Ästhetische Weigerung: “Kein leicht konsumierbares Abbild eines ‘modernen’ Deutschlands”

Als “The Berlin School and Its Global Contexts: A Transnational Art Cinema” im Juni 2018 erschien, war in Deutschland eine verstärkte Tendenz zum Nationalismus spürbar, nicht zuletzt erkennbar an der den Diskurs bestimmenden Rolle der AfD – all das legitimiert durch den vermeintlichen Kontrollverlust souveräner Staatlichkeit im Sommer der Migration 2015. Jetzt, da das Buch unter dem Titel “Die Berliner Schule im globalen Kontext. Ein transnationales Arthouse-Kino” in deutscher Übersetzung erschienen ist, haben sich im Schatten der Ukraine-Invasion durch Russland diese nationalistischen Tendenzen weiter verschärft. Ein Interview mit Marco Abel und Jaimey Fisher, den Herausgebern des Buches.

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Was bedeutet es für Euch als Filmkritiker über globalen Kontext und Transnationalität in diesen zwei Momenten (2018/2022) nachzudenken bzw. betreffende Impulse zu setzen?

Die Idee für das Buch stammt aus dem Jahr 2013 und ging dem “Wir-schaffen-das”-Moment des Jahres 2015 voraus. Sie wurde vielmehr von dem Gefühl einiger unserer Kolleginnen und Kollegen inspiriert, dass der relative (diskursive) Erfolg der Berliner Schule, zumindest in der anglo-amerikanischen German Film Studies Community, als “gutes Objekt” besorgniserregend war. Einige befürchteten, dass die Berliner Schule gerade als “gutes Objekt” die deutsche Filmwissenschaft wieder auf das Konzept der Nation zurückführen könnte, wodurch die Gefahr bestünde, dass das Feld (wieder einmal) zu sehr parochialisiert wird und somit die beträchtlichen Anstrengungen, die in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Vereinigung unternommen wurden, um das deutsche Kino zu entterritorialisieren und es in breitere, internationale Kontexte wie die globale Filmgeschichte oder die medienwissenschaftlichen Debatten einzubinden, in denen das Kino nur ein audiovisuelles Medium ist, das es zu berücksichtigen gilt, auf unproduktive Weise untergraben werden. Eine zu starke Orientierung an der Berliner Schule, so wurde argumentiert, würde die deutsche Filmwissenschaft institutionell nicht nur in den engen Grenzen der deutschen Filmwissenschaft gefangen halten (die zumeist in den deutschsprachigen Abteilungen stattfindet und in den Abteilungen für Filmwissenschaft kaum präsent ist), sondern auch innerhalb der Filmwissenschaft, anstatt sie in das größere und für manche spannendere (weil aktuellere) Feld der Medienwissenschaft einzubetten.

Wir können dies ein wenig umrahmen, indem wir den Diskurs über die Berliner Schule in Beziehung zu dem des Neuen Deutschen Films setzen (eine Periode der deutschen Filmgeschichte, zu der wir derzeit einen neuen Band zusammenstellen – eine Art Fortsetzung unseres Buches über die Berliner Schule). In den 1980er und 1990er Jahren diskutierten Wissenschaftler*innen (sowohl in der Germanistik als auch darüber hinaus) den Neuen Deutschen Film und seinen kritischen, wenn nicht sogar kommerziellen Erfolg fast ausschließlich als ein Kino, das sich in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich, mit(vor allem West-)Deutschland und seiner gewalttätigen Geschichte des 20. Jahrhunderts (insbesondere mit dem Nazi-Erbe und dem damals aufkeimenden Konflikt zwischen dem westdeutschen Nationalstaat und der RAF) befasst. Man könnte sagen, dass es als das nationale Kino schlechthin konzipiert wurde – viel mehr als etwa die Nouvelle Vague oder der britische kitchen sink realism, ganz zu schweigen vom so genannten Dritte-Welt-Kino, das der brasilianische Filmemacher Glauber Rocha mit seinem Begriff der “Ästhetik des Hungers” berühmt gemacht hat, indem er argumentierte, dass dieses Kino transnational die (modernistische) Ästhetik der westlichen Kolonisatoren ablehnt.

Ab den 1990er Jahren kam es jedoch zu einer Art Gegenreaktion. Es wurde der Versuch unternommen, der Tendenz entgegenzuwirken, den Neuen Deutschen Film als “gutes Objekt” zu privilegieren und das die Germanist*innen studieren und schließlich feiern sollten, nicht zuletzt, weil es ihnen erlaubte, dieses Kino auf einer Ebene der “Kunst”, wenn nicht gar der “hohen Kunst” zu untersuchen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken – vielleicht nicht zuletzt, weil sie dem Stolz auf diese nationale Errungenschaft Tür und Tor öffnete, um “legitim” und legitimiert zu werden –, begann das Fach, die Geschichte des deutschen Kinos neu zu überdenken, indem es mehr Gewicht auf seine populäre, d.h. Genre-Tradition legte, anstatt sich weiterhin auf das Autorenkino des Neuen Deutschen Films zu konzentrieren.

Vielleicht könnte man sagen: Gerade weil man den Eindruck hatte, dass die Fokussierung auf das Autorenkino als “gutes Objekt” zu einer Feier des deutschen Kinos als nationales Kino, auf das man stolz sein kann, geführt hat, wandte man sich der langjährigen deutschen Tradition des populären Genrefilms (die von Kritikern und Wissenschaftlern gleichermaßen häufig verunglimpft wurde) und seinen offenkundigeren internationalen Einflüssen zu. Dies geschah vielleicht nicht zuletzt, um die beunruhigende Sichtweise, die das Autorenkino als (hohes) Kunstkino mit dem Neuen Deutschen Film, den Neuen Deutschen Film mit dem “legitimen” deutschen Kino und letzteres wiederum mit dem deutschen Nationalkino gleichsetzte, zu erschweren, wenn nicht gar zunichte zu machen – eine Sichtweise, mit der beunruhigenden Folge, dass die Behauptung dieser synekdochischen Beziehung zwischen dem Autorenkino des Neuen Deutschen Films und dem westdeutschen Nationalstaat letzteren als Garant dafür erscheinen ließ, dass die deutsche Nation in ihrem Kern wieder “gut” wurde. Verständlicherweise bestand die Sorge, dass diese Feier des deutschen Nationalkinos nur einen kleinen Schritt davon entfernt war, (ungewollt) eine Rechtfertigung des Nationalismus zu bieten.

Unsere Intervention bestand also darin, die Kolleg*innen aufzufordern, ein wenig darüber nachzudenken, inwiefern dieses neue “Kunstkino” der Berliner Schule gerade nicht auf den Begriff der Nation festgelegt war und daher nicht fälschlicherweise als deutsches Nationalkino angesehen werden sollte oder versucht, ein solches zu sein, geschweige denn als ein Kino, das uns dazu verleiten sollte, Deutschland als eine “normale” Nation anzunehmen. Wir hofften, mit diesem Band zeigen zu können, dass die Berliner Schule nicht darauf bedacht war (ist), ein “legitimes” deutsches Kino zu sein, denn im Gegensatz zu ihren Neue Deutsche Film-Vorgängern sahen (sehen) sich diese Filmemacher*innen nicht als “Vertreter” Deutschlands.

Oder vielleicht sollten wir sagen: Wir wollten diese Einschätzung bekräftigen, denn in “The Counter-Cinema of the Berlin School”(Camden House, 2013) hatte Marco bereits argumentiert, dass die Filme der Berliner Schule weit davon entfernt sind, sich an ein existierendes deutsches Volk zu wenden, und dass sie “uns dabei helfen, uns ein anderes Deutschland vorzustellen, eines, das zu einer anderen Zeit gewesen sein wird und auf das jemand anderes zu einer anderen Zeit blicken und erklären könnte: ‘So, das war auch Deutschland'”, wie es der Sprecher in Christoph Hochhäuslers Kurzfilm “Séance”(2009) ausdrückt (vgl. “Counter-Cinema”24). Es ist ein Gegenkino, gerade weil es nicht darauf angelegt ist, ein nationales Kino zu sein. Stattdessen, so Marco, “ist es ein Kino, das auf diese neue Nation blickt – Deutschland ist als Nationalstaat noch kein Vierteljahrhundert alt – und sich fragt, wo seine Menschen eigentlich sind: nicht die Ostdeutschen, nicht die Westdeutschen, nicht die Leitkultur-‘Lasst-uns-alle-Unterschiede-auslöschen’-Deutschen, sondern genau die Menschen, die fehlen, nicht zuletzt aufgrund des politischen Versagens, sie nach der Vereinigung durch einen ordentlichen Verfassungsakt zu konstituieren. Ihre Filme richten sich also im wahrsten Sinne des Wortes an ein Volk, das noch fehlt” (“Counter-Cinema” 308) – kaum der Stoff für ein “nationales” Kino, geschweige denn für die Träume der Nachwende-Vertreter von einem (neuen) Nationalismus.

Doch während wir in unseren eigenen Büchern auf unterschiedliche Weise argumentierten – in seinem Buch “Christian Petzold”(University Illinois Press, 2013) macht Jaimey darauf aufmerksam, dass Petzolds Filme tief in die internationalen Traditionen des Genrefilms eingebettet sind, nicht zuletzt in die von Hollywood, und sich damit bewusst jeder Reduzierung auf die Ebene des Nationalen widersetzen – konnten wir feststellen, dass dieser entscheidende Aspekt unserer Argumente irgendwie nicht gehört wurde. Vielleicht haben wir uns nicht klar genug ausgedrückt; und/oder vielleicht ist die Tatsache, dass dies nicht gehört wurde, als symptomatischer Ausdruck der Sehnsucht vieler zu verstehen, endlich wieder das Objekt zu haben, das einige unserer Kollegen mit Sorge als “gutes Objekt” bezeichnet hatten. In jedem Fall waren wir unseren Kollegen dankbar, dass sie uns gewissermaßen den Anstoß gaben, dieses Thema erneut aufzugreifen – was wir dann auch taten, indem wir mit einer Reihe von Mitwirkenden zusammenarbeiteten, um die tiefgreifenden globalen Wurzeln der Berliner Schule viel deutlicher zu betonen.

Kurzum: Für uns war die Berliner Schule nie ein “nationales” Kino, geschweige denn eines, das es den Zuschauer*innen ermöglichen würde (oder zumindest: sollte), sich mit ihrer Identität als “deutsch” wohlzufühlen. Ganz im Gegenteil – und wir denken, dass sich dies in den Jahren zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung unseres Bandes bei Wayne State University Press im Jahr 2018, also mitten in der Trump-Ära, und der kürzlichen Veröffentlichung im transcript Verlag in einer ausgezeichneten deutschen Übersetzung von Valie Djordjevic in einem Moment des Krieges in Europa und eines erheblichen Umbruchs auf den transnationalen Energiemärkten nicht geändert hat.

Wie haben sich in Euren Augen die Rahmenbedingungen für Diskussionen über globalen Kontext und Transnationalität im Bereich des Kinos in dieser Zeit verschoben?

Wenn überhaupt, dann scheint es, dass es weiterhin notwendig ist, das Kino durch eine globale oder transnationale Linse zu betrachten, und das in einem Zeitalter der (erzwungenen) Massenmigration vielleicht mehr denn je. Eine weitere wichtige Entwicklung ist natürlich die COVID-19-Pandemie und der beschleunigte Aufstieg der transnationalen Streaming-Dienste, die nun immer mehr Filme finanzieren. Das Kino transnational oder global zu denken, sollte jedoch nicht dazu führen, lokale (nationale) Besonderheiten zu vernachlässigen. Die Vernachlässigung solcher Besonderheiten würde nämlich dem Modus Operandi der neoliberalen Globalisierung entsprechen: alles immer mehr überall gleich zu machen. Wir halten es für bemerkenswert, dass selbst ein Dienst wie Netflix, der unbestreitbar ein neoliberales Projekt ist, es für lohnenswert hält, Filme und Fernsehen in lokalen Sprachen zu produzieren, und sei es auch nur als kommerzielle Strategie. Die Frage ist nicht, ob man das Kino global konzipieren soll oder nicht, sondern wie man die Beziehung zwischen dem Lokalen und dem Globalen anders als binär konzipieren kann – eben jene Binarität, die dem Motor der Reaktion sehr viel Sprit einflößt (und immer eingeflossen hat).

Eure Idee, die Berliner Schule als transnationales Arthouse-Kino zu begreifen, verortet gewissermaßen eine Internationale der Filmemacher*innen, die über ästhetische und praxisbezogene Korrespondenz, Verwandtschaft sowie Wechselseitigkeit entsteht. Als Ausgangs- und Knotenpunkt einer solchen Internationale wären auch andere Orte denkbar – vielleicht Buenos Aires, Tokio, Bukarest oder Manila. Auch drängt sich die Frage auf: Was prädestiniert die Berliner Schule für diese Rolle? Was ist in diesem Zusammenhang ihr besonderer Beitrag? – falls sich von Beitrag im Singular tatsächlich sprechen lässt.

Wir glauben nicht, dass es etwas Wesentliches gibt, das die Berliner Schule für diese Rolle prädestiniert, oder für irgendeine Rolle. Aber wir denken, dass die Filmemacher, die mit der Berliner Schule assoziiert werden (auch diejenigen, die sich mit diesem Etikett nicht anfreunden können), implizit oder explizit, bewusst oder unbewusst, daran interessiert sind, Filme zu machen, die mit Filmemachern außerhalb der deutschen Grenzen im Gespräch sind. Aus den verschiedenen Kooperationen der Filmemacher und beispielsweise der Zeitschrift Revolver wirddeutlich, dass es eine Solidarität und ein gemeinsames Anliegen gibt, sich weltweit für diese Art von Kino zu engagieren. Gleichzeitig machen die Filmemacher der Berliner Schule Filme, die in Deutschland spielen (wobei man sagen muss, dass eine ganze Reihe von Filmen der Berliner Schule zumindest teilweise außerhalb Deutschlands spielen, wie viele der Filme von Angela Schanelec, mehrere von Petzold, aber auch Thomas Arslans “Gold” (2013), Valeska Grisebachs “Western” (2017), Maren Ades “Toni Erdmann” (2016), Henner Wincklers “Klassenfahrt” (2002), Benjamin Heisenbergs “Schläfer” (2005) und Christoph Hochhäuslers demnächst erscheinender Film “Bis ans Ende der Nacht“) – aber in einer Weise, die Helmut Färbers Argument beherzigt, dass gute Filme diejenigen sind, die in zwanzig Jahren zeigen, warum und wie wir vor zwanzig Jahren gelebt haben. Mit anderen Worten: Diese Filmemacher fragen sich: Welche Bilder brauchen wir heute für morgen?

Sie versuchen, Bilder zu produzieren, nicht um Deutschland oder die Deutschen heute zu “repräsentieren” (geschweige denn, um als Repräsentanten der Nation zu dienen), sondern um ihr Publikum mit einer spekulativen, konjunktiven Perspektive zu berühren, indem sie die Zwischenräume des gegenwärtigen Lebens mit all seinen Sehnsüchten aufmerksam beobachten, denn gerade in diesen Zwischenräumen, sozusagen im “Off”, manifestiert sich ein Leben, das von Filmen, die behaupten, etwas über Deutschland zu repräsentieren (Filme, die bei der deutschen Filmförderung gut abschneiden), weitgehend unartikuliert bleibt. Es ist ein Leben, das in seiner Singularität nur auf der Ebene des Affekts wahrgenommen werden kann, da es weitgehend in potentia, unrealisiert, existiert. Aber diese Singularität ist das, was das Leben wirklich ausmacht, und zwar in einer Weise, die sich nicht auf Begriffe wie Nation oder Nationalität reduzieren lässt. Das Spürbarmachen dieser Singularität macht es diesen Filmen auf der einen Seite sehr schwer, in der Gegenwart ein größeres Publikum zu finden, ermöglicht ihnen eventuell aber, genug Kraft zu haben, um einem zukünftigen Publikum zu erlauben, etwas über das heutige Deutschland zu sehen, darüber, wie und warum wir heute gelebt haben – d.h., etwas zu sehen, das all die Darstellungsklischees durchbricht, mit denen die meisten Filme, nicht zuletzt auch die eher national ausgerichteten, ihren Zuschauern im In- und Ausland hausieren gehen, wie etwa die meisten unerträglichen Historienfilme, die nach wie vor die erfolgreichsten deutschen Filme im Ausland sind.

Darin, so denken wir, sind die Filme der Berliner Schule einem globalen Arthouse-Kino zutiefst verbunden – ob in Thailand oder Argentinien, Rumänien oder Taiwan, Ungarn oder den USA -und zwar gerade deshalb, weil sich diese Kinos bei allen Unterschieden auch weigern, ihr Publikum auf der Ebene der “Repräsentation” anzusprechen: So wie Lucretia Martel, Apichatpong Weerasethakul, Kelly Reichardt oder Bela Tarr keine Filme machen, um vorgefasste Vorstellungen von ihren jeweiligen Nationen zu bedienen, geschweige denn die Sehnsucht nach nationalen Essenzen, so tun es auch Grisebach, Arslan oder Schanelec nicht. Die Gemeinsamkeit dieser Tendenz, in all ihren Variationen, im zeitgenössischen globalen Arthouse-Kino ist der Punkt, an dem wir die Internationale der Filmemacher*innen, von der Sie sprechen, verorten könnten. Dieses zeitgenössische globale Arthouse-Kino hat natürlich seine eigenen historischen Vorläufer, zum Beispiel im italienischen Neorealismus und seinen verschiedenen globalen Erscheinungsformen. Denken Sie zum Beispiel daran, wie früh im Nachkriegsneorealismus Roberto Rossellini “Germania anno zero”(1948) drehte. Für ihn und andere war es klar, dass der Neorealismus nicht nur ein Filmstil war, sondern auch eine gemeinsame Sensibilität und eine Politik, die man teilen konnte. Dasselbe gilt heute für Arbeiten, die als “langsames Kino”, “Kino der Dauer” oder “kontemplatives Kino” bezeichnet werden (diese Begriffe werden nicht unbedingt synonym verwendet, haben aber dennoch eine Schnittmenge).

Obwohl es offensichtlich kein “Kommunistisches Manifest” gibt, das diese Internationale begründet oder verankert, scheint es bei bestimmten Filmemacher*innen rund um den Globus eine ästhetische Neigung zu geben, ihre jeweiligen Welten auf eine Art und Weise darzustellen, die über nationale Unterschiede und Grenzen hinweg mitschwingt, aber auch auf eine Art und Weise, die mit der Globalisierungsideologie des Neoliberalismus unvereinbar bleibt, was wir für wichtig halten zu betonen: Die transnationalen Tendenzen der Art von Kino, von der wir hier sprechen, sind keine Entschuldigung für die neoliberale Globalisierung und ihre ungebremsten zerstörerischen Ströme des globalen Kapitalismus. Man könnte sagen, dass diese Filme einen Widerstand sowohl gegen den Nationalismus als auch gegen die Globalisierung zum Ausdruck bringen und einen Sinn für Internationalismus als Gegengift oder alternative Sensibilität bieten.

Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass jede Diskussion über die Berliner Schule davon profitiert, wenn man sie einrahmt und bricht, indem man diese Filmemacher mit ihren Kollegen aus der ganzen Welt ins Gespräch bringt. Und wenn es eine einzigartige Art und Weise gibt, in der die Berliner Schule zu dieser Internationale beiträgt, dann vielleicht gerade wegen der Besonderheit ihrer eigenen nationalen Tradition, die wir in der Antwort auf Ihre erste Frage erörtert haben: als ein Arthouse-Kino, das sich weigert, sich als “legitimer” Repräsentant seines nationalen Kontextes zu positionieren, was im Kontext der Post-Vereinigung auch bedeutet: als eine Weigerung, genau die neoliberale Globalisierung zu unterstützen, für die das heutige Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten stand.

Was sind die epistemisch-politischen Grenzen des Ansatzes, die Berliner Schule als transnationales Arthouse-Kino zu sehen, etwa im Hinblick auf die darin wenig behandelten Fragen der Kolonialität? Funktioniert die transnationale Rahmung dieses Kinos diesbezüglich nicht als Nebelwand und lenkt von solchen Defiziten ab?

Die Frage nach dem Kolonialismus – und insbesondere nach der kolonialen Vergangenheit Deutschlands sowie seiner entscheidenden Rolle im wirtschaftlichen Neokolonialismus – ist natürlich von entscheidender Bedeutung. Aber wir müssen auch bedenken, dass die in diesem Buch besprochenen Filme im Großen und Ganzen vor dem Aufkommen der aktuellen Debatte über Deutschlands koloniales Erbe entstanden sind. Dies könnte erklären, warum sich diese Filme im Großen und Ganzen nicht – zumindest nicht explizit auf der Darstellungsebene – mit der heimtückischen Rolle Deutschlands im Kolonialismus auseinandersetzen, obwohl wir Ihre Leserinnen und Leser daran erinnern möchten, dass Ulrich Köhlers “Schlafkrankheit” (2011) dieses Thema ziemlich direkt aufgreift. Des Weiteren handeln sowohl Ades “Toni Erdmann” als auch Grisebachs “Western”, die beide zu spät erschienen sind, um in unseren Band aufgenommen zu werden, davon, wie das Nachvereinigungsdeutschland seine europäischen Nachbarn mit den Methoden des neoliberalen Neokolonialismus behandelt, und auch Schanelecs “Der traumhafte Weg” (2016) kann als fruchtbare Auseinandersetzung mit dem letztgenannten Kontext betrachtet werden, wie unsere Einleitung zu diesem Band nahelegt.

In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass die Berliner Schule bzw. die mit diesem Label verbundenen Filmemacher bis vor kurzem nicht daran interessiert waren, Filme über die deutsche Vergangenheit zu machen, sondern sich auf die Gegenwart nach der Wiedervereinigung konzentrierten. Und in diesem Zusammenhang haben sie, wie wir argumentiert haben, sehr wohl Filme über oder als Reaktion auf den Neoliberalismus gemacht, wie Petzolds “Yella” (2007) und “Jerichow” (2008) oder Hochhäuslers “Unter dir die Stadt” (2010), was genau die ökonomische Form ist, die der Kolonialismus in den letzten paar Jahrzehnten angenommen hat.

Eine der Stärken dieser Filme liegt unserer Meinung nach darin, dass sie auf sehr foucauldsche Weise aufzeigen, wie der globale neoliberale kapitalistische Norden den Rest der Welt viel effektiver und effizienter (im wirtschaftlichen Sinne) neokolonialisiert als seine kolonialistischen Vorgänger. (Er tut dies auch in seinem eigenen Bereich “zu Hause”, womit wir meinen: Natürlich unterdrückt der Neoliberalismus seine “eigene” Bevölkerung auf dramatisch ungleiche Weise, so dass die große Mehrheit in den reichen neoliberalen Ländern immer noch den Kürzeren zieht.). Was Foucaults Genealogie der Macht so überzeugend zeigt, ist, dass sich das Ziel der Macht vom menschlichen Körper qua “Fleisch” wegbewegt hat (es war das Regime der souveränen Macht, aber eben nicht, oder nicht mehr so sehr, spätere Formen der Macht, das immer noch auf den buchstäblichen menschlichen Körper abzielte) und zunehmend auf sein Potenzial: auf das, was er tun kann. Für Foucault ist der Körper nichts anderes als eine Ansammlung von Kräften (er ist in dieser Hinsicht sehr nietzscheanisch); und Kraft wirkt auf Kraft, das heißt: auf Potenzial.

Durch die Regulierung dessen, was ein Körper tun kann, erhält die Macht den “buchstäblichen” Körper (den fleischlichen Körper) umsonst, wenn man so will. Anstatt einen bestimmten Körper zu verletzen (souveräner Modus der Macht), um anderen Körpern (Zeugen) ein Beispiel zu geben (“tu das nicht, sonst…”), versucht die Macht, die Kapazitäten eines Körpers zu regeln, d. h. den Raum, der die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, wie der Körper handeln kann oder nicht (disziplinärer Modus der Macht). Dies ist bereits effizienter. Und mit dem, was Foucault als Biomacht bezeichnete, kommt es zu einer weiteren Verschärfung, da dieser Machtmodus nun in erster Linie nicht mehr so sehr auf die Fähigkeiten, sondern auf das Leben selbst abzielt. Mit anderen Worten: Foucault zeigt, dass die Macht auf einer immer feineren Ebene operiert, einer Kapillarebene. Und der biopolitische Neoliberalismus wurde zur intensivsten Version dieses immer stärker werdenden Drangs der Macht, “leichter” zu werden (wie Jeffrey Nealon in “Foucault Beyond Foucault”überzeugend dargelegt hat) – bis zu dem Punkt, an dem, wie Gilles Deleuze in seinen kurzen Bemerkungen über die Kontrollgesellschaft bekanntlich vorschlug, die Macht ihre Subjekte dazu bringt, genau die Dinge aktiv zu begehren, die die Schlinge um ihren Hals immer enger ziehen (Lauren Berlant theoretisierte etwas Ähnliches mit ihrem Begriff des “grausamen Optimismus”).

Für die filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus hat diese Analyse also erhebliche Konsequenzen, wenn man sie ernst nimmt. Sie bedeutet, dass das Kino neue Bilder erfinden muss, die dieser “Leichtigkeit” der Macht “gerecht” werden. Das soll nicht heißen, dass die “Schwere” der (souveränen) Macht nicht mehr existiert (und Foucault hat nie behauptet, dass die offensichtliche, unübersehbare Gewalt des Souveräns verschwunden ist): Natürlich existiert sie noch und ist wirksam. Aber unter den Bedingungen des Neokolonialismus – und das ist etwas, was Octavio Getino und Fernando Solanas in ihrem brillanten Werk “Stunden der Öfen”bereits 1968 dargelegt haben – hat diese “schwere” Form der Macht nicht mehr die Oberhand, ist nicht mehr der “dominante” Modus der Macht, um mit Raymond Williams zu sprechen; vielmehr operiert die Macht noch mehr auf der “leichteren”, kapillaren Ebene als durch die Anwendung der offensichtlicheren “alten Schule” der Gewalt, die Deutschland während der Kolonialzeit auf tragische Weise ausgeübt hat, ein Erbe, dessen sich die meisten Deutschen noch immer nicht bewusst sind. Die heutige Macht bedient sich viel subtilerer und weniger sichtbarer, oder “sinnlicher” im Sinne von Jacques Rancière, Operationen; und es sind diese neokolonialen Operationen der Macht, die die Berliner Schule unserer Meinung nach tatsächlich recht gut sichtbar, spürbar und wahrnehmbar macht (wie auch einige ihrer globalen Mitstreiter).

Wir müssen uns also vielleicht fragen, was es für das Kino heute bedeutet, sich mit dem Kolonialismus auseinanderzusetzen – sowohl mit der historischen Version als auch mit seinem neokolonialen Nachfolger. Dass Deutschland (historisch) nicht direkt als Kolonialmacht “dargestellt” wird, bedeutet nicht automatisch, dass diese Filme keine interessanten Aussagen über die koloniale Logik in der Gegenwart machen können. Vielleicht können wir die Frage umdrehen: Wäre die eigentliche “Nebelwand” nicht ein Kino, das vorgibt, uns über den Kolonialismus aufzuklären, indem es ihn zeigt, indem es ihn “darstellt”? Wäre dies nicht, um einen Begriff aus dem American Football zu verwenden, das Äquivalent eines Running Backs, der mit dem Kopf täuscht, um zu suggerieren, dass er nach links rennt, nur um dann nach rechts zu rennen, sobald die Verteidigung auf seine Kopftäuschung hereingefallen ist und beginnt, sich in die falsche Richtung zu orientieren? Könnte man nicht sogar sagen, dass dies vielleicht auch die Tragödie der (zumindest guten Teile) der (west-)deutschen Linken nach 1968 ist: dass sie sich weiterhin den Staat als ihren Hauptfeind vorstellte und dabei übersah, wie sich der Kapitalismus selbst zu wandeln begann und fröhlich sein Ding machte, während seine “Feinde” weiterhin den Staat bekämpften?

Wir wollen natürlich nicht behaupten, dass die Berliner Schule alles richtig macht – was auch immer das bedeuten würde. Es ist nicht ihre Aufgabe – und auch nicht die eines jeden Künstlers – die Dinge “richtig” zu machen. Aber wir denken, dass die Beachtung der Tatsache, dass sie Teil eines größeren transnationalen Phänomens ist, Wege eröffnet, über das “Leben selbst” unter den Bedingungen eines neoliberalen, neokolonialen Regimes biopolitischer Kontrolle nachzudenken, gerade weil sie die Zuschauer (wenn sie daran interessiert sind, über solche Dinge nachzudenken) dazu zwingt, anders zu sehen, einschließlich des “Kolonialismus”, nicht zuletzt, weil diese Filme und ihre transnationalen Gesprächspartner den Zuschauern keine einfache moralisierende Position bieten, von der aus sie die Welt, die ihnen vorgesetzt wird, beurteilen können.

Anm.d.Red: “Die Berliner Schule im globalen Kontext. Ein transnationales Arthouse-Kino” ist im transcript Verlag erschienen. Die Fragen stellte die Berliner Gazette (BG) Redaktion.

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