Unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Zur Rolle des Nicht-Wählens bei der Bundestagswahl 2017

In den Massenmedien ist immer wieder zu vernehmen, der Bundestagswahlkampf 2017 sei gescheitert. Es gäbe keinen Streit, außerdem kümmere sich kaum eine Kampagne ausreichend um die vielen potenziellen Nichtwähler. Doch was bedeutet das Nicht-Wählen eigentlich für unsere Demokratie? Der Philosoph Wulf Loh unternimmt eine Bestandsaufnahme.

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Schon Aristoteles sieht es als einen Vorteil für die Qualität demokratischer Entscheidungen an, wenn die Besitzlosen von den Versammlungen auf der Agora ausgeschlossen werden. Diese hätten, so seine Auffassung, häufig keinen Sinn für die wirklichen Belange der Polis und zögen oftmals die eigenen kurzfristigen Interessen dem Allgemeinwohl vor. Gleichzeitig jedoch seien sie notgedrungen zum Müßiggang verdammt und könnten so, anders als beispielsweise die Landbevölkerung, in großer Zahl an den Versammlungen teilnehmen, wo sie leicht Opfer der Demagogen würden.

Dieser Vorbehalt gegenüber dem „Pöbel“, „Lumpenproletariat“, „Prekariat“ zieht sich durch die gesamte Geschichte der politischen Philosophie und erhält gerade wieder einmal Nahrung durch die jüngsten rechtspopulistischen Wahlerfolge. Einige Theoretiker wie Jason Brennan forderten unlängst eine „Epistocracy“ in bester platonischer Philosophenkönig-Manier, die nur diejenigen an die Urne lässt, die ein Mindestmaß an politischer Bildung vorweisen können.

Was bedeutet eine geringe Wahlbeteiligung?

Paradoxerweise herrscht aus bildungsbürgerlicher Perspektive gleichzeitig eine tiefe Sorge um die Vitalität des Elektorats. Die rückläufige oder – je nach Kontext – notorisch niedrige Wahlbeteiligung besonders in den relativ gefestigten, westlich-liberalen Demokratien, wird als Zeichen der endemischen Schwäche der modernen Demokratie gesehen. Auch wenn sich die schon in den 1970er Jahren formulierte These von der „Politikverdrossenheit“ in dieser Schärfe nicht aufrechterhalten lässt, werden in regelmäßigen Abständen Rückfall- bzw. Erosionsbefürchtungen direkt an die Wahlbeteiligung geknüpft.

Dies hat zwei Gründe: Erstens sei die Demokratie, das klingt schon bei Aristoteles an, ein zartes Pflänzchen, das gehegt und gepflegt werden will und dabei trotzdem schon seine eigene Zerstörung systemisch in sich trägt. Zumindest ist Demokratie immer „im Kommen“, wie Derrida schreibt, d.h. sie muss immer wieder neu ausgehandelt und institutionell ausgestaltet werden. Wenn sich aber, so die Befürchtung der einen, zunehmend weniger Bürgerinnen an diesen Aushandlungen beteiligen, verliert Demokratie als Reservoir für Solidarität zwischen Fremden, die als Autoren von Gesetzen ein gemeinsames Projekt gleichberechtigt verwalten, ihre sozialintegrative Wirkung.

Zweitens hängt von der Wahlbeteiligung in gewisser Weise auch die Legitimität einer Wahl selbst ab. Wer wie Trump – und andere Präsidenten vor ihm – nicht von der Mehrheit der Wahlbevölkerung gewählt wurde, dem hängt ein legitimatorischer Makel an. Denn der Verdacht lässt sich nicht mehr beseitigen, dass eine Minderheit von Wahlbürgern über die schweigende Mehrheit entscheidet, die ja möglicherweise eine ganz andere Wahl getroffen hätte. Dann aber wäre nicht mehr jede Stimme bzw. jedes Interesse gleich berücksichtigt, sondern die Stimmen der Minderheit hätten mehr politisches Gewicht als die der Mehrheit.

Gefestigte Demokratie – Rückgang der Wahlbeteiligung?

Die egalitäre Parole des one woman, one vote wird so ausgehebelt. Zusammengefasst lässt sich das bürgerlich-demokratische Paradox vielleicht so überspitzen: Es sollen doch bitteschön alle ihrer Bürgerpflicht nachkommen und gefälligst auch die Richtigen wählen. Und weil ein solches Paradox kognitive Dissonanzen erzeugt, mit denen es sich schlecht lebt, wird es häufig durch ein Narrativ aufgelöst, nach dem diejenigen, die nicht zur Wahl gehen, leider genau die sind, die auch die Richtigen gewählt hätten. Institutionell findet diese doppelte Sorge in wehrhaften Demokratien unter Umständen durch Parteiverbote, in partizipatorischen Modellen teilweise durch eine allgemeine Wahlpflicht Ausdruck.

Aber untergräbt eine mangelnde Wahlbeteiligung wirklich die Legitimität der zur Wahl stehenden politischen Autorität? Nicht unbedingt, so argumentieren die Vertreter*innen der sogenannten „Zufriedenheitsthese“. Denn anders als die in Frankreich beliebte „vote blanc“ ist nicht jedes Fernbleiben der Urne immer schon ein Akt des Protests oder einer tiefen Unzufriedenheit mit den zur Verfügung stehenden Wahloptionen.

Gerade in gefestigten Demokratien sinkt ihnen zufolge die Wahlbeteiligung ganz natürlich in dem Maße, in dem die Zufriedenheit mit den politischen Rahmenbedingungen steigt. Mit der Nichtwahl können Bürger also auch ihre schweigende Übereinstimmung mit einem allgemeinen politischen Fahrplan geben. Politisches Desinteresse ist dieser Vorstellung zufolge eher sogar ein gutes Zeichen: Die Polarisierung einer Gesellschaft nimmt ab, politische Richtungsstreits werden von Detailfragen über die geeignetsten Mittel abgelöst.

Mitmachen, auch wenn man nicht zur Wahl geht

Also alles nicht so wild? Die Antwort ist wie immer: Ja und Nein. Richtig ist, dass nur glühende Vertreter republikanischer Ideale allein aus dem Pflichtbewusstsein des Citoyens zur Wahl gehen. Die meisten Wähler wollen erst einmal mobilisiert werden, sei es über die Wichtigkeit der verhandelten Themen, sei es über eine Dämonisierung des politischen Gegners.

Vor diesem Hintergrund muss Angela Merkels Schachzug, die Ehe für alle aus dem Bundestagwahlkampf herauszunehmen, schon fast als machiavellistisch-genial bezeichnet werden. Denn das Thema besitzt einerseits ein hohes Mobilisierungspotenzial, das sich andererseits aber leicht gegen die CDU und gegen sie selbst hätte wenden können.

Richtig ist weiterhin, dass im Wahlkampf nicht nur Wählermobilisierung betrieben wird, sondern auch die öffentliche Bühne bereitet wird, um die zukünftige Richtung der Politik gesellschaftsweit zu debattieren. Anders als während der Legislaturperiode, in der die Öffentlichkeit zumeist nur reaktiv mit Protesten auf Gesetzesinitiativen und Verwaltungsakte antworten kann, wird hier der nächste Vier- oder Fünf-Jahres-Plan zur allgemeinen Begutachtung ausgebreitet.

Diese deliberative Funktion einer Wahl in ihrem Vorfeld hängt jedoch nur über Umwege mit der Wahlbeteiligung selbst zusammen. Anders gesagt: Als Bürger kann ich mich im Vorfeld der Wahl intensiv mit den gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen, mitdebattieren, -twittern, -bloggen etc., ohne schließlich am Wahltag auch irgendwo ein Kreuz machen zu müssen.

Hürden für Nichtwähler

Richtig ist dagegen aber auch, dass auch in etablierten Demokratien immer noch strukturelle Hürden existieren, die eine Wahlbeteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen erschweren. Darüber hinaus könnten sich mit verschiedenen Instrumenten in den sozialen Medien wie Social Bots und Microtargeting weitere Manipulationsmöglichkeiten ergeben.

Während die Effekte dieser Instrumente für die Beeinflussung der Wahlentscheidung selbst nach wie vor ungewiss sind, zeigen erste Studien, dass sich hierüber die Entscheidung, ob jemand zur Wahl geht oder nicht, vergleichsweise effektiv beeinflussen lässt. Aber auch wenn diese institutionellen Barrieren nahezu vollständig abgebaut werden könnten, bleibt die Nichtwahl problematisch, sofern sie aus einer subjektiven Wahrnehmung
resultiert, im politischen Prozess überhaupt nicht mehr gehört zu werden.

Diese Wahrnehmung kann von einer Desillusionierung über den eigenen Einfluss auf politische Prozesse bis hin zu einem diffusen Gefühl reichen, von dem gemeinsamen ethisch-politischen Projekt ausgeschlossen zu sein. Problematisch macht diese Enttäuschung und gefühlte Exklusion die eingangs genannte Befürchtung der inhärenten Instabilität von Demokratie: Wenn sich die nichtrepräsentierten Wähler nicht mehr als Teil des gemeinsamen Projekts, das über demokratische Verfahren die Teilhabe aller sicherstellt, gerät die Solidarität unter Fremden in Gefahr, die die Grundlage für eine demokratiefreundliche politische Kultur darstellt. Als zartes Pflänzchen bedarf die Demokratie immer einer „entgegenkommenden Lebensform“, wie Jürgen Habermas schreibt.

Plädoyer für Gelassenheit

Was heißt das nun für die Wahlbeteiligung bei der kommenden Bundestagswahl? Zunächst einmal wäre es übereilt, aus einer fehlenden Wählermobilisierung gleich eine Vertrauenskrise der Demokratie zu zimmern. Wenn die Parteien mit den von ihnen gesetzten Wahlkampfthemen niemanden hinter dem Ofen vorlocken und Wähler nicht aus ihrem
wohlwollenden Desinteresse zu reißen imstande sind, ist dies noch nicht per se problematisch.

Gerade das zeichnet ja eine gefestigte Demokratie aus: Die Stabilität der politischen Rahmenbedingungen führt zu einer Demobilisierung vieler Bürgerinnen und Bürger, die nun ihre Prioritäten anders gewichten. Gefestigte Demokratien befinden sich gerade nicht im Dauerzustand der politischen Erregung, sondern können, wie Philipp Pettit schreibt, durchaus eine Weile auf „Autopilot“ fliegen, solange die Möglichkeit der Kontestation jederzeit effektiv gegeben ist.

Auf der anderen Seite darf uns die Tatsache nicht kalt lassen, dass es in vielen westlichen Demokratien einen wachsenden Anteil von Nichtwählern gibt, die sich nicht mehr durch das politische System repräsentiert fühlen. Dass hier auch das Reservoir entsteht, aus dem populistische Strömungen schöpfen, ist dabei sogar noch das kleinere Übel. Denn deren Erstarken führt im Normalfall wiederum zur Mobilisierung der bisher schweigenden Mehrheit und damit zu einer gestiegenen Partizipation. Dabei ist jedoch im Blick zu behalten, dass diese agonale Opposition innerhalb des demokratischen Prozesses nicht zugunsten einer antagonistischen Opposition aufgegeben wird.

Genau letzteres aber bildet die schleichende Gefahr, wenn sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger von der Demokratie selbst abwenden. Wenn das Gefühl dauerhaft verloren geht, dass wir alle mit gleichen Rechten und Pflichten an einem gemeinsamen Projekt Anteil haben, geht mit dieser konkreten Erfahrung auch die für alle pluralistischen Gesellschaften unersetzbare Solidarität zwischen Fremden verloren, und damit letztlich der nicht-essentialistische Kitt postkonventioneller Gesellschaften.

So wünschenswert also eine hohe Wahlbeteiligung aus der Perspektive republikanischer Bürgertugenden sein mag, bedeutet ihr Gegenteil noch nicht den Niedergang der Demokratie. Ebenso gut kann eine sinkende Wahlbeteiligung ein Zeichen für hohes Institutionenvertrauen sein, die wohlwollend-desinteressierte Zustimmung eines weitgehend unaufgeregten Elektorats im Angesicht von lästigen Detailfragen. Angesichts der medialen Tendenz zur Übererregbarkeit plädiere ich daher für ein bisschen Gelassenheit. Gleichzeitig sind dieGründe für das Fernbleiben von der Urne genau im Blick zu behalten. Insgesamt aber erscheinen mir westliche Demokratien keineswegs so zarte Pflänzchen zu sein, dass sie nicht auch Phasen niedriger Wahlbeteiligung überleben könnten.

Anm. d. Red.: Das Foto oben stammt von Krystian Woznicki und steht unter einer Creative Commons Lizenz (cc by nc).

2 Kommentare zu “Unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Zur Rolle des Nicht-Wählens bei der Bundestagswahl 2017

  1. Vielen Dank für den interessanten Text!

    Ich frage mich, ob die Sorge um gesellschaftliche Solidarität tatsächlich nur vor dem Hintergrund einer desintegrierten Wählerschaft berechtigt ist, wie Sie es andeuten, oder ob man nicht vielmehr angesichts des gegenwärtigen Erfolgs populistischer und dezidiert rechter Parteien um den sozialen Frieden fürchten muss, obwohl dieser Erfolg ja gerade nicht als Ausdruck politischer Apathie verstanden werden kann.

  2. Der soziale Frieden ist natürlich ein wichtiger Punkt, hat aber nach meinem Dafürhalten höchstens indirekt mit der Wahlbeteiligung zu tun. Klar, polarisierende Parteien am politischen Rand können zur Spaltung der Gesellschaft beitragen, besonders wenn sie vergleichsweise viel Zulauf erhalten und tendenziell auch noch demokratiefeindlich sind.

    Das führt aber eher zu einer steigenden Wahlbeteiligung aufgrund der Wählermobilisierung. Immer wieder gern herangezogenes Beispiel dafür sind die Reichstagswahlen in den 1920er und 30er Jahren, in denen aufgrund der starken Polarisierung der Gesellschaft die Wahlbeteiligung konstant hoch war und kontinuierlich bis auf fast 90% stieg.

    Zumindest die Korrelation “hohe Wahlbeteiligung = hoher sozialer Frieden” lässt sich nicht aufrechterhalten, eher gilt meiner Meinung nach das Gegenteil. Das war einer der Punkte, die ich zum Ausdruck bringen wollte.

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