Gegen den binären Reduktionismus: Warum wir uns den Raum des öffentlich Sagbaren aneignen müssen

Angesichts des sich etablierenden weltweiten Kriegsregimes ist es dringend geboten, die Normalisierung des Kriegs- und Ausnahmezustands in Frage zu stellen und die Tabus, die diesen Prozess ermöglichen, zu brechen. Das kann nur gelingen, wenn wir uns den Raum des öffentlich Sagbaren wieder aneignen, argumentiert Autor und Diskursanalytiker Jürgen Link in sieben Thesen.

*

„Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.“ (Walter Benjamin 1940)

1. Eigentlich sollte jetzt nur ernst genommen werden, wer im Jahr 1999 gegen den NATO-Krieg gegen Serbien protestiert hat. Aber war da 1999 überhaupt was? In den aktuellen gut hörbaren Stimmen gegen Putins Überfall auf die Ukraine klafft ein seltsames Loch auf der Landkarte Europas. Ein hundertfach wiederholter Satz in diesen Erklärungen lautet: „Erstmals seit 1945 findet ein Krieg mitten in Europa statt“. Serbien und der Kosovo liegen offenbar nicht in Europa, sondern vermutlich irgendwo in der Dritten Welt (in der ja nun viele Kriege mit europäischer Beteiligung stattgefunden haben und weiter stattfinden, was schlecht zu leugnen ist).

Vermutlich herrscht hier ein Verdrängungsmechanismus, der sich gegen ‚das Aufblitzen einer Erinnerung im Augenblick der Gefahr‘, eines aufklärenden Déjà-vu, sträubt und massive Zensur im Sinne Freuds übt. Denn: Gnadenlose Luftschläge gegen Großstädte in Europa, 104 Tage und Nächte oder 15 Wochen lang mit etwa 50.000 Lufteinsätzen, „nur gegen militärische Ziele“, aber mit den unvermeidlichen Kollateralschäden (wurde da nicht eine Brücke bombardiert, über die gerade ein Zug fuhr? Nun ja, Brücken sind militärische Ziele, und vielleicht saßen Soldaten in dem Zug. Das würde wer sagen? Putin?). Ständiges Sirenengeheul, ständig der fürchterliche Explosionslärm in der Nähe einschlagender Bomben und Raketen, Frauen und Kinder, die über 100 Nächte in den Kellern verbringen mussten und (die Kinder) für ihr Leben traumatisiert wurden. Raketen auf Mediengebäude. Tausende auf der Flucht, die, wie die NATO erklärte, von Slobodan Milošević als „menschliche Schutzschirme missbraucht wurden“. Das sagt wer? Das sagt heute Putin.

2. Es ist evident: Putin spricht den Diskurs (im Sinne einer Rede mit Machteffekt, gekoppelt an hochstufige Kriegshandlungen) der NATO, er hat der NATO den Diskurs geklaut. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, diese Tatsache zu beurteilen: Entweder es ist ein guter Diskurs und ein guter Krieg, den Putin schamlos missbraucht – oder dieser Diskurs und dieser Krieg ist schon bei der NATO nicht gut. Karl Kraus hielt den dominant mittels „Luftschlägen“ geführten Krieg, der 1914 begann, für den Beginn der Letzten Tage der Menschheit. Gegen Hitlers Barbarei schien er als letztes Mittel legitim – aber impliziert seine „Normalisierung“ innerhalb der Strategie und Taktik aller Großmächte und insbesondere auch der NATO nicht selbst Barbarei?

So oder so: Putin benutzt bei seinen barbarischen Luftschlägen gegen die Zivilbevölkerung von Großstädten durchgängig den Diskurs der NATO: Es gehe um eine Anti-„Anti-Terroristen-Operation“ und eine „Verhinderung von Genozid“ wie 1999. Die NATO habe aus diesen Gründen damals die (völkerrechtswidrige) Unabhängigkeit des Kosovo militärisch durchgesetzt, er mache das mit dem Donbass usw. Aber ist nicht bei Putin alles noch viel schlimmer als bei der NATO? Hat die NATO mit ihrem 15-wöchigen Luftkrieg nicht Milošević zur Kapitulation gezwungen und damit wenigstens einen Kampf on the ground verhindert? Dieses Argument besagt allerdings nur, dass die NATO technisch Putins Armee weit voraus ist. Folgt aus einem technischen Ranking eine politische Legitimität?

3. Darf man das bisher Gesagte aber überhaupt sagen? Müssen wir nicht jeden Zweifel vermeiden, dass nicht nur das Volk der Ukraine, sondern auch alle, die es unterstützen, und allen voran die NATO, hundert Pro im Recht sind, und dass nur Putin ohne Wenn und Aber rundum verurteilt werden muss? Hat nicht die NATO „keinerlei Fehler gemacht“ (Gregor Gysi)? Wenn dem so ist, dann ist jetzt binärer Reduktionismus nicht bloß gerechtfertigt, sondern geboten.

Was ist binärer Reduktionismus? Es ist ein Verfahren, den Raum der öffentlichen Sagbarkeit dadurch massiv einzuschränken, dass nur 0 oder 1 gesagt werden darf. Populär spricht man von ‚Schwarz-weiß‘, ‚good guys-bad guys‘ oder ‚Einäugigkeit‘. All das meint: es gibt keine differenzierenden Zwischentöne. Entweder Putin (bad guy) oder NATO (good guys) – wer sich nicht ohne Wenn und Aber zur NATO und ihrer (Gegen-)Eskalation bekennt, ist „Putinversteher“ und damit tabu. Schluss mit jeder angeblichen „Schaukelpolitik“ (Heinrich August Winkler). Es ist klar, dass es bisher zwischen 0 und 1 viele Zwischenpositionen geben konnte – die sind jetzt sämtlich zu canceln. Eine Cancel-Culture, die den Raum der öffentlichen Sagbarkeit sehr viel substantieller einschränkt als Gendersternchen.

4. Nun haben unser heute so gutes Europa und besonders unser heute so gutes Deutschland vor nicht allzu langer Zeit ihre Erfahrungen mit dem binären Reduktionismus gemacht, und zwar zuerst bis zum höchsten Grad der Hysterie zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als viel zu wenige wie Karl Kraus den Mut hatten, dagegen zu protestieren. Da wurden bekanntlich millionenfach Postkarten mit der Parole „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos“ verschickt.

Ich fürchte, dass es Leute gibt, die das jetzt lesen und die meinen, es heute zu zitieren, sei noch geschmackloser als die Tatsache selbst. Aber leider gab es damals nicht nur diese geschmacklose Postkarte – es gab vielmehr hunderte große und tausende kleine Intellektuelle und Journalist*innen, die es aufgrund ihres Einflusses schlicht unsagbar machten, Kunst und Wissenschaft des „Feindes“ öffentlich anzuerkennen. Zum Beispiel russische Musik, Literatur und Philosophie und ihre Interpreten.

Und jetzt? Ich sehe große und kleine Medienleute und Manager*innen vor ihren Laptops, wie sie mit Suchmaschinen nach Fotos ‚ihres‘ Russen und ‚ihrer‘ Russin zusammen mit Putin suchen. Treffer! Valery Gergiev, Anna Netrebko, Bolschoi, Dmitry Bertman – oder einfach Schuhe aus Russland: Sofort canceln, sofort aus dem Regal. Jeder Schuss…

Sogar Behindertensportler*innen aus Russland dürfen nicht einmal mehr ohne Nationalflagge an den Paralympics teilnehmen. Und wehe, wenn jemand öffentlich neben ukrainischen auch falsche Opfer beklagt, nicht bloß ukrainische Tote, Verwundete und ihre Mütter, sondern außerdem auch noch (junge) russische Tote und Verwundete und deren Mütter.

5. Ich habe eingangs Putins Krieg gegen die Ukraine mit dem Krieg der NATO gegen Serbien 1999 „verglichen“, wie der mediale (Un)Begriff lautet. Freilich, es geht dabei nicht um einen Vergleich, sondern um eine Analogie. Historische Analogien sind häufig völlig irrelevant und zuweilen geradezu verdummend, niemals ganz treffend, aber manchmal gerade in wichtigen Fällen und „im Augenblick der Gefahr“ aufschlussreich und hilfreich, wie Walter Benjamin angesichts des Todes formulierte.

Historische Analogien zwischen Kriegen verteilen antagonistische Positionen und Rollen an aktuelle Publiken: zur Identifikation als „Wir“ oder zur Gegen-Identifikation mit „Denen“. „WIR GEGEN PUTIN“; wie BILD schlagzeilte. Historische Analogien verleihen solchen Positionen eine historische Tiefendimension, deren diskursive Macht nicht zu unterschätzen ist.

Momentan spielt sich ein regelrechter Diskurskrieg um solche Analogien ab. Der binär reduzierten Sagbarkeitsregelung entspricht die Analogie zwischen Russland vs. Ukraine 2022 mit Deutschland vs. Polen 1939 – also Putin = Hitler und ‚Appeasement-Naivität Chamberlains‘ = angebliche ‚Naivität‘ der Versuche, mit Russland nach dem Kollaps der Sowjetunion einen Interessenausgleich auszuhandeln. Wer das Schiefe dieser Analogie analysiert, läuft ab jetzt Gefahr, unter das Tabu der „Putinversteherei“ zu fallen.

Ich habe dagegen Analogien zu Serbien 1999 und zu 1914 konstatiert, und in der Berliner Gazette noch die Analogie zu Prag 1968 expliziert. Das läuft auf Differenzierung und Pluralität von Aspekten hinaus. Auch bei einzelnen Ereignissen können sich Erinnerungen „unversehens einstellen“, etwa: Die Belagerung von Charkow erinnert in vielen Aspekten an die von Stalingrad. ‚Jetzt bringen Sie aber alles durcheinander‘. Aber gilt letzteres nicht nur für jemand, der binär reduziert denkt?

6. In diesem Text geht es mir sowohl um Analyse als auch um Engagement. Aber nicht nur. Mein Text impliziert gleichzeitig einen Test mit der Leserin und des Lesers: Haben Sie aufgrund des bisher Gesagten einen leisen Verdacht, ich wollte ein ganz kleines bisschen „Putinversteherei“ entschuldigen? Wenn ja, dann hat der binäre Reduktionismus bei Ihnen schon gewirkt: Quod erat demonstrandum. Denn dann sind differenzierende Analysen und Engagements schon verunmöglicht.

Zum Beispiel: Ich habe an anderer Stelle in der Berliner Gazette über die selbstverständliche Forderung nach sofortiger Einstellung der Kriegshandlungen hinaus formuliert: „Das Bild der Frauen in den Kellern, die dort Molotow-Cocktails ‚kochen‘, wird bleiben als Emblem einer Massenresistenz im 21. Jahrhundert.“ Das habe ich aber deutlich unterschieden von einem Ja zum neuen Aufrüstungsprogramm und zu direkter oder indirekter Intervention der NATO in den Krieg. „Unterschieden“?

Das geht gar nicht im eingeschränkten Sagbarkeitsraum des binären Reduktionismus. Zivilgesellschaft unterscheiden von den technischen Monstern staatlicher Profiarmeen? Pazifistische Naivität! Aber noch dies: Gerhard Schröder ist nun Unperson. Er „hat sein Lebenswerk zerstört“, wie die Trompeten des binären Reduktionismus tönen. 1999 hat er als Kanzler die deutsche Beteiligung am NATO-Krieg gegen Serbien geführt, zusammen mit seinem grünen Adlatus Joschka. War das vielleicht der Höhepunkt seines „Lebenswerks“? Dann passt ja alles, was hier gesagt wird, wie die Faust aufs Auge.

7. Abschließend noch ein Punkt zur Normalität und speziell zur „neuen Normalität“ („New Normal“), die sich spätestens seit der Covid-19-Pandemie medienpolitisch geradezu aufdrängt: ‚Ein einfaches Zurück zur alten Normalität kann es nicht geben – die neue Normalität wird vor allem die Klimakrise berücksichtigen müssen. Sie wird disruptiv sein: sowohl was den Lebensstandard wie was die demokratischen Freiheiten betrifft‘.

Nun hat NATO-Chef Jens Stoltenberg den gordischen Knoten durchgehauen wie ein berühmter General vor ihm. Er hat definiert: „Die jetzige Situation ist das New Normal“ (laut Spiegel vom 26.2.2022, Seite 15). Das kann so verstanden werden: Der Kriegs- und Ausnahmezustand, mindestens eine Art Notstand light, ist unser New Normal, was politisch und kulturell den binären Reduktionismus auf Dauer einschließen würde.

Es trifft sich, dass ich mir mithilfe des Begriffs „Normalismus“ seit geraumer Zeit Gedanken über moderne Normalitäten und ihren Verlust gemacht habe. In Studien wie „Versuch über den Normalismus oder Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne“ (2018) habe ich gezeigt, dass moderne Normalitäten auf statistischer Verdatung und Selbsttransparenz moderner Gesellschaften beruhen. Und ich habe untersucht wie Prozesse von Verlust (Denormalisierung) und Wiederherstellung (Normalisierung) von Normalitäten zu analysieren sind.

Dabei taucht eine ‚apokalyptische‘ Grenzsituation auf: das eigentlich undenkbare, definitive „Ende der Normalität“: die irreversible Denormalisierung. Stoltenberg diese Eventualität ins Spiel gebracht, vermutlich unbewusst und ohne zu begreifen, was er da implizierte als er den Kriegs- und Ausnahmezustand zur Normalität erklärte. Wenn dieser Zustand von Dauer sein sollte – wofür derzeit vieles spricht –, dann ‚implodiert‘ der Mechanismus von Verlust und Wiederherstellung, oder: Der Verlust (etwa von Frieden) wird als phantasmatische Wiederherstellung verkauft. Krieg als Frieden.

Mindestens auf zivilgesellschaftlicher, politischer, kultureller und medialer Ebene ist entschiedener Widerstand dagegen noch möglich. Und er ist jetzt angesichts des sich etablierenden weltweiten Kriegsregimes auch dringend notwendig. Zuallererst und ganz konkret können wir gegen die Überwältigung durch den binären Reduktionismus angehen.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.