Ich gehöre wahrscheinlich einem der letzten Jahrgänge an, in denen noch geprügelt wurde. Da gab es Ohrfeigen, die mich über die Bank geschmissen haben. Es gab auch “zündelnde” Mathelehrer, die mir mit dem Feuerzeug die Haare angebrannt haben. Spuren hinterlassen hat bei mir auch ein Erlebnis mit einem türkischen Jungen, der nicht in die Schule kam.
Der Lehrer schickte mich während des Unterrichts zu ihm nach Hause; ich sollte ihn abzuholen. Ich hatte das Haus noch nicht betreten, da konnte ich das Schlagen und Schreien des Vaters von draußen durch die Türe hören. Dann nahm ich den Jungen mit in die Schule; dort wurde er sofort vor der ganzen Klasse mit einer Rute diszipliniert. Sein ganzer Rücken war rot, blutig und vernarbt. Ich hasste die Schule und dieses Prügeltheater, das an der Tagesordnung stand. Das war Bludenz, Vorarlberg in den 1960er Jahren.
Alle Schulen, die ich besucht habe, waren so. Da die Eltern auch nichts besseres im Kopf hatten als zu schlagen, waren die immer auf der Seite der Lehrer. Es wurde erst in der Mittelschule (ab meinem 14. Lebensjahr) etwas besser, wobei auch da noch autoritäre Spiele zum Schulalltag gehörten.
An der Machtsucht rütteln
Bildung und Erziehung sind sehr institutionelle Begriffe, mit denen ich mich nicht identifizieren möchte, weil ich mich trotz meiner universitären Ausbildungen (insgesamt fast zehn Jahre Studium und mehrere Abschlüsse), als Autodidakt verstehe.
Es ging bei mir nie um Bildung oder Erziehung. Beides ist mir viel zu bildungsbürgerlich konnotiert und erinnert mich eigentlich nur an jene Eltern, die in die Schule kamen und sich beklagten, dass ihre Jungs neben mir säßen und seither nicht mehr Klavier spielen oder lernen wollten und schlechtes Vokabular verwendeten.
Es ging und geht mir eher um Wissen und die mit dem Wissen zusammenhängende soziale und politisch-ökonomische Machtsucht. An dieser Machtsucht gilt es zu rütteln. Wenn ich Fremdsprachen lernte, dann war das, um mich in fremden Ländern zurechtzufinden oder um Bücher lesen zu können. Wenn ich mich für Philosophie, die Frankfurter Schule, Psychoanalyse, Kafka oder Foucault interessierte, dann war das um überleben zu können.
Nebenprodukt: lernen
Irgendwann bin ich dazu gekommen, das ganze System, das Wissen ermöglicht, produziert, in Umlauf bringt und verkauft, selber zu beobachten, was nun Teil meiner künstlerischen Arbeit ist. Mehr noch: Die Basis vieler meiner künstlerischen Projekte ist das Lernen selbst. Ob es sich nun um Leseseminare, Fremdsprachenlernen oder Oral History-Projekte mit Holocaust-Überlebenden handelt – das wichtigste Nebenprodukt für mich selbst ist, dass ich etwas lerne.
Ich gehe sehr, sehr gerne zu Vorträgen und Uni-Veranstaltungen, wenn sie mich persönlich interessieren – und dann dokumentiere ich alles mit meinem Fotoapparat, sofern die Umstände es mir erlauben. Ich habe zum Beispiel Edward Saids Seminar Representations of the Intellectual an der Columbia University ein Semester lang besucht. Es waren nur 16 Teilnehmer zugelassen und ich war einer der Glücklichen.
Unvergesslich sind für mich immer jene Präsentationen geblieben, bei denen es den Leuten wirklich um etwas geht. Etwa Stuart Halls Vortrag über “Ethnicity, Nation and Race at the Millennium” in London – unmittelbar nach ein paar rassistisch motivierten Morden in England.
Das Ready-made-Konzept stressen
Ob ich mich selber durch mein zur Schau gestelltes Lernen zum Kunstobjekt mache, weiß ich nicht. Es hat natürlich einen performativen Charakter, wenn ich als Protagonist – als lernende Person – auftrete. Aber es ist nicht so, dass ich mich wie Gilbert & George auf einen Sockel stelle und mich begaffen lasse.
Meist lerne ich in einem dem Publikum entzogenen Rahmen, weil das der Sache – dem Lernen – angemessener ist. Dass es davon bewegte und unbewegte Bilder gibt, ist wiederum etwas anderes. Es geht mir bei diesen Arbeiten darum, das Ready-made-Konzept zu stressen und mit Kontexten zu spielen, damit sie anstiftend neu ins Gerede kommen.
Ich lerne was und es entstehen für die Kunst recycelbare Abfallprodukte, die sich nach 20 oder 30 Jahren vielleicht wirklich verkaufen und sammeln lassen. Dazu kommt, dass die wichtige Frage “warum ist das Kunst” wieder neu gestellt wird und man nicht zuletzt das Problem “Lernen” abklopft – wie es hier auch durch dieses Protokoll geschieht.
Bei uns auf dem Lande wurde auch geprügelt, aber nur zu Hause. Die Lehrer waren gottseidank weiter.
Lieber Rainer Ganahl, vielen Dank für diesen Beitrag! Was Du erfahren hast und wie Du es künstlerisch verarbeitest, erinnert mich stark an Michael Hanekes Kindergeschichte Das weiße Band. Natürlich geht ihr beiden künstlerisch andere Wege, aber die unerschrockene Haltung den Terror beim Namen zu nennen und doch gleichzeitig auch ihn selbst sprechen zu lassen, das habt ihr gemeinsam!
ich bin auch ganz begeistert, aber auch ein wenig “verstört”, meine Kindheit sah ganz anders aus, zum Glück wurde ich nie geschlagen. Interessant wie Du damit umgehst.
Ich habe den Verdacht, hier wird so getan, als sei das alles ein Ding der Vergangenheit, so als gäbe es das alles nicht mehr. Dabei leben wir doch in Zeiten, in denen ständig von schwerstem Missbrauch die Rede ist an Schulen, Internaten und anderen Institutionen der Bildung und Erziehung. Sind diese Nachrichten denn komplett an Euch vorbeigegangen?
@ zk: Ich hab die Nachrichten von den Misshandlungen schon mitbekommen, danke der Nachfrage.
Interessanter Ansatz Kunst zu machen! Wenn Sie sagen, es gehe auch darum, die Frage aufzuwerfen, was überhaupt Kunst ist, so stellt sich mir zudem die Frage: wie kann sowas ausgestellt werden? so ein Lernen als Kunstwerk?
Ich bin selbst Pädagoge und habe sehr oft mit Kindern zu tun, die von Eltern misshandelt werden. Es ist ein sehr schwieriges, sehr komplexes Thema. Ich bin froh, dass du es einfach aussprichst, wie es war, ohne Umschweife, ohne zu lamentieren. Man muss es so machen wie du: Einen Weg finden, das Ganze zu verarbeiten. Wie wichtig ist für dich in deiner Kunst, das LERNEN als einen solchen Verarbeitungspozess darzustellen? Hast du auch Projekte, die sich konkret mit der Infragestellung von Autoritäten auseinandersetzen? Viele Grüße
Habe als Bub auch noch Ausläufer dieser Gewalt zu spüren bekommen, nicht mehr den vollen Zorn des 19. Jhdts, da ich ein paar Wochen jünger bin als du, aber doch noch Lehrer, die mit gebremstem Schaum zähneknischernd straften, durch Ohrenziehen, Stockschläge auf Fingerspitzen und Schlüssel ins Gesicht werfen, Ohrfeigen, Tritte! Diese wurden dann bei gröberen Ausfällen ein paar Tage aus dem Verkehr gezogen, auf Contenance getrimmt und traten dann notdürftig weichgespült wieder ihren Dienst an. Tickende, cholerische Zeitbomben. Danach ging man zum Zeitgemäßeren Psychoterror über, das hinterließ wenigstens keine Hämatome!
buahr, das sind ja alles gruselgeschichten. ich bin waldorfschüler, da gab es keine prügel!
Da fragt man sich nur, warum frühere Jahrhunderte große Erfinder, Unternehnmer und Künstler hervorbrachten und heute zweidimensionale Lebewesen durch die Gegend schleichen.
Ich kann mich weder an Prügel daheim, noch in der Schule erinnern (ein paar Backpfeifen und Kopfnüsse mögen schon dabeigewesen sein), das Mobben durch Lehrer allerdings gabs damals schon und diese Herrschaften fassen zwar heute kein Kind mehr an (hoffentlich), aber ihre Methoden sind viel subtiler und fieser geworden, mal abgesehen von der geistigen und optischen Verwahrlosung dieser Leute.
Vielleicht hatten unsere Lehrer schon aufgrund ihrer Optik mehr Respekt bei uns, die waren noch wie Menschen gekleidet und sahen auch meist so aus.
@westphal: aha, interessant…sie wurden also zu einem sehr differenziert denkenden menschen ohne vorurteile geprügelt, ähhh erzogen, wie mir dünkt! chapeau!