Wir sind es gewohnt in einer Masse von Menschen zu leben und aufzugehen. Doch dieser ‘Naturzustand’ ist ein Politikum, schließlich ist die Masse das Produkt eines komplexen Herstellungsprozesses. Wie sich die Masse formiert und welche Rolle Medien dabei spielen, darüber denkt die Kulturwissenschaftlerin und Berliner Gazette-Autorin Mercedes Bunz nach. Ein Essay.
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Am Ursprungsort der Demokratie in Athen fanden Altertumsforscher einen Haufen zerbrochener Tonscheiben und kleine farbige Steine. Wie sie rekonstruieren konnten, wurden mithilfe dieser Steine in der Volksversammlung, der ekklesia, demokratische Entscheidungen getroffen. Um die unübersichtliche Willensartikulation der Athener zu erfassen – mindestens 6000 Vollbürger mussten sich beteiligen, damit die Abstimmung gültig war –, benötigte man Hilfsmittel. Von Beginn an haben also in der Demokratie Kommunikation und, in einem weiten Sinne, Technologie eine entscheidende Rolle gespielt.
Ihr Einfluss hat sich mit der Entstehung moderner Massenmedien bekanntermaßen verändert und noch weiter verstärkt. Nachdem uns die Zeitungen zunächst in Nationen aus informierten Lesern verwandelten, wurde später angesichts des Fernsehens, in dem wahlentscheidende Debatten stattfanden, der Begriff der Mediendemokratie geprägt. Heute schicken sich die digitalen Medien an, die Demokratie erneut zu verändern. Untersuchen wir also, wie das genau geschieht.
Von Mali bis nach Norwegen
Dass die Digitalisierung einen erheblichen Einfluss auf die Politik hat, lässt sich nicht zuletzt am Erfolg der Piratenpartei erkennen, die in Deutschland seit 2006 registriert ist und bei der Bundestagswahl 2009 mit einem Wahlergebnis von zwei Prozent ins Licht einer breiteren Öffentlichkeit trat. Dank der Piraten werden digitale Themen sowie neue, direktere Formen der Beteiligung und Willensbildung auf die Agenda gesetzt. Ganz im Sinne ihres Wahlspruchs “Freier Zugang und Wissen für alle” praktizieren die Mitglieder der Partei basisdemokratische Politik.
Die Veränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, sind allerdings wesentlich tiefgreifender als der Medienrummel um die Piratenpartei. Beispielsweise müssen Regierungen heute nicht mehr, anders als noch in den Zeiten des Printjournalismus, die Presse konsultieren, um mit der Öffentlichkeit zu interagieren. Im analogen Zeitalter holten Reporter die öffentliche Meinung mühsam auf der Straße ein und fassten sie in einem Bericht zusammen. Nun können die Politiker die Öffentlichkeit über das Internet einfach selbst befragen. Ein inzwischen historisches Beispiel, das aber nach wie vor aktuell ist: Im März 2010 schaltete das US-Außenministerium die Webseite Opinion Space online.
Dort können die Nutzer direkt ihre Meinung zu wichtigen politischen Fragen kundtun. Die ersten Fragen, auf die das Ministerium eine Antwort haben wollte, lauteten: “Wenn Sie die Außenministerin Hillary Clinton treffen würden, welches Thema würden Sie ansprechen? Warum ist Ihnen dieses Thema besonders wichtig? Wie würden Sie mit diesem Problem umgehen?” Über 4000 Nutzer aus der ganzen Welt – von Mali bis nach Norwegen – begannen, auf der Webseite des Ministeriums zu debattieren – nur wurden nun keine Steinchen mehr verwendet, um die Beiträge zu erfassen, sondern Algorithmen. Diskutiert wurden unter anderem der Klimawandel, der Einfluss Chinas, die amerikanische Visa-Politik (gegenüber Menschen aus dem Iran), Bildungschancen für Frauen sowie der Nahostkonflikt.
“Staatskunst des 21. Jahrhunderts”
Die Plattform, die Hillary Clinton emphatisch als ein Instrument für die “Staatskunst des 21. Jahrhunderts” pries, wurde vom Medienzentrum der University of California entwickelt. Interessant ist, dass sie politische Meinungen nicht nur abbildet, sondern auch mitgestaltet. Um unvermittelbare Gegensätze aufzuweichen, werden die Standpunkte nicht einfach anhand vorgegebener Antwortmöglichkeiten abgefragt. Anstatt bipolar Zustimmung zu oder Ablehnung von etwas festzustellen, bedient man sich eines grafischen Schiebereglers, der Grauzonen und damit neue Komplexität zulässt.
Im Gegensatz zum industriellen Zeitalter, als die politische Landschaft – vom Parlament über die Parteien bis zur Presse – strikt nach links und rechts geordnet war, setzt man bei Opinion Space nicht auf Opposition, sondern darauf, die Nutzer zum Diskutieren anzuregen. Das interessante Experiment blieb allerdings nicht viel mehr als ein Test. Obwohl es fester Bestandteil der Webseite des State Departments war, hat es niemals genug Nutzer gewinnen können, um wirklich relevant zu werden. Das mag auch daran gelegen haben, dass das Projekt nur vorübergehend ernsthaft verfolgt wurde.
Zwar hatte Hillary Clinton es zunächst mit hehren Worten gelobt, doch schon kurz darauf wurde der Besucher mit vielen technischen Problemen alleingelassen. Nichtsdestotrotz ist die Idee beispielgebend. Wie wir weiter unten sehen werden, wird die New York Times kurze Zeit später ein ähnliches System entwerfen. Es zeichnet sich deutlich ab: Die Öffentlichkeit verändert sich und technische Möglichkeiten, Design sowie Politik greifen dabei ineinander, denn Algorithmen verändern die Kommunikation zwischen Politik und Bevölkerung. Sie schaffen neue Möglichkeiten und erlauben es, die Meinungen der Masse differenzierter darzustellen. Die technische Komponente der Kommunikation ist folglich nicht politisch neutral. Das Medium übermittelt nicht einfach nur Inhalte.
Durch Gesetze und Zensurvorschriften geformt
Es ist, anders als der einflussreiche Medientheoretiker Marshall McLuhan einmal bemerkt hat, zwar nicht die ganze Message, wohl aber gibt es den Rahmen der Botschaften und Standpunkte vor, die möglich sind. Und mit der Digitalisierung entwickelt sich nun ein neuer Rahmen: Sie ermöglicht eine vielschichtigere Herstellung sowie Darstellung der Massen. Ein wenig salopp könnte man sagen, dass die Technologie bei der politischen Organisation ihre Finger im Spiel hat.
Für das kritische Denken hat das umgehend Konsequenzen: Das technische Setting, das uns zur Verfügung steht, prägt immer auch, welche Gesellschaftsformationen möglich sind. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der technischen Struktur eines Mediums und der sie umgebenden Gesellschaftsformation drängt sich uns daher geradezu auf. Das war nicht immer so: Als der Philosoph Jürgen Habermas seine berühmte Habilitation über den Strukturwandel der Öffentlichkeit schrieb, untersuchte er noch vor allem, wie die versammelte Leserschaft durch Gesetze und Zensurvorschriften geformt und durch Erlasse kontrolliert wird. Die technischen Voraussetzungen dieser Öffentlichkeit, die Verbesserung und Beschleunigung der Druckerpresse, spielen hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Heute sind die Leser dagegen Teil einer Masse, die dabei ist, sich mithilfe digitaler Medien neue Möglichkeiten zu erschließen.
Sowohl die Struktur als auch die Zusammensetzung dieser Masse hat sich nachhaltig verändert: Zum Zeitpunkt seines Börsengangs im Jahr 2012 hatte Facebook laut eigenen Angaben etwa 845 Millionen Nutzer – metaphorisch gesprochen war Facebook damit “eines der größten Länder der Welt”. Allerdings sind diese Mitglieder nicht alle miteinander verbunden – ihre Staatsbürgerschaft fußt auf einem viel unverbindlicheren Kriterium: Sie bevölkern lediglich dieselbe Plattform. Wenn wir hier den Kategorien des Soziologen Ferdinand Tönnies folgen und Gesellschaft als etwas beschreiben, das im Unterschied zur Gemeinschaft die Menschen nur lose miteinander verbindet, dann können wir mit Facebook im Speziellen und im Internet im Allgemeinen das Entstehen einer neuen, losen Gesellschaft beobachten.
“Zeitung für jedermann”
Dass Menschen sich durch Technik in neue Verbindungen einfügen, ist in der Geschichte nichts Neues. Facebook ist nicht das erste Land ohne Territorium. Schon Zeitungen produzierten eine Menschenmasse, die sich nicht an einem Ort versammeln musste, wie es der Schriftsteller Elias Canetti in seiner Studie Masse und Macht so wunderbar festhielt. Eine neue, dampfgetriebene Druckerpresse ermöglichte es der Londoner Times als erster Zeitung, ein großes, verstreutes Publikum schnell auf einen gemeinsamen Stand zu bringen. Technisch weltweit Vorreiter der Branche, hatte ihr Verleger John Walters II. zwei Doppelzylindermaschinen gekauft, mit denen dann am 29. November 1814 erstmals die Morgenausgabe produziert wurde.
Ihr Entwickler, der Deutsche Friedrich König, kombinierte Dampfkraft und Zylinderdrucktechnik, so dass nun ein schnelleres und effizienteres Verfahren zur Verfügung stand, mit dem über 1100 Exemplare pro Stunde produziert werden konnten. Das führte auch zu einer neuen Qualität der Nachrichten: Mit der Schnellpresse wurde aus der Neuigkeit eine allgemeine Faktenlage. Zuvor hatten sich die Menschen in Gesprächen mitgeteilt, was sie glaubten; in dem Moment, in dem die Zeitung zum Massenmedium wurde, mussten sich die zu einer virtuellen Masse versammelten Zeitungsleser nicht länger persönlich kennen. Vielmehr lasen sie nun zeitnah dasselbe.
Während also die Arbeitsbedingungen der Industrialisierung die Familien auseinanderrissen, verbanden die dampfgetriebenen Druckmaschinen die Menschen nun auf diesem Weg massenhaft miteinander, und zwar mit steigenden Auflagen in immer größerer Zahl. 1817 verkaufte die Times täglich noch 7000 Exemplare, bald lag die Auflage bei 60 000, nicht zuletzt weil Zeitungen in England nach der Abschaffung der sogenannten “Stempelsteuer” im Jahr 1855 für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich wurden. Die Blätter gehörten jetzt nicht mehr in die Kategorie “offizielles Schriftstück der Regierung” und mussten deshalb nicht länger mit einer teuren Steuer-Briefmarke versehen werden.
Um 1870 erreichte der Daily Telegraph dann gar eine Druckauflage von 200 000 und konnte damit für sich in Anspruch nehmen, die weltweit größte Zeitung zu sein. Ende des 19. Jahrhunderts verlor er diese Spitzenstellung an die Daily Mail, als diese mit ihrem neuen redaktionellen Konzept der “Zeitung für jedermann” die Kioske überschwemmte und von ihrer Erstausgabe nicht weniger als 397 215 Exemplare verkaufte. Masse und Massenmedium hatten sich endlich getroffen.
Anm.d.Red.: Der Text liegt in gedruckter Form in dem Buch “Die stille Revolution” vor, erschienen im Suhrkamp Verlag. Die Fotos oben stammen von striatic und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.
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