Sind Zeitungs- und Medienhäuser unweigerlich Teil der Überwachungsindustrie, wenn sie ihr Werbegeschäft digital-vernetzt auf der Basis von User-Daten aufziehen? Der jüngste Strategie-Wechsel des Guardian lädt erneut zu einer Grundsatzdiskussion ein. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki kommentiert.
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Das Geschäft mit dem Wissen über den Kunden ist so alt wie die Werbeindustrie. Seitdem Webservices aus dem Silicon Valley all das in eine neue Dimension katapultiert haben, vergeht kein Tag, an dem sich in den Reihen der alten Platzhirsche nicht eine Stimme erhebt. Eine kritische, kulturpessimistische oder einfach nur anklägerische Stimme, die mehr oder weniger deutlich sagt, dass das Geschäft mit dem Wissen über den Kunden – so wie es die Webservices betreiben – inakzeptabel sei.
Die alten Platzhirsche – gemeint sind die Zeitungshäuser – sind zur zentralen Plattform für den Widerstand gegen die digital vernetzte Werbeindustrie geworden. Die Snowden-Enthüllungen haben diesem Widerstand eine neue Qualität verliehen. Die enthüllte Zusammenarbeit der Webservices mit den US-Geheimdiensten hat zu einem gehörigen Image-Schaden geführt und zu Umsatzeinbußen, die, so die Prognosen, in den kommenden Jahren noch weiter ansteigen werden. Diese Entwicklung bestärkt und befeuert den Widerstand sowie die Kritik der Zeitungshäuser. Gewiss, sie haben einen großen Anteil daran.
Zwischen Diagnose, Propaganda und Innovation
Die Zeitungshäuser bieten den Negativ-Schlagzeilen ihre Titelseiten und sorgen dafür, dass aus der Snowden-Debatte eine Blatt-Linie wird: Anti-Silicon-Valley. In diesem Szenario geht fast schon unter, dass ein Zeitungshaus auch etwas anderes sein kann, als Plattform für eine derartige Spezial-Mischung aus Diagnose und Propaganda. Nämlich ein Ort der Innovation – nicht zuletzt vis á vis der veränderten Werbeindustrie. Das jüngste Beispiel ist der Guardian. Bekanntlich ein Medium, das sich als eines der ersten weltweit einer Internet-first-Kultur verschrieben hat. Hier wurden beispielsweise neue, internet-affine Formate ausprobiert und alle Inhalte offen und kostenfrei online gestellt, um sukzessiv über die gigantische Reichweite Werbe-Einnahmen zu generieren.
Letzteres hat bislang nicht so gut funktioniert. Man schreibt immer noch keine schwarzen Zahlen. Noch immer ist’s ein Online-Expandieren auf Pump. Das soll jetzt anders werden. Unter dem blumigen Titel der “Known-Strategy” will der Guardian zwar daran festhalten, alle Inhalte frei im Internet anzubieten, dafür aber will das Medienhaus den Nutzer seiner frei zugänglichen Inhalte besser kennenlernen. Im Klartext heißt das: Keine Paywall! Also: keine Registrierung wie bei der Paywall (die nicht zuletzt dazu dient, Kundenprofile zu generieren). Aber eben doch eine Art Registrierung und Aufnahme der Leser in der Kundendatenbank. Nicht unter der Paywall-Flagge, sondern unter der “Open-Flagge”.
Hier geht es um verschiedene Dinge. Erstens ganz allgemein darum, mit welcher Strategie im Internet Geld verdient werden kann. Zweitens darum, wie man bei einem Strategiewechsel angestammte Kunden und eine globale Community bei der Stange halten kann. Drittens, und das ist in der aktuellen Snowden-Debatte vielleicht das Wichtigste, wie man den Idealen eines offenen Internet treu bleiben kann und gleichzeitig das Vertrauen aller beteiligten Akteure aufrechterhalten oder doch zumindest neu gewinnen kann.
Experiment oder Imagewäsche?
Der Guardian hat wie kaum ein anderes Medium dazu beigetragen, dass aus den Snowden-Enthüllungen eine internationale Debatte um die aktuellen Ausmaße und Gefahren von Überwachung wird. Nun kann der Guardian zu einem Ort werden, an dem eine zukunftsweisende Daten-Ethik formuliert wird. Wie sollten systematische Datensammler mit Daten in ethischer und rechtlicher Hinsicht umgehen? Wie können Geschäftsmodelle um das Datensammeln herum entstehen, die einerseits den Kunden ausreichend Schutz bieten und andererseits die Offenheit des Netzes nicht missbrauchen? Kurz: Wie kann systematisches Datensammeln die Mechanismen der Überwachungsindustrie unterlaufen?
Vielleicht wird das Guardian-Experiment zum Ergebnis haben, dass die Antworten auf all diese Fragen mehr oder weniger lauten: Zeitungs- und Medienhäuser, egal ob sie nun Guardian heißen oder nicht, sind unweigerlich Teil der Überwachungsindustrie, wenn sie ihr Werbegeschäft digital-vernetzt auf der Basis von User-Daten aufziehen. Doch bevor das Experiment nicht durchgeführt ist, sollte es keine voreiligen Schlüsse geben. Stattdessen sollte man genau darauf achten, was der Guardian in Folge tut. Und wie er es tut.
Die “Known-Strategy” sollte eine Daten-Ethik zu den Bedingungen der Post-Snowden-Welt entwickeln. Sonst muss sie als gescheitert gelten. Und die “Open-Flagge” (in Abgrenzung zur Paywall-Flagge) geht als schnöde Imagewäsche in die Geschichte ein.
Anm.d.Red.: Lesen Sie dazu auch zwei Texte von Krystian Woznicki, in denen der Autor aus anderen Anlässen fordert, die Zeitungshäuser müssten eine Daten-Ethik entwickeln: Totale Transparenz und Wer weiß über uns Bescheid? Und wer zahlt dafür? Diskussionen zu diesem Themenkomplex haben auch bei dem Berliner Gazette-Projekt WHATEVER HAPPENED TO JOURNALISM stattgefunden. Hier eine Dokumentation. Die Fotos stammen von Mario Sixtus und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.
Ein Kommentar zu “Unter der ‘Open-Flagge’ durch die Post-Snowden- Welt: Werbung, Daten-Ethik und der Fall Guardian”