Der Umstand, dass ich seit 1990 mehr oder weniger ununterbrochen in New York lebe, scheint meine zerebrale Sprachzentrale wenig zu beeindrucken. Ich vermute sogar, dass ich insgeheim eine Freude am Falschsprechen habe und immer traeger werde, englischsprachig zu wirken. Oft liebe ich es, stur englische Woerter wie ein Deutscher im Anfaengerkurs quasi-deutsch auszusprechen.
Der phonetische Mehrwert durch zungentechnisches Faulenzen, Verweigern oder Unvermoegen wird in New York nicht unbedingt negativ erlebt, sondern kann auch fuer alle Gespraechsteilnehmer einen Reiz haben. Das Unbehagen im Akzent ist fuer mich zur versteckten, trottelsicheren Alltagsfreude geworden. Es ist oft eine Art Understatement, welches, verkehrstechnisch gesprochen, einer Abkuerzung ueber einen Feldweg entspricht. Ich persoenlich mag jedenfalls Menschen mit starken phonetischen Standardabweichungen, seien sie nun geographischer, sozialer, linguistischer, ethnischer oder medizinisch-physiologischer, beziehungsweise psychologischer Natur.
Seit 1999 arbeite ich in den USA an >Sprache der Emigration<, ein Interview-Projekt mit deutschen und oesterreichischen Emigranten sowie mit Menschen, die Konzentrationslager ueberlebt haben. Diese Interviews sind fuer mich sehr spannend. Durch sie lerne ich eine Welt kennen, die ich mir vorher nur als >Historie< vorstellen konnte. Der Horror der Nazizeit war so gross, dass ich mir davon kein >direktes<, >unmittelbares< Bild machen, sondern ihn nur als historische Abstraktion denken konnte, obwohl ich nur zwei Jahrzehnte nach 1945 zur Welt kam. Im Grunde hat der Holocaust zweimal stattgefunden: einmal real und ein zweites Mal im Verschweigen und Nicht-Wahrnehmen der Ueberlebenden in der Emigration. Das Deutsch dieser Menschen ist in vielfacher Hinsicht faszinierend, nicht zuletzt weil es den Akzent der Zeit bewahrt hat. Ich erinnere mich an eine Dame aus Wien, die 1938 nach New York kam und mit ihrem Deutsch des damaligen Buergertums die heutige oesterreichische Sprachsituation kommentierte: >Die Intellektuellen in Wien sprechen heute alle so, wie frueher die Kutscher gesprochen haben.< Diese nun schon sehr betagte Gruppe von deutschsprachigen New Yorkern geht jedoch mit dem Deutschen sehr vorsichtig um und spricht es - wenn ueberhaupt - vorwiegend nur unter ihresgleichen. Am meisten beeindruckte mich jedoch eine sehr alte Dame mit deutschem Akzent, waehrend einer Liftfahrt in New York. Als ich sie fragte, ob sie Deutsch sprechen koennte, ueberkam sie ein angstvoller Schreikrampf. Ihre irrationale panikartige Reaktion bleibt fuer mich unvergesslich und beklemmend und laesst mich nur ahnen, was deutschsprachige Schergen ihr einmal angetan haben mochten. Juengere Deutschsprecher gibt es in New York ebenfalls in grossen Zahlen. Die Stadt ist und bleibt ein Anziehungspunkt fuer Leute wie mich, die ihr Leben nicht von billigen Mieten bestimmen lassen, sondern von der Professionalitaet, Effizienz und Schnelligkeit des Lebens. Also auch von der kulturellen, sozialen und oekonomischen Komplexitaet und Intensitaet dieser Stadt. Mehr noch: In meinem Wahn, immer wieder neue Sprachen zu lernen, ist New York ein linguistisches Eldorado. Ich spreche, hoere oder lese mindestens fuenf verschiedene Sprachen pro Tag, dabei auch Deutsch. Das Internet erlaubt es mir, internationales Radio zu hoeren und kostenlos telefonieren zu koennen - Dinge von denen ich staendig Gebrauch mache. Ich muss also nicht nur mit dem deutschen Medienaktivisten Wolfgang Staehle und seiner Frau Abend essen, um Deutsch sprechen zu koennen. Selbstverstaendlich orientiere ich mich wie jeder urspruengliche Dialektsprecher an den Sprechgepflogenheiten der Gespraechspartner. Das heisst fuer mich, dass ich ausser am Telefon mit meiner Familie kaum vorarlbergischen Dialekt spreche. Die Schweizer, mit denen ich mich wunderbar im Dialekt verstaendigen koennte, hoeren, dass ich fuenf Kilometer oestlicher, also jenseits ihrer Grenze aufwuchs und schalten deshalb meistens sofort auf Standarddeutsch um, was natuerlich auch ich sofort mache, sobald ich mit Standarddeutsch konfrontiert bin. Vorarlberger in New York gibt es nur wenige und spielen derzeit fuer mich keine besondere Rolle. Ich spreche vermutlich oefters Chinesisch als vorarlbergischen Dialekt. Sollte ich dann noch Vorarlberger in New York treffen, lassen sie sich oft nicht zum Dialektsprechen bringen, weil sie das entweder aus Gewohnheit oder aus sprachlichem Snobismus nicht moegen. Neulich verbrachte ich vier Tage in Bregenz und musste zu meiner Ueberraschung feststellen, dass mein Dialekt nicht mehr einwandfrei ist. Ich wurde gefragt, was ich fuer ein >Landsmann< sei und wie lange ich schon nicht mehr im >Laendle< lebte - 26 Jahre. Kinder waren noch konsequenter: Sie antworteten mitunter auf mein Dialektsprechen mit Standarddeutsch. Ein weiteres Zeichen, dass ich mich mit der Lokalsprache erst wieder anfreunden muesste. Ein Bregenzer Kurator meinte nach vier Tagen, dass mein Vorarlbergerisch sich verbessert haette, was mir Hoffnung machte. Ich habe mich aber eigentlich schon daran gewoehnt, in keiner Sprache >lokal< zu klingen. Meinen starken Akzent beim Englischsprechen hoere ich sogar selber. Interessanterweise werde ich in New York aeusserst selten auf meinen offensichtlich starken auslaendischen Akzent angesprochen, jedoch von fast jedem Deutschen immer sofort darauf hingewiesen, der nicht in New York lebt. Ganz anders mein Privatleben: Fast taeglich beschere ich meiner ebenfalls vielsprachigen Freundin neue Namen, deren Elemente ich wie ein verwoehntes Kind dem Japanischen, Deutschen, Vorarlbergerischen usw. entnehme. Es entsteht so eine sprachliche Lumpensammlung, die ich taeglich, je nach Lust, Laune und Liebe sinnunabhaengig assoziativ zusammenraffe, um sie bald wieder unnotiert ins Vergessen zu entlassen. Diese Art amouroes-sprachliche Durchlauferhitzung bringt uns in die Naehe der Unmoeglichkeit einer Privatsprache, die in unserem Fall Sprache in Liebe und Liebe in Sprachen uebersetzt. Deutsch ist derzeit jedenfalls sehr chic in den USA, wird die Sprache doch fast ausschliesslich nur noch von der akademischen Elite fuer das Doktoratstudium gelernt. Auch vermute ich leicht ein unbewusstes rassistisches Wohlbefinden unter den sogenannten Weissen. Vergleichbar mit dem unausgesprochenen Rassismus und Klassismus von Wohnadressen in als besser empfundenen Gegenden, die eine Konzentration von gleich aussehenden, viel verdienenden Leuten aufweist. Selbst in Filmen sind die deutsch-akzentierten Verbrecher in komplizierte, intelligente Machenschaften involviert und verbreiten ein sophistiziertes Image.