Katalonien, Demokratie und Europa: Wie eine Regionalisierung der EU funktionieren kann


Am 1. Oktober hat Katalonien gewählt. Oder es zumindest versucht. Viele BürgerInnen wurden von der Polizei daran gehindert. Der spanische Staat mag hierbei im Rechtsrahmen gehandelt haben, doch was bleibt da noch von der Demokratie? Der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Wulf Loh kommentiert die Lage. Ein Plädoyer für die Idee der Regionalisierung.

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Dass dieses Referendum nach spanischem Recht illegal war und daher auch konsequent vom spanischen Verfassungsgericht untersagt wurde, steht außer Frage. Aber das macht den Wunsch der Katalanen nicht notwendigerweise illegitim. Wenn die spanische Verfassung keine Möglichkeit vorsieht, die Regionen in die Unabhängigkeit zu entlassen, spricht dies vielleicht eher gegen die Verfassung und weniger gegen das Referendum.

Allerorten werden jetzt jedenfalls Befürchtungen laut, die ein zweites Nordirland oder Baskenland heraufziehen sehen. An diesen Spekulationen will ich mich nicht beteiligen. Viel mehr interessiert mich die Frage, wie der Rest der internationalen Gemeinschaft, und hier ganz besonders die EU, auf diese Entwicklungen reagiert bzw. reagieren sollte. Hierzu hat Manuel Müller vom Blog Europäischer Föderalist gerade einen sehr spannenden Beitrag verfasst. Das hat mich zum Nachdenken angeregt. Ich greife einige Gedanken daraus auf.

“Glokalisierung” als Erklärung

Als Erklärungsansatz für die zunehmende Regionalisierung gerade auch in Europa wird dort die „fortschreitende Globalisierung“, die Unsicherheiten hervorrufe und damit eine instinktive Abwehrreaktion provoziere, genannt. Dieses Phänomen ist als „Glokalisierung“ unbestritten und mag gerade auch für den Brexit eine plausible Erklärung sein. Ich glaube aber nicht, dass ihm im Fall Katalonien eine große Bedeutung zukommt. Hier sind eher historische Animositäten und Ressentiments am Werk, die durch die fortschreitende EU-Integration neue Nahrung erhalten.

Wozu braucht Katalonien Spanien, wenn die EU gleichermaßen die Außengrenzen sichern kann? Dies gilt auch für andere Unabhängigkeitsreferenden, wie bspw. das schottische vor drei Jahren: Der Wunsch nach Unabhängigkeit vom dominanten Nachbarn, dem man in einer Art Hassliebe verbunden ist, wird durch die Aussicht einer EU-Mitgliedschaft geschürt. Wozu braucht Schottland Großbritannien, wenn die EU auch die schottische Finanzpolitik übernehmen kann?

Stellt Separatismus eine Form der „Entsolidarisierung“ dar? Es seien „häufig die reicheren Regionen, die sich abspalten wollen, und die Vorstellung, vom Zentralstaat ‚bestohlen‘ zu werden, ist ein regelmäßig vorzufindender Topos in der separatistischen Rhetorik“. Die Beobachtung ist sicherlich nicht falsch, aber auch die Gegenseite nutzt gern ökonomische Argumente. Sei es die britische „Better together“-Kampagne für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich, die Anti-Brexit-Kampagne „Vote Remain“, oder jetzt die katalanische Gegenbewegung „Parlem, Hablemos!“, das Argument der Abspaltungsgegner folgt zumeist einer ähnlichen Logik: „Wir verstehen, wir haben euch in der Vergangenheit schlecht behandelt, es gab viel Blutvergießen und Wehgeschrei, aber jetzt sind wir halt in diesem politischen Gebilde zusammengepfercht und eine Trennung wäre einfach zu kostspielig!“

Nationalismus und Nationalismen

Den Separatisten wird häufig ein überbordender (ethnokultureller) Nationalismus vorgeworfen, dabei sind es gerade die Gegner, die den jeweiligen Nationalstaat als alternativlos darstellen und damit umgekehrt einem (staatsbürgerlichen) Nationalismus das Wort reden. Die ökonomische Karte wird dabei hemmungslos von beiden Seiten gespielt, um Unentschiedene zu beeinflussen. Und hier kommt die EU ins Spiel: Das Versprechen eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes lässt das ökonomische Argument der Separatismusgegner weit weniger attraktiv und plausibel erscheinen.

Deshalb wäre auch eine Unabhängigkeit Kataloniens nicht „trügerisch“. Denn den katalanischen Separatisten geht es ja gerade nicht um völlige Autarkie, sondern um Unabhängigkeit von Spanien. Niemand in Katalonien will alle Außenbeziehungen mit der Welt abbrechen und sich dem nationalistischen Einsiedlertum hingeben. Im Gegenteil, Katalonien versucht mit aller Macht, Teil der EU mit allen Rechten und Pflichten zu werden.

Autarkie als Ideal nationaler Unabhängigkeit ist eher eine Besonderheit der Brexit-Debatte, und dieses Ideal rührt vor allem aus der Tatsache, dass Großbritannien schon ein Nationalstaat ist und offensichtlich viele Briten wollen, dass das so bleibt. Diese Form des staatlich getragenen Nationalismus scheint mir viel gefährlicher und potenziell zersetzender, weil isolationistisch in seiner Stoßrichtung, als derjenige der meisten Autonomiebestrebungen in Europa.

Katalonien will erst ein Staat werden, und das funktioniert nur – da stimmt die katalanische Sezessionsbewegung mit den meisten anderen europäischen Bewegungen überein – mit und in der EU. Natürlich wäre eine Aufnahme in die EU kein Selbstläufer. Die Dynamik im Rat ist oft schwer abzuschätzen, und mit dem Mutterland hat der Aufnahmekandidat dort einen potenziell starken Gegner sitzen. Dennoch wird die EU aus ökonomischen wie sicherheitspolitischen Gründen höchstwahrscheinlich alles daransetzen, eine Mitgliedschaft möglich zu machen.

Warum ein langes Beitrittsverfahren?

Darüber hinaus gibt es – abseits einer Abschreckungsrhetorik vonseiten Spaniens und einiger anderer EU-Staaten mit virulenten Sezessionsbewegungen – keinen zwingenden Grund, warum Katalonien erst ein langwieriges Beitrittsverfahren durchlaufen muss. Immerhin hat Katalonien als Teil von Spanien längst den acquis communautaire, also die Gesamtheit aller EU-Regeln übernommen und umgesetzt. Und da Spanien auch Teil des Euroraums ist, könnte Katalonien einfach den Euro behalten, ohne langwierig mit einer Übergangswährung hantieren zu müssen.

Mit diesen Überlegungen kommen wir zum Kern des Ganzen: Wie soll sich die EU in punkto Katalonien positionieren? Einerseits ist sie institutionell wie auch politisch von den Nationalstaaten als Mitgliedsstaaten abhängig. Diese beschließen als die „Herren der Verträge“ nach wie vor die großen Richtlinien der Politik. Gleichzeitig haben Kommission und Parlament mit jeder Vertragsreform mehr an Eigenständigkeit hinzugewonnen.

Beide könnten sich – zumindest in der Theorie – vorsichtig vom Dogma der staatlichen Einheit lösen und einer Politik der Regionalisierung zuwenden. Dies wird mit dem „Europa der Regionen“ auch schon in ganz rudimentärer Form unternommen. Ein solcher Politikwechsel bedeutete freilich in letzter Konsequenz eine Abkehr vom Paradigma des souveränen Staates als der politischen Grundeinheit auf globaler Ebene, hin zu einem stärker komplementären „Mehrebenen-Regieren“.

EU als supranationale Demokratie

Aus demokratietheoretischer Sicht – hier gebe ich Manuel Recht – wäre eine zunehmende Regionalisierung Europas spätestens dann unproblematisch, wenn aus der EU eine supranationale Demokratie geworden ist, wenn also das EU-Parlament alle Kompetenzen in der Hand hält, die heute den nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten zustehen. Denn dann würden „Spanier und Katalanen […] weiterhin ein gemeinsames Parlament wählen, um ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu regeln; nur wäre das eben nicht mehr der Congreso de los Diputados in Madrid, sondern das Europäische Parlament in Brüssel“, wie Manuel schreibt.

Anders als er halte ich jedoch eine Aufnahme Kataloniens auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht für übermäßig problematisch. Zwar bedeutete ein weiterer Mitgliedsstaat eine zusätzliche Veto-Option und damit erschwerte Kompromissfindungen. Und auch die Währungsunion stünde vor zusätzlichen Herausforderungen. Andererseits stärkt der Separatismus langfristig die EU-Institutionen, und damit auch die supranationalen demokratischen Mechanismen. Das scheint zunächst kontraintuitiv, aber erinnern wir uns: Wozu braucht Katalonien Spanien, wenn die EU ähnliche Aufgaben (Landesverteidigung, Finanzpolitik, Sozialversicherung, Steuerpolitik) übernehmen kann?

Damit diese Gleichung jedoch aufgeht, muss die EU auch in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben zu übernehmen. Die neu entstehenden kleinen EU-Mitglieder werden also eine weitere Übertragung von Hoheitsbefugnissen – die sie nicht einmal vermissen, da sie sie noch nie hatten – an die EU-Ebene vorantreiben. Hier sind es vor allem die großen Mitgliedsländer, die momentan einer weiteren Integration entgegenstehen.

Was die Demokratie ausmacht

Eine derartige Regionalisierung der EU beschneidet also auf kurz oder lang die Macht des souveränen Mitgliedsstaates, egal ob groß oder klein. Am Ende dieses Prozesses könnte ein Europa der Regionen stehen, wie es bspw. Ulrike Guérot gerade wieder in der Zeit einfordert, in dem die zähen Verhandlungen und ständigen Blockaden im europäischen Rat der Vergangenheit angehörten. 60 Regionen ohne Vetorecht führten vermutlich zu einer effizienteren, bürgernäheren und damit auch demokratischeren EU. Solange jedoch die Mitgliedsstaaten „Herren der Verträge“ bleiben und im Rat nach wie vor einen Gutteil der legislativen und exekutiven Kompetenzen bündeln, stehen wir vor der paradoxen Situation, dass sie sich selbst entmachten müssten, um einer solchen Entwicklung zum Durchbruch zu verhelfen.

Wie also weiter im konkreten Fall Kataloniens? Sofern es nicht nur um Kompromisse und weitere Autonomiezugeständnisse geht, sondern tatsächlich um ein friedliches und faires Gebietsreferendum über die politische Zukunft Kataloniens, liegt die Lösung wohl nicht, wie die meisten Akteure bisher zu glauben hoffen, in Spanien selbst. Denn um ein solches Referendum rechtmäßig abhalten zu können, müsste vermutlich die spanische Verfassung geändert werden. Dies scheint in der jetzigen Situation wenig wahrscheinlich.

Die EU steht hier zwischen den Stühlen, repräsentiert sie doch gleichermaßen die Bürger wie die Staaten Europas. Es geht hier also um die grundsätzliche institutionelle Ausgestaltung der EU: Weiter mit dem Intergouvernementalismus der souveränen Mitgliedsstaaten als den Herren der Verträge oder mehr supranationale Demokratie? Vor diesem Hintergrund wäre eine allzu klare Kante gegen die spanische Zentralregierung mit unübersehbaren Folgen für Spanien, Katalonien und die EU selbst verbunden.

Dennoch plädiere ich dafür, dass sich mindestens Parlament und Kommission klar zu den Grundwerten der EU bekennen und dem dort festgeschriebenen Demokratiegebot Rechnung tragen. Sie müssen moderaten Druck auf Spanien ausüben und deutlich machen, dass zur Demokratie neben Wahlrecht und Opposition auch Minderheitenschutz und Autonomiearrangements gehören. Die Unterdrückung einer Minderheit und die Verweigerung ihres Rechts auf Selbstbestimmung um der Einheit Spaniens willen mag zwar rechtsstaatlich gedeckt sein, sie kann aber nie demokratisch sein.

Anm. d. Red.: Das Foto stammt von Olli’s Place (cc by nc).

4 Kommentare zu “Katalonien, Demokratie und Europa: Wie eine Regionalisierung der EU funktionieren kann

  1. Es erstaunt mich, wie Sie Rechtsstaat und Demokratie gegeneinander ausspielen. Ist nicht das Staatsvolk, das sich demokratisch selbst regiert, erst mit einem nationalen Rechtstaat gegeben? Mit anderen Worten: Wie wollen sie die Katalanen als eigene Volksgruppe bestimmen, ohne essentialistisch zu argumentieren, wenn es faktisch keinen Staat Katalanien gibt? Wäre es nicht naheliegender, in diesem Fall davon zu sprechen, dass die Separatisten in erster Linie spanische Staatsbürger sind und daher als Teil des spanischen Demos begriffen werden müssen, der Mehrheitlich gegen eine Abspaltung votiert?

  2. Die Frage nach der Identifizierung des Trägers eines Rechts auf Selbstbestimmung ist immer äußerst schwierig, deshalb drückt sich bspw. das Völkerrecht auch darum herum. Wie Sie denke ich nicht, dass man diesen Träger, also das „Volk“, ethnokulturell bestimmen kann und sollte. Entscheidend ist der politische Wille, nicht irgendeine konstruierte Abstammung. Dann bleibt natürlich das Problem, wer jetzt letztlich über eine Abspaltung mitentscheiden darf. Ganz Spanien abstimmen zu lassen, wäre eine Möglichkeit, würde aber bei Gebietsreferenden eine viel zu hohe Hürde bedeuten, da sich in der Regel die Mehrheit des Gesamtgebietes immer für einen Verbleib einsetzen wird. Außerdem stellt es für die sezessionswillige Minderheit wieder eine Fremdbestimmung vor die Selbstbestimmung. Sie hat nicht das Gefühl, selbstbestimmt über ihre politische Zukunft zu entscheiden, sondern doch wieder von der nationalen Mehrheit abhängig zu sein.

    Grundsätzlich müssen sich also die beiden Parteien, das Gesamtgebiet wie die Sezessionisten, vorab über das potenzielle Abspaltungsgebiet und das Elektorat einigen. Anne Peters hat hier ein bisschen Entwarnung gegeben, da ein künstlich aufgeblasenes Abstimmungsgebiet die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Referendum gegen eine Eigenständigkeit ausfällt. Die Sezessionisten müssen sich also genau überlegen, was das Abstimmungsgebiet und das Elektorat genau umfassen soll. In der Frage des Elektorats plädiere ich persönlich dafür, dass alle abstimmen sollten, die zum Zeitpunkt der Abstimmung seit einem bestimmten Zeitraum im Abstimmungsgebiet leben, egal, ob sie sich als (in diesem Fall) Katalanen oder Spanier verstehen. Dieses Lokalitätsprinzip umgeht das oben angesprochene Problem, die Identität ethnokulturell zu bestimmen und bspw. Katalanen an die Urnen zu lassen, die schon seit langem nicht mehr in Katalonien leben.

    Insgesamt müssen die Modalitäten für beiden Seiten akzeptabel sein und daher „in good faith“ ausgehandelt werden. Etwas, das die spanische Zentralregierung gerade verunmöglicht. Jedenfalls sehe ich nicht, wie ein solches Referendum „Rechtsstaat und Demokratie“ gegeneinander ausspielt. Im Gegenteil, die Idee der Volkssouveränität ist die Grundlage jeden modernen demokratischen Rechtsstaates, für Deutschland bspw. nachzulesen in Art. 20 Nr. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Zur Volkssouveränität gehört eben auch, dass das Volk darüber entscheidet, ob und in welcher Form es sich selbst konstituiert. Sie haben recht: Das „We the people“ der amerikanischen Verfassung schafft erst das Volk, das hier hypothetisch schon spricht. Aber genauso konstituiert ein Gebietsreferendum im politischen Sinn ein Volk und damit einen politischen Willen, der sich zunächst jedoch nur auf die Frage der eigenen lokalen Gegebenheit beschränkt.

  3. Die irische Sezession (von den Briten), die holländische Sezession (von Spanien/HRR), die albanische Sezession (von den Osmanen), die griechische Sezession (von den Osmanen), die amerikanische Sezession (von der britischen Krone)…

    Was macht die anders als die katalanische Sezession und wo war das Einverständnis des bisherigen Machtinhabers?

  4. Antwort an HOMBRE.

    Selbstverständlich kann es ein Staatsvolk erst mit einem nationalen Rechtsstaat geben (was Sie da sagen ist quasi eine Petitio principii). Aber ein Rechtsstaat kann es erst geben, wenn eine Gesellschaft (kein Staatsvolk) sich demokratisch selbst regiert.

    Man muss nicht “essenzialistch” argumentieren, um die Katalanen als Volksgruppe zu definieren. Man muss nur Wahlergebnisse der letzten Jahrzehnte in Spanien und Katalonien vergleichen, um diese Volksgruppe zu differenzieren. Dieser Unterschied ist nicht ethnisch, sondern einfach politisch-sozial.

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