Der Streit um die Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz in Berlin ist ein Politikum von großer Tragweite: Ein sehr gut besuchtes Theater mit einem künstlerisch hochwertigen Programm soll auf Geheiß der Politik von Grund auf umgemodelt werden. Wie kann das sein? Die Soziologin und Berliner Gazette-Autorin Tanja Bogusz kommentiert.
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Als der Berliner Senat 1991 ein Gutachten zur Lage der Berliner Theater nach dem Mauerfall in Auftrag gab, konnte die Ausgangslage zu einer Neubestimmung der Volksbühne im Vergleich zu heute unterschiedlicher nicht sein.
West- und Ostberlin waren gerade vereinigt, es gab insgesamt zwanzig staatlich subventionierte Häuser und eine heruntergewirtschaftete Stadt kurz vor der Pleite. Der Friedrichstadtpalast drohte, geschlossen zu werden, es war klar, dass nicht alle Theater die neuen Anforderungen ästhetisch und finanziell überleben würden.
Ivan Nagel, Friedrich Dieckmann, Michael Merschmeier und Henning Rischbieter wollten der jungen Castorf-Truppe eine Chance geben, weil sie davon ausgingen, dass es gerade ihr gelingen würde, “die sozialen, kulturellen Schocks und Wirrnisse unserer Lage gerade in Berlin umzusetzen – in einem neuen, erhellenden und verstörenden Blick des Theaters.”
“Die Truppe der Volksbühne Ost würde ungefähr soviel Geld brauchen, wie die Volksbühne West zuletzt bekam, vielleicht weniger im ersten und zweiten Jahr. Bis zum Beginn des dritten Jahres könnte sie entweder berühmt oder tot sein; in beiden Fällen wäre die weitere Subventionierung unproblematisch.”
Das Volk soll mitentscheiden
Castorf bemerkte in einem Interview 1995 – d.h. im dritten Jahr seiner Intendanzübernahme –, dass ihm dieser “Nordamerikanische Zynismus” gut zupass kommt. “Berühmt oder Tod,” fand er, sei “einfach die Fragestellung der Zeit. Man muss kämpfen um sein Daseinsrecht. Wenn ich sage, dann lieber ein Schwimmbad aus der Volksbühne machen, das meine ich auch. Wenn man nicht gebraucht wird, wenn man nicht gemocht wird, warum soll man sich aufdrängen.”
Hier kamen verschiedene Elemente zusammen: Einerseits ein staatssozialistisches Professionsethos, das Kunst immer auch als “Dienst am Volke” verstand. Andererseits – und hier verschmilzt diese Haltung mit dem materiellen Reproduktionsdruck, den es in der DDR so nicht gab – ging es hier nicht um ästhetische Verwaltung, sondern um Kapitalismus-typisches Abenteurertum, das die Besetzung eines unbekannten politischen Raumes in Aussicht stellte, gepaart mit dem letztlich demokratischen Anspruch, demzufolge das Volk mitentscheiden soll, ob der an ihm geleistete Dienst gewollt wird.
Nach dem Ende der DDR stand die dort etablierte Kulturproduktion zur Disposition. Würde die Kunst ostdeutscher Provenienz, wie alles andere, was aus der DDR kam, früher oder später mit ihr untergehen? Kann diese Kunst, die sich gerade aus einer spezifischen inner-staatssozialistischen Kritik am Staatssozialismus entwickelt hatte, einen interessanten Kommentar zum allerorts ratifizierten weltweiten Utopieverlust abgeben? Und würde es ein west- und ostdeutsches Publikum geben, das bereit wäre, den Tanz auf der damals allseitig spürbaren ‘Mauer in den Köpfen’ mitzutanzen?
Alles richtig, alles falsch
Die Entscheidung, dieser Truppe in diesem knirschenden Ostberlin einen anarchischen, doch nicht ziellosen Ort des Experimentierens zu geben, wurde von Beteiligten aus Ost und West getroffen. Die Volksbühne wurde durch sie und die Fusion von ost-und westdeutschen Künstlern zu einem öffentlichen Laboratorium agnostischer Spielfreude, das tatsächlich hätte scheitern können. Dass die Öffentlichkeit danach dürstete, zeigte ihr durchschlagender Erfolg.
Darin unterscheidet sich die heutige Situation wohl am radikalsten von der 1992 und macht beide im Prinzip unvergleichbar: Die Volksbühne kann heute nicht mehr scheitern; ihr Erfolg ist allzu mächtig. Worin besteht aber dann die Chance in diesem Neubeginn?
Carl Hegemann hat in der Der Freitag über den neuen Intendanten Chris Dercon geschrieben, dass er viele gute Eigenschaften in sich versammele. Der Fehler, den Dercon mache, besteht nur darin, dass er alles richtig machen will. Dercons Haltung ist angesichts des Castorf-treuen und gegen Neuerungen hochgradig renitenten Volksbühnen-Publikums menschlich nachvollziehbar. Er bedient den Diskurs der Zeit, indem er die Quadratur des Kreises verspricht: Kontinuität und Neuerung.
Solche Versprechen wären in der Situation 1992 nur auf Unverständnis gestoßen und man kann an der unterschiedlichen Haltung der je neuen Intendanten gut ablesen, was in den letzten zwanzig Jahren in Berlin und in der Welt passiert ist.
Für wen will dieses Theater da sein?
Berlin ist heute Teil der internationalen kulturellen Metropolen geworden, der Zuzug aus dem In- und Ausland reißt nicht ab. Seit 2009 sind die Mieten um durchschnittlich 47 Prozent gestiegen. Die Berliner, die sich die Innenstadtbezirke nicht mehr leisten können, werden an den Rand gedrängt, Investoren konkurrieren um die besten Standorte und viele ausländische Gäste, vor allem Künstlerinnen und Künstler, die hier ihr Glück suchen, sind einem unglaublichen Konkurrenzdruck ausgesetzt.
Berlin hat seinen rauhen Charakter vielerorts zugunsten einer Puppenhäuschen-Architektur verloren, die gelegentlich mit einem dümmlichen Geschichtsrevisionismus einhergeht – der Abriss des Palastes der Republik für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses ist dafür das sprechendste Beispiel.
Vor diesem Hintergrund ist die Neubesetzung der Volksbühne ein Politikum von großer Tragweite. Und die große Frage ist: Für wen will sie da sein? Wird sie weiterhin die günstigen Arbeitslosentickets beibehalten und dafür sorgen, dass sie nicht nur von prekär lebenden Kulturproduzenten, sondern auch von Menschen mit weniger kulturellem Kapital gekauft werden?
Will sie vor allem eine immer spezifischer werdende künstlerische Weltelite bedienen, oder in den Berliner Stadtraum auch mit weniger eloquent auftretenden Berlinerinnen und Berlinern intervenieren? Oder will sie zu einem internationalen Ghetto hochdotierter Kunstproduzenten werden, deren Produkte nur noch versteht, wer mindestens einen Bachelor in den Kulturwissenschaften hat?
Werden die Ko-Produktionen mit dem Osten, vor allem mit Russland, aber auch den von Krieg und Verteibung geplagten Nahen und Fernen Osten in Krisenzeiten weitergeführt – jetzt erst recht? Und wird die “kritische Funktion” von Theater weiterhin – oder endlich wieder neu – auf Auseinandersetzungen gelenkt, die ähnlich unbequem sind, wie es in den 1990er Jahren war, ein Stück mit Neonazis aufzuführen?
Wie wäre es mit einem Michael Kühnen reloaded in dem Sinne, dass man gleichsam wie Schlingenief auch den IS als eine Form von Kapitalismuskritik liest, die uns nicht schmecken mag, die aber auf ein reales Scheitern verweist: Das Scheitern der linken Kritik in Zeiten der Globalisierung?
Man kann die deutsch-deutsche Spannung, die von der Volksbühne so fulminant in Szene gesetzt wurde, nicht ins neue Jahrtausend retten. Aber die weltweiten Kriege und Konflikte sind, wie die Flüchtlingsbewegungen und die Anschläge zuletzt in Paris zeigten, ebenso bei uns angekommen wie das digitale globale Adressbuch von Kunstschaffenden. Die Frage ist, wie das Eine mit dem anderen zusammengeht. Diese Frage kann man sich stellen, wenn man ein Haus wie die Volksbühne beerbt.
Das Problem des Erfolgs im Kapitalismus
Meine Vermutung ist aber, dass die Volksbühne nicht mehr der Ort sein wird, an dem solche Fragen verhandelt werden. Das ist nicht Dercons Schuld, sondern das Problem des Erfolgs im Kapitalismus. Innovationen kommen deshalb hier fast immer von denjenigen, denen man den Erfolg am wenigsten zutraut.
Vorgestern habe ich im Haus der Berliner Festspiele zum zweiten Mal eine Aufführung der Hamburger Performancegruppe Hajusom gesehen. Hier spielen seit nunmehr über fünfzehn Jahren in wechselnden Besetzungen Jugendliche aus aller Welt, die häufig auf schwierigsten Wegen hierher gekommen sind, transnationales Theater.
Es bewegt und berührt, indem es uns die lokale Begrenztheit unserer Berliner Dasein vor Augen führt und die Irrelevanz kurzlebiger Theaterskandale, in denen weiße Männer aus dem Westen die Hauptrolle spielen. Verpassen Sie nicht die nächste Aufführung! Und wem das alles nichts ist, sei eines der vielen schönen Berliner Schwimmbäder empfohlen – solange sie noch vorhanden und bezahlbar sind.
Anm.d.Red.: Wie kann es sein, dass ein sehr gut besuchtes Theater mit einem künstlerisch hochwertigen Programm auf Geheiß der Politik von Grund auf umgemodellt werden soll? Was für ökonomische und ideologische Dynamiken stehen dahinter? Was steht für die Stadt und die Kultur auf dem Spiel? Mit diesen Fragen lädt die Berliner Gazette zu einer kulturpolitischen Debatte ein. Die Soziologin Tanja Bogusz, die an dieser Stelle zu Wort kommt, ist Professorin an der Humboldt Universität zu Berlin und Autorin der Studie Institution und Utopie: Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne. Alle Fotos im Text zeigen Szenen aus der die mann, einem Herbert Fritsch-Stück an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz; Copyright Startfoto: Thomas Aurin; Copyright Foto 2, 3 und 4: Nane Diehl.
Aber ist es nicht Teil der Idee des Kapitalismus, sich immer wieder neu zu erfinden? In diesem Sinne könnten Innovationen an der Volksbühne doch noch stattfinden, oder?
@Gergana: Die Idee des Kapitalismus ist auch, dass man zerstören muss, um etwas Neues zu schaffen. Aber was auch immer zum Teufel da dran ist, es geht doch in dieser Debatte nicht wirklich um Ideen von Kapitalismus, sondern wie Kapitalismus funktioniert, welchen Raum Kapitalismus für Kunst, Theater und das Volk lässt? “Innovationen” können im Kapitalismus stattfinden, nur die Fragen ist doch, zu welchen Bedingungen? wessen Interessen da zum Tragen kommen? etc.
Kresnik, Schlingensief, Castorf, alle drei: Berserker des Kunstbetriebes und Helden der “Bühne des Volkes”. Störenfriede im System. Wen wundert, wenn das System sie, die Volksbühne nun zu zähmen versucht. Es wird gelingen, keine Frage. Und ein Schwimmbad wird bleiben. Auch eine Bühne des Volkes, klar. Dekadenz hat ihren Preis. Die Rechnung wird uns präsentiert werden. Geschichte wiederholt sich halt doch!