Als Kind kannte ich keinen einzigen Italiener. In unserer Nachbarschaft gab es keine Auslaender und meine Eltern fuhren auch nie in den Urlaub. Aus Fernsehserien und Kinderbuechern bastelte ich mir ein Italienbild, das von Klischees und Touristenattraktionen durchsetzt war: das Land quoll ueber vor Spaghetti, badete in Rotwein, ueberall glitten Gondeln ueber das Wasser und dicke Opernsaenger sangen >O sole mio< zu schoenenen Frauen mit ueppigen Dekolltes.
Italien stand fuer mich auch fuer Chaos und Respektlosigkeit: haarstraeubender Verkehr mit Millionen von knatternden Vespas, freche Jungs und noch frechere Maedchen, die sich von einer Strassenseite zur naechsten Unverschaemtheiten zuschrien. Pinocchio war mein Held und veranlasste mich zu glauben, dass Italiener gerne luegen oder immer uebertreiben muessen. Als Teenager wurde ich dann mit einer pubertierenden Reisegrupppe an den >lago di como< geschickt. >Niemand wird schwanger und niemand darf sterben!< hiess es am ersten Tagder Reise von Seiten der Gruppenleiter. Ich war 13 und mitten in einer schweren Wachstumsphase: die Arme erschienen mir laenger als die Beine und ich litt unter meinem Babyspeck. Ich zweifelte, ob mich ueberhaupt ein Junge registrieren wuerde mit meinen linkischen Bewegungen und dem schuechternen Augenaufschlag. Der Urlaub verlief auch fast voellig ohne ein romantisches Sommer-Flirt-Intermezzo, wie ich es mir in der Ferne ausgemalt hatte und worauf man es als spriessendes, hormongeschuetteltes Teeniegirl anlegt. Bis auf ein paar schleimige Anmachen von Seiten des Kochs Fabio, der alle anekelte, da er daumendicke gelbe Hornhaut unter seinen Fuessen hatte und wir uns sorgten, woher wohl der Parmesan kam, versuchte keiner grossartig bei mir zu landen. Wie gerne haette ich mich von einem heissbluetigen und leidenschaftlichen Italiener verfuehren lassen. Wie schoen die Menschen dort aussahen: glaenzende, sonnengebraeunte makellose Haut (ich selber litt unter den ersten Pickeln...), dichte, dunkle Haare, grosse, lang bewimperte Augen und prominente Nasen. Den stets gut gekleideten Italienerinnen wurde galant der Hof gemacht, wenn sie voellig aufgeputzt abends auf der Strandpromenade flanierten und posierten. Die Annaeherungsversuche wurden allerdings ignoriert oder schlagfertig abgewiesen. Ein Fest der Koketterie. Am letzten Abend gab es ein Lagerfeuer am Strand, die Abschlussparty wurde gefeiert und aus diesem Anlass betrank sich die ganze Gruppe. Ich war mit einer der Juengsten und hatte keine Alkoholerfahrungen. Damit ich auch schnell betrunken wurde, kaufte ich Kraeuterschnaepse im Supermarkt, die eigentlich nur als Speisegewuerz fuer deftige Gerichte verwendet werden. Ich war ziemlich schnell blau und voellig enthemmt. Waehrend andere in den See kotzten unterhielt ich die restliche Gruppe und junge Italiener, die sich zu uns gesellt haben. >Exuberance is beauty< meinte William Blake treffend: ich war voller Lebenslust, Esprit und Erzaehlfreude, die Leute hingen an meinen Lippen und zu vorgerueckter Stunde konnte ich mir einen >Froschkopf<, so nannten wir die Italiener wegen ihrer Vorliebe fuer Froschschenkel, aussuchen. Ich verschwand mit Mario auf einem von Mondlicht durchfluteten Steg, gegen den in langsamen Abstaenden traege das Wasser klatschte. Es war mein erster Kuss, der mit Mario, und es fuehlte sich sensationell an. Leider kam mein Gruppenleiter Juergen dann und riss mich wuetend von Mario fort. Alles, was mir von ihm blieb ist diese suesse Erinnerung. Am naechsten Morgen hatte ich meinen ersten Kater und die Premiere eines anderen Gefuehls: den ersten Liebeskummer. Zurueck im grauen Deutschland, eingehuellt in einem dauernden Nieselregen konnte ich nur an Mario denken. Ich meldete mich fuer einen Italienischkurs bei der Volkshochschule an und hoerte alte Adriano Celentano Platten, bis die Nachbarn mich anzeigten und meine Eltern mich rausschmeissen wollten. Ich traeumte, so auszusehen wie Ornella Muti und las Romane von Italo Svevo und versuchte die >Goettliche Komoedie< im Original zu lesen. Als ich endlich mein Abitur schaffte, packte ich wenige Sachen und trampte bis nach Italien. Ich kam nur bis nach Mailand und dort sollte ich auch die naechsten achte Monate bleiben. Ich hatte Glueck: Der Fahrer war weder ein Psychopath noch selber uebertrieben vorsichtig: er bot mir an, die ersten Tage bei ihm zu wohnen, bis ich ein Zimmer und einen Job gefunden habe. Er wohnte sehr zentral, sein >apartamento< war umgeben von laermenden Cafes, Restaurants und Bars. Ich macht mich trotz der Muedigkeit, die von der Fahrt herruehrte, sofort auf, um Klinken zu putzen und einen Kellnerjob zu ergattern. Ich hatte Glueck: in der Bar >Jamaica< wurde gerade ein Kellner mit einem sprachlichen Gewitter entlassen: er war dem Wirt zu langsam. Ich ergriff sofort die Gelegenheit und stellte mich vor. Der Wirt war begeistert von meinem exotischen Akzent und meiner Oberweite. Keine Arbeitserlaubnis, kein Gesundheitszeugnis wurde verlangt, spontan und begeisterungsfaehig wie die Italiener sind, wurde ich sofort auf der Stelle eingestellt und konnte mit der Arbeit beginnen. Ich arbeitete in der Bar >Jamaica< bis ich fuer das Fernsehen entdeckt wurde. Italiener sind ueberaesthetisch: Stilfragen gehen vor allen anderen Fragen des Lebens, besonders der Moral. Das Wort >Stolz< zum Beispiel existiert in dem Sinne nicht im Italienischen. Dafuer gibt es mehrere Synonyme fuer das Wort >gerissen<. Ich bediente eines nachmittags einen auffaelligen, pfauenhaften Mann. Wenig spaeter sprach er mich an und fragte, ob ich nicht Lust haette, in seine Castingagentur aufgenommen zu werden: er organisiere vornehmlich Statisten und Gaeste fuer >tv spetaccoli<, die durchgeknallten italienischen Freitag- und Samstag-Abend-Shows, in denen von Fussball bis >bellezza< alles vorkommt. Von da an sass ich in der ersten Reihe bei illustren >spetaccoli< wie der Freitagabendshow >Casa Mosca< des homosexuellen Freaks Maurizio Mosca, der seine Gaeste regelmaessig zum Heulen brachte und die Maedchen in der ersten Reihe, wo auch ich sass, fuer dumm verkaufen wollte. Regelmaessige, lebendige Klatschrequisiete und >Vorher-Nachher< Opfer wurde ich auch bei Diego della Palma, einem schwulen Friseur, der nur im weissen Smoking seine Nachmittagsquatschshow moderierte. Bei Diego della Palma lernte ich die Comtessa Pepina Caravaglia kennen. Ich war verzweifelt auf der Suche nach einem Zimmer zu Untermiete, ich war an einen tiefen Punkt gelangt: schluderig wie die Italiener nun mal sind, wurde ich fuer Monate fuers Klatschen nicht bezahlt, ich wohnte in einem autonomen Zentrum mit sogenannten >Crusty Punks< und war ziemlich mitgenommen von den taeglichen Sitzungen der spiessigen Pseudoalternativen, die darueber diskutierten, ob ein semibekanntes TV-Model in ihrer Kommune leben durfte. Ich erzaehlte der feschen Comtessa mein Leid, die an diesem Tag als Pferd verkleidet war, sie trug einen Pappmaché Pferdekopf als Hut. Sie hatte Mitleid mit mir und lud mich in ihre Wohnung ein. Dort bekam ich ein grosses Zimmer, das von einem der Dienstmaedchen sauber gemacht wurde, obwohl es mir anfangs unangenehm war. In der Belle Epoque Wohnung standen ueberall Antiquitaeten rum, im Salon befand sich ein grosser Fluegel, worauf Leopoldo, Comtessa Caravaglias juengster Sohn, nachmittags fuer seine Mutter Mozart spielen musste. Sonst hoerte die Comtessa nur Techno. Es dauerte nicht lange, bis Leopoldo und ich eine Affaere begannen. Alles lief ausgezeichnet, bis auf das ich nicht von den TV Sendern bezahlt und mit der Zeit immer mehr auf der Strasse belaestigt wurde, weil mich Leute aus dem Fernsehen erkannten. Ich litt langsam an der krankhaften Schwatzhaftigkeit der Italiener und begann, meine Freunde in Deutschland zu vermissen. Als Olympia, Leopoldos aeltere Schwester, die aus London zu Besuch war, ihren Bruder und mich knutschend auf seinem Bett erwischte, petzte sie es der Comtessa. Daraufhin stopfte die Grande Dame meine Sachen in blaue Muellbeutel und schmiss sie vor den Hintereingang der schicken und massiven Residenz. Als ich von einer >Casa Mosca< Show spaet abends nach Hause kam, sah ich Leopoldo mit blauen Muelltueten am Eingang auf mich zukommen. Mit einem zerfurchten Dackelblick sagte er mir ein letztes >Ciao, Bella<. Ich war wuetend und hatte restlos genug von Italien und meinen dumpfen Jobs. Ich nahm die Muelltueten, leihte mir Geld und nahm den letzten Nachtzug nach Deutschland. Heute freue ich mich, wenn ich auf Italiener treffe, doch es dauerte eine Zeit, bis ich mich von dem raffinierten Kalkuel, dem Neobarock ihres Lebensstils und ihrer kuehlen Intelligenz erholen konnte. Aber ein bisschen Sehnsucht nach >Bella Italia< ist immer geblieben und wird auch immer bleiben.
Ein schön geschriebener Artikel von einer noch schöneren Frau (Wo ist denn mein Pferdekopf geblieben…?!)