und Italien jeweils 7 Distributionszentren und die Slowakei und Tschechien jeweils eines. Insofern gilt: Während Amazon in Osteuropa günstige Bedingungen für sich nutzt, um Personalkosten oder Steuern zu sparen, wirbt es dort auch um neue Kundschaft, weil es gesättigte Märkte in anderen Teilen Europas fürchtet.
Die polnischsprachige Website wurde (erst) 2021 gelauncht. Dies markiert die Verschiebung weg von der alleinigen Ausnutzung von Arbeitskräften für den Westen und hin zur gezielteren Neuerschließung von Kund*innen in Osteuropa. Dabei konkurriert Amazon mit anderen großen Unternehmen, wie dem Onlineriesen Alibaba aus China.
Viele ost- und südosteuropäische Länder zusammen weisen ein seit den 2000ern anhaltendes und auch durch die Finanzkrise kaum unterbrochenes starkes Wirtschaftswachstum auf, besonders im produzierenden Gewerbe. Gleichzeitig haben sich in Polen, Tschechien, Slowenien, Rumänien oder Ungarn kaufkräftige urbane Ballungszentren herausgebildet mit einem für den Einzel- und Versandhandel interessanten Nachfrageüberhang, einem steigenden pro-Kopf-Einkommen und einem hochquotierten Kaufkraftwachstum. Die Expansion Amazons kann also auch als Bestandteil eines bereits in den 1990ern begonnen Prozesses innerhalb der Branche gesehen werden: die stagnierenden Wachstumsmöglichkeiten des Einzel- und Versandhandels in Ländern wie Deutschland werden mit der Expansion auf osteuropäischen Märkten kompensiert.
In Fachkreisen wird gleichzeitig moniert, dass die Infrastrukturen für Transport und Kommunikation in Osteuropa nicht denen der westeuropäischen Staaten entsprechen. Diese sind in den letzten Jahren auf Grundlage von staatlichen und durch die EU garantierte Mittel gezielt angepasst worden. Sonderwirtschaftszonen wurden eingerichtet, Förderprogramme zur europäischen Kohäsion mit Schwerpunkt Transport und Kommunikation sind finanziert worden. Insbesondere Polen ist mit Fördermitteln für Straßenbau, den Anschluss des polnischen an den europäischen Schienenverkehr und die Modernisierung des entsprechenden Kommunikationssystems in Höhe von 676 Millionen Euro gefördert worden. Auch zukünftig sollen EU-Gelder in die Bereiche „Innovation, Unterstützung kleiner Unternehmen, digitale Technologien und Modernisierung der Wirtschaft fließen“, mit Fokus auf einen reduzierten CO2-Ausstoß. Dieses Förderpaket richtet sich mit wenigen Ausnahmen noch bis 2027 hauptsächlich an Regionen Ost- und Südosteuropas, die gemessen am pro Kopf-BIP als unterentwickelt gelten (weniger als 75% des Durchschnitts der EU-27-Länder) und ist von der EU mit 500 Milliarden Euro ausgestattet.
Die Erschließung Osteuropas durch Amazon und seine Konkurrent*innen erfolgt nicht gleichmäßig, sondern konzentriert sich insbesondere auf die urbanen Ballungszentren rund um Warschau und Regionen im polnischen Westen, um Prag und den tschechischen Westen, sowie auf die Städte Bratislava, Budapest, Bukarest, Ljubljana und Sofia. Ländliche Regionen oder insgesamt statistisch weniger kaufkräftige Bevölkerungen haben eine geringere Priorität und werden daher beispielsweise nicht schnell „versorgt“: im Osten Polens gibt es keine Amazon-Standorte, ebenso wenig in Rumänien oder Bulgarien.
Grob verallgemeinert ließe sich also sagen: Während etwa staatliche Ausgaben für die soziale Absicherung der Bevölkerungen in der Region niedrig bleiben, finanzieren die Staaten und EU die für Amazons Geschäft notwendige Infrastruktur – bei wahrscheinlich sehr niedrigen Steuerabgaben Amazons.
Die zweite These lautet daher, dass Amazon auf Basis einer öffentlich finanzierten Infrastrukturpolitik expandiert, die den Osten gemäß Kapitalinteressen nun weiter erschließt. Es ist der öffentliche Sektor, der diese Ausbreitung vorbereitet: mit Investitionen in IT und Straßenbau, die für das Modell Amazons nötig sind. Hiervon profitieren neben Amazon auch andere international agierende Einzel- und Versandhändler.
Wie weiter?
Amazon, Alibaba und Co. setzen sich quasi ins gemachte Nest. Diesen Prozess hat die COVID-19-Pandemie durch Schließungen vom stationären Einzelhandel noch beschleunigt, da tendenziell eher größere Ketten und der Versandhandel die Präventionsmaßnahmen unbeschadet und teils sogar mit Rekordgewinnen überstehen konnten.
Wie schon für Länder wie die USA oder Deutschland diskutiert, wird sich die Ausbreitung des Onlinehandels und der darin dominanten Unternehmen kaum rückgängig machen lassen. Die Investitionsprojekte der EU und der Empfang Amazons mit offenen Armen in polnischen Sonderwirtschaftszonen und vielen europäischen Regionen zeigen: die Ausbreitung des Versandhandels, insbesondere von Amazon als globalen Player, wird nicht nur politisch geduldet, sondern auch gefördert. Bisher sind jedenfalls keine Versuche zur Einflussnahme auf diesen Prozess oder gar das Suchen nach Alternativen zu Amazons Verkaufsmodell erkennbar.
Meine dritte und letzte These lautet hierzu entsprechend: Die Konsequenz für die Einzelhandelsstrukturen in Ost- und Südosteuropa wird verheerender sein, als in Westeuropa. Das hat mit der Struktur des Einzelhandels zu tun: ein Großteil der Umsätze entfällt in Osteuropa auf kleine Einkaufsläden und den traditionellen Einzelhandel. Der Betriebsformenwandel hin zu großen und modernen Betriebsformaten ist noch nicht vollzogen. Das ohnehin pandemiegebeutelte Kleinstgewerbe in den Städten wird nun zunehmend mit Unternehmen wie Amazon konkurrieren müssen, wodurch sich Innenstädte verändern und neue Arbeitskräfte frei werden – auch für die Arbeit in den Distributionszentren. Da die privaten Konsumausgaben in beinahe allen ost- und südosteuropäischen Staaten deutlich zugelegt und das Prä-Pandemie-Niveau teilweise deutlich überstiegen haben, wird die Erschließung Osteuropas durch Amazon und seine Konkurrent*innen weitergehen, der Anpassungsdruck an seine produktive Organisation des Arbeitsprozesses wird groß sein.
Die Emigration großer Bevölkerungsteile und der demografische Wandel in der Region tragen zusätzlich zu einer Konzentration auf die urbanen Ballungszentren bei. Genau hier siedelt sich Amazon an. Menschen und Regionen, die nicht im Zentrum dieses Akkumulationsregimes stehen, werden tendenziell weiter abgehängt. Dieser fortschreitende Prozess der „Eroberung des Ostens“ durch Amazon erinnert an die Thesen Rosa Luxemburgs zur kapitalistischen Landnahme durch Produktivitätssteigerungen: zunächst gibt es, grob verallgemeinert, staatliche Intervention durch Infrastrukturinvestitionen, es folgt dadurch die zeitliche und räumliche Anbindung an die Zentren der Akkumulation, dann kommt es zum erhöhten Konsum in bestimmten Regionen, dadurch entsteht wiederum die profitable Möglichkeit der reellen Subsumtion der Verkaufsarbeit. Dies lässt sich nun in Osteuropa beobachten, auch mit Blick auf den Einzel- und Versandhandel.
Bisherige Debatten zur politischen Reaktion auf diese Entwicklung zielen vor allem auf staatlichen politischen Willen und Regulierung: eine stärkere Besteuerung als Umverteilungsmechanismus sowie die Herstellung von Transparenz von Steuerzahlungen. Auch eine Angleichung der Löhne europaweit könnte eine Reaktion sein, was auch schon diskutiert wurde. Sie lassen jedoch zwei Punkte außer Acht: erstens, dass der Protest bei Amazon grenzübergreifend auf das Erleben der Arbeit als entfremdet hindeutet und zweitens, dass wirtschaftliches Wachstum und Massenkonsum die Klimakrise weiter verschärfen.
An diesen Problemen setzen momentan weder gewerkschaftliche, noch soziale Bewegungen, Arbeitslosenorganisationen oder die Klimabewegung an. Für sie sehe ich gleichwohl die Chance, andere Modelle der Warendistribution und des Konsums zu entwickeln: ohne Überausbeutung, ohne das Zerreiben der Arbeitskräfte in entfremdeter Arbeit, ohne abgehängte Peripherien und Innenstädte mit Leerstand oder dominanten Versandhandelsketten; und hin zum Wandel zu einer klimabewussten Warenzirkulation auf Grundlage des Stands digitaler Technologien und logistischen Wissens. Das gelingt nicht als nationales Projekt, sondern nur europaweit, mindestens.
Anm. d. Red.: Quellen der Zitate und Hinweise finden sich hier.
Danke für die Hintergründe und Gedanke! Fand das hier auch interessant. Krise als treibende Kraft? Die Geschäftsentwicklung Amazons im Zuge der Covid-19-Pandemie: https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1978