Einstürzende Schulbauten

Als wenig disziplinierter, autoritätskritisch eingestellter Schüler eines Mannheimer Gymnasiums hatte ich seit der Mittelstufe ein Abonnement auf Klassenbucheinträge und Nachsitzen. Lediglich mein Deutschlehrer konnte hinter meiner schulfeindlichen Attitüde ein verborgen gebliebenes Interesse an “Wissen und Bildung” aufspüren; und eine Neigung zu Büchern und kritischem Denken fördern: So kam ich mit einem der prägenden Bücher meiner Schulzeit in Kontakt und wusste durch den außerschulischen Austausch mit meinem Lehrer immerhin schon, dass Identität zuallererst negativ aufzufassen ist: “Ich bin nicht Stiller.” (Und wer wollte das schon sein, der seinen Stiller gelesen hatte?)

Das schon Gewohnheit gewordene, von meinem Lehrer eigens betreute Nachsitzen hielt nun besondere Aufgaben für mich bereit: Meiner Haltung und meinen Interessen entsprechend hatte ich mich in “Strafarbeiten” nun mit der alternativen Montessoripädagogik oder der Evolutionstheorie von Richard Dawkins zu befassen. Hinter dieser Themenwahl standen zwei pädagogische Absichten: Zum einen sollte ich für den einsamen, auf dem Schlachtfeld der Leistungsverweigerung ausgetragenen Bildungskampf, wenn er denn schon sein musste, wenigstens ein paar Gründe angeben können.

Zum anderen die Förderung meiner Interessen. Im Unterschied zum öden Frontalunterricht, der in meinen Augen doch bloß der Reproduktion von Fertigwissen diente, ging es in beiden Fällen darum, eine eigene Position zu irgendeinem Ding in der realen Welt zu entwickeln. Die Frage war nicht, wie etwa die Atombombe physikalisch gesehen funktioniert, sondern, ob man ihre Existenz eher “gut” oder “weniger gut” findet.

Obwohl ich mich subjektiv im immer währenden Kampf gegen die Obrigkeit wähnte, war mein Verhältnis zur Schule nicht nur negativ. Soweit es gegen die Schule ging, waren meine Mittel: Ruhestörung, Leistungsverweigerung, demonstrative Geringschätzung gegenüber dem Lehrkörper, Schulschwänzen und Provozieren-um-jeden-Preis. Dahinter verbarg sich aber auch ein Wunsch nach einer anderen Schule, denn tatsächlich ging ich zumindest zeitweise sehr gerne hin.

Eine andere Schule musste her. Aber wie sollte die aussehen? Diese Frage beschäftigt mich noch immer. Heute vermutlich mehr denn je. Eines weiß ich ganz gewiss: Die Schule müsste zur Abwechslung mal danach fragen, was Paul aus der 7a oder Susi aus der 9c eigentlich interessiert, was die denn wissen und lernen wollen.

Ein Physiklehrer aber, soviel stand fest, den man nach Schwarzen Löchern oder Quantenmechanik fragt und dem dazu nichts einfällt als ewige Verweise auf den Vorrang des Lehrplans (denn da steht nun einmal nicht drin, was einen gerade interessiert) oder das Kannst-ja-später-mal-Physik-studieren, erzeugt bei wissbegierigen Schülerinnen und Schülern nur Frustration und Schulmüdigkeit. Die Schule trägt hier große Verantwortung dafür, dass ich bis heute mit den Naturwissenschaften nicht im Reinen bin.

Und das, obwohl bei mir eigentlich alles nach einer Karriere als Raketenwissenschaftler aussah: Als Zwölfjähriger las ich zunächst P.M. und später, nachdem dieses Magazin durch einen Oberstufenschüler als angeblich “pseudo-wissenschaftlich” diskreditiert worden war, wurde ich der wahrscheinlich jüngste Abonnent von Scientific American.

Im Zuge meiner gegenwärtigen Architekturstudien interessiert mich die Schule vor allem als Gebäude. Die Schulen, die ich selbst besucht habe, waren als Bauwerke eigentlich nicht hässlich. Mittlerweile habe ich aber genügend Schulgebäude der Nachkriegszeit gesehen, um den Albtraum einer Bildungsarchitektur beschreiben zu können: Graue Waschbeton-Tristesse inmitten asphaltierter Freiflächen; Unwirtlichkeit hinter hohen Mauern und auf kleinen Höfen; Dunkelheit verschlungener Wege im Innern, in denen das Echo der eigenen Schritte hallt.

Hier weist nichts darauf hin, dass dieser Ort für Menschen gemacht wurde. Wer diese Beschreibung übertrieben düster findet, hat noch nie die Realschule von Halle-Neustadt oder die Berufsschule in Ludwigshafen gesehen. Diese Gebäude geben (im Kanon mit ihren Städten) Enzensberger recht, der wusste, dass “Architektur, im Gegensatz zur Poesie, eine terroristische Kunst ist”.

Was also ist das Problem schlechter Bildungsarchitektur? Ich glaube, dass durch Architektur in gewisser Weise immer auch eine Aussage über den gesellschaftlichen Wert derjenigen getroffen wird, für die die Gebäude gemacht worden sind; man denke nur mal an die öden Arbeitsämter, die wie eine Chiffre auf die bösartige “verwaltete Welt” anmuten. Zugespitzt kann man sagen, dass auch durch Architektur Schulen zu einem Ort der Entfremdung werden.

Schülerinnen und Schüler haben dann das Gefühl, in einem Hauptfach unterrichtet zu werden, das “Anwesenheit” heißt und in dem sie vor allem lernen müssen, in ihrem ganzen Leben morgens irgendwohin zu müssen, wo sie gar nicht hin wollen. Diese Erfahrung ist natürlich nicht alleine durch Architektur vermittelt, kann aber durch sie verstärkt werden.

Zentral bleibt die Frage der Aneignung der Schulräume durch ihre Benutzerinnen und Benutzer und das damit eng verbundene Vorhandensein von Freiräumen. Hält man sich in den Räumen gerne auf? Gibt es überhaupt eigene Räume und inwiefern können diese von den Schülerinnen und Schülern nach eigenen Vorstellungen eingerichtet, angemalt, eingeteilt werden? Wie stark sind Überwachung und Kontrolle dieser Räume durch Dritte?

Für einen architekturreformistischen Ansatz, der über das An- und Übermalen hinausgehen will, stellt sich die grundsätzliche Frage: Was tun gegen die Geiselnahme durch die Architektur? Es sind bekanntlich nicht die Bauwerke, die Bauwerke errichten, sondern Menschen, die Gebäude planen und darin leben; aber die von Menschen gemachte Umwelt wirkt auf sie selbst zurück: Erst bauen Menschen Häuser, dann bauen Häuser Menschen.

Mein Plädoyer gilt deswegen in den vielen Fällen, wo nichts mehr zu retten ist, der kreativen Zerstörung. Es wird im Allgemeinen stark unterschätzt, wie viel Gutes auf dem Feld der Städtebaupolitik allein durch Abriss und Abbruch getan werden kann. Auf Vorschlaghammer und Abrissbirne, auf Trümmerfelder und Alles-nochmal-neu: “Das Alte stürzt es ändert sich die Zeit; Und neues Leben blüht aus den Ruinen!” (Schiller: Wilhelm Tell)

(Anm.d.Red.: Der Verfasser dieses Protokolls ist gelernter Kaufmann, Architekturaktivist und Delegierter von Bündnis 90/Die Grünen Frankfurt am Main.)

14 Kommentare zu “Einstürzende Schulbauten

  1. Lässt mich an Kafka denken und an ein Projekt, das es in Berlin um die Jahrhundertwende gab: man konnte in seiner Nachbarschaft Unterschriften sammeln und auf diese Weise erwirken, dass bestimmte Gebäude gesprengt werden. Erinnert sich noch jemand daran?

  2. Die Erschütterung scheint mir wichtiger und wirksamer als das zum Einsturz bringen

  3. Was ist der Bauplan für den Tag danach? Wie wird er ausgearbeitet? Und von wem? Es geht mir um die konkrete Umsetzung.

  4. mich würde auch interessieren, wie es nach den “Sprengungen” weitergeht, romantische Vorstellung, dass aus den Ruinen Neues erwächst, aber wäre es nicht auch sinnvoll, das Vorhandene zu nutzen und umzuformen?

  5. Feine Idee! Ich bin dabei! Das mit dem Hauptfach Anwesenheitspflicht ist gut beobachtet. Ansatz für danach? Reformen? Umformen? Leichen kann man nicht reformieren! Ähnlich wie 50 deutsche Innenstädte, die nach der Zerstörung im WKII, scheusslich schnell wieder errichtet wurden und heute grässlich herumstehen. Braucht niemand, sprengen, weg damit! Alles andere wäre Ressourcenverschwendung.Das Neue entsteht auf dem modrigen Verrottungshumus des Alten!

  6. @Joerg: Ich erblicke hier einen Widerspruch: Waren diese vermeintlich hässlichen Nachkriegsbauten nicht genau jene Mistblumen, die aus Trümmern und Ruinen erwachsen sind und bedeutet das dann nicht, dass am Ende doch genau der gleiche Quatsch herauskommt, wenn wir jetzt alles expolisifizieren? (Bloß energieeffizient gebaut versteht sich)… Ich selbst war übrigends 13 Jahre lang auf einer für den Normalo-Geschmak hässlichen Schule (60er Jahre DDR-Bau, dann 1990 im Wahn rosa angestrichen!) und hat’s mir geschadet???

  7. Ja natürlich hats dir geschadet! Hahahahaha! :-) Mir sind dabei die Schulen im Gegensatz zum Autor relativ egal, als ADSler war die Schule für mich stets ein suspekter Ort, auch wenn sie eine römische Villa aus dem 19. Jhdt gewesen wäre! Die Nachkriegsbauten sind nicht erwachsen aus einem Humus, ein natürlicher Prozeß von zumm Teil langer, evolutionärer Dauer, sondern wurden schnellstens auf Trümmer geprügelt, nach Brandrodung wie im Urwald. Im Goretex Stil, um beim Thema zu bleiben: Form folgt Funktion! Heute beginnt man Unsummen auszugeben, um zunehmend verödete, überflüssige Städte in Westdeitschlands Provinz zu schein-modernisieren und wieder zu beleben. Sterbende Städte hängen am Tropf, dabei sollte man der Natur freien Lauf lassen. Aber nein, in dem zutiefst menschlichen Konservativismus (damit meine ich nicht nur rechte Positionen) alles bewahren zu wollen, stellt man sich dem Gang der Dinge unnütz in den Weg! Rückbau heisst das Zauberwort! Neue Brachen schaffen, ehrlich sein, keine Augenwischerei betreiben! Gilt im übetragenen Sinne auch für Schulen und Bildung. Krankt das alles nicht auch am starren Festhalten, an der Angst? Schliesst längst überkommene Reformschulansätze der Siebziger übrigens mit ein. Und jetzt: Schlagt mich!

  8. interessanter Text! Meine ehemalige Schule war von außen Rosa und von ihnen vergilbt. Anwesenheitspflicht war schon schlimm genug aber von anderen zu hören:”Ieehhhh, du gehst auf die Schweinchenschule!”, noch schlimmer … ;)

  9. Meine Schulen wurden im die Jahrhundertwende gebaut, es waren große, imposante Gebäude, das eine sogar mit noch mit 2 Eingängen, die aus dieser Zeit stammten – einer für Mädchen, einer für Knaben. Von außen gefielen sie mir, innen herrschte der immer gleiche grau-beige Schulmuff. Also sammelten wir Geld um sukzessive die Klassenräume schöner zu gestalten. Trotzdem miefte es weiter…

  10. Ich befürchte nach dem Einsturz baut den gleichen Mist nochmal, vielleicht sogar noch schlimmer!

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