Auf der Suche nach Alternativen zum gefährlichen Denken von Rechtslinken lohnt es, das Theater ins Blickfeld zu rücken. Immerhin ist es ein Ort für komplexe Geschichten und für die Auseinandersetzung mit allen erdenklichen Lebensformen. So wird das Theater in Zeiten globaler Herausforderungen attraktiv, um neue politische Inhalte zu verhandeln. Im zweiten Teil seines Essays stellt Berliner Gazette-Autor und Theatermacher Kevin Rittberger Wege vor, die Bühne des Theaters zu politisieren.
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Das Theater, der große Wiederholungstäter, Trutzburg ahistorischer, mythisch-raunender Komplexitätsresistenz, baut seine Mauern gerne aus einfachen Geschichten. Einfache Geschichten blenden aus, das ganz Kleine, das ganz Große und das scheinbar moderate Geräusch, das die rechtschaffene eigene bürgerliche Existenz macht. Gerade die überschaubaren Schritte auf der bürgerlichen und heute um die spektakulären Töne der Selbstvermarktung angereicherten Kammerspielbühne stampfen die außerhalb dieser vier Wände ihre Existenz (nur) Fristenden aber umso endgültiger in den Boden.
Der wohlstandschauvinistische Fußabdruck der „Kohlenstoffdemokraten“ (Timothy Mitchell) ist keine leise Sohle. Der Hambacher Forst, das Staudammprojekt Alto Maipo bei Santiago de Chile, Standing Rock, das öldurchschwemmte Nigerdelta, die bedrohten Korallenriffökosysteme von Indonesien bis Raja Ampat – all diese konkreten Orte des Protest, die Liste ließe sich fortsetzen, bilden lokale Risse in Gemeinwesen und artenübergreifenden Gefügen ab. Sie alle sind, mit Donna Haraway, „durch ein globales Band aktueller, kolonialer, anthropogener Verwüstung miteinander verbunden.“
Sterben etwa die „Wälder der Meere“ (Anna Tsing) an Übersäuerung und Erwärmung, verlieren neben dem Ökozid fast eine Milliarde Menschen bis 2050 ihre Nahrungsgrundlage. So viele insulare Detention Centers kann Australien vor der eigenen Küste gar nicht errichten, um diese nächste, erwartbare Anzahl an Klimaflüchtlingen aufzufangen, allein aus Gründen des steigenden Meeresspiegels nicht.
Andere Beziehungsweisen und Weltzugänge
Kein lokales Projekt besteht nur für sich oder lässt sich von einer komplexitätsreduzierten, rechtspopulistischen Erzählung völkisch einhegen. „Sympoiesis“ nennt Haraway, die komplexen Verflechtungen anzunehmen und auszuweiten, eine Aufgabe an künftige, spekulative, feministische, postkoloniale Narrationen. Sich involvieren in das Leben der anderen! Das ist nicht der Titel einer misslungenen Stasi-Aufarbeitung, sondern das virtuose, mannigfaltige „Spiel mit tentakulären Fadenfiguren artenübergreifenden Mit-Werdens“ (Haraway).
Weniger Nachahmung (Mimikry), mehr explorativer, ergebnisoffener Prozess, V o r a h m u n g anderer Beziehungsweisen und Weltzugänge! Vorahmung ist dergestalt mimetische Kunst, indem sie sich der Nachahmung und Simulation enthält, andere Übungs- und Belohnungssysteme schafft und als prägende Praktik zu sehen ist. Sie ist der Magie und dem Ritual verwandt, schafft „Strukturen der Verzauberung“ (Henri Lefevbre), präfiguriert eine andere Welt. Wie jedoch, so könnten rechte Leute von links nun einwerfen, einem Alles-ist-symbiotisch-Geschwurbel entkommen?
Es wird Zeit, dass KünstlerInnen mit AktivistInnen und WissenschaftlerInnen beginnen, der Komplexität der gegenwärtig noch gangbaren Weltwerdung gerecht zu werden. Dies kann ästhetisch raffiniert, riskant, versponnen, buntscheckig, bildhaft, glitzernd, grotesk, zerbrechlich, einfühlsam, widerspenstig, wild, aberwitzig und zumutend sein, mensch kann jedoch nie mit dem Frame zufrieden sein, der das Individuum auf seinen Hosenboden zurückwirft.
Vielmehr kann alles scheinhafte Wissen um die Einsamkeit des Individuums (mal ist es in Schuld verstrickt, mal verstrickt es andere in hässliche Schuldspiralen, mal ist das unternehmerische Selbst erschöpft) getrost gelöscht werden, um neue Weltzugänge zu schaffen und alte freizulegen. Verstrickungen sind dann keine tragischen mehr, geknüpfte Allianzen lösen melodramatische Mesalliancen, multilaterale Affinitätsgruppen ambivalente Kollateralschadenhelden ab.
Absage an die zweidimensionale Spiegelung der Realität
Vorahmung ist die Absage an die zweidimensionale Spiegelung der Realität und ein Vorfühlen und Hineinverästeln in intime und tentakultäre Welten. „Erdgebundene“ (Bruno Latour) halten gerade deshalb an der Liebe zur Gattung fest, weil ihre Selbstsorge sie zur Erdsorge getrieben und von dort wieder auf die eigene nicht-singuläre Existenz zurückgeworfen hat. Theater kann hier viel von Permakultur lernen, wenn neben den Premierenpeaks auch die Permanenz einer konvivialen Kultur angezielt wird. Auch wenn Latour sie nicht beantworten kann, so stellt er zumindest einen Paradigmenwechsel fest: „Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der sozialen Frage; das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der neuen geo-sozialen Frage“.
Das Theater zu hacken bedeutet, erneut alle narrativen und organisatorischen Strukturen vor und hinter der Bühne zu überprüfen. Etwa mit dem Mythos zu arbeiten, heißt die Welt wie von der ISS zu betrachten, durch alle atmosphärische Schichten hindurch. Alles rückt in die Ferne, es geht um das Wesentliche: Welche Luft die da unten noch atmen wollen, welche Kriege sie nicht mehr führen, wie sie ihren globalen Garten bestellen, wie sie sich um einander sorgen. Wenn die für das Theater überlebenswichtigen Mythen oftmals Neid und Eigennutz, Stolz und Rache schicksalhaft extrapolieren, so ist die Frage, ob den Nicht-Göttlichen dadurch nicht Fühler abgeschlagen werden, die sie andernfalls auch brauchen könnten, um jenes „Mit-Sein“ (Jean-Luc Nancy) gegen allen Hass und gegen jede Zerstörung endlich doch noch zu kultivieren.
Im Theater können andere Formen des Sozialen verhanelt werden
Gerade im Theater vibriert ästhetisch die Symbolpolitik und können politisch andere Formen des Sozialen verhandelt und praktiziert werden. Doch selbst wenn hinter den Kulissen endlich flächendeckend eine diversere Zusammensetzung der Belegschaft durchgesetzt würde (nicht nur ein paar Feigenblätter in den Ensembles, jenseits von Projektitis), auch wenn eine andere Auswahl der Stoffe samt Darstellungsformen die buntscheckige, transkulturelle Gesellschaft mehr widerspiegelte als der Kanon, auch wenn das Theater schließlich noch auf Leitungsebene diverser würde, ja selbst wenn allerorten andere Leitungsmodelle ausprobiert würden, z.B. Kollektivintendanzen, einschließlich der Mitbestimmung durch die Belegschaft, so wird das Theater auch in hundert Jahren doch zweifelsohne nie der kapitalistische Betrieb gewesen sein, an dem eine erneuerte Kapitalismuskritik heute ihre Messer wetzen müsste.
TheaterkünstlerInnen vorzuwerfen, und seien es die am Zeitgeist anschmiegsamsten, sie würden dem Kapitalismus identitätspolitische, kosmopolitische Innovationen einflüstern, ist bestenfalls von Shakespeares Intrigendrüse genährter Dramaturgenhochmut. Selbst wenn dem Theater in den letzten Jahrzehnten mehr Managementtugenden abverlangt wurden, so wird es niemals für die Anatomiestunde von VulgärmarxistInnen herhalten können, gerade wenn deren Entfremdungskritik aus der Zeit der gestürmten Webstühle heutige PerformerInnen immer noch als Anhängsel der Maschinerie seziert wissen möchte.
Darüber hinaus haben PerformerInnen und KunstarbeiterInnen keine Beraterverträge und auch nicht Hartz IV oder die Entmachtung der Gewerkschaften zu verantworten. Bestenfalls lässt sich im Theater ambiger Performerism afirmieren (siehe hier) – die Fähigkeit also, für sich selbst zu sprechen oder den Körper sprechen zu lassen, ebenso in Szene zu setzen wie eine eigene politische Stimme zu behaupten, der im vormals weißherrischen Guckgasten kein anderer Ort eingeräumt wurde als der exotische Vogelkäfig.
Premium-Cola – ein Modell für das Theater?
Für das nötige Verdampfen aller stehenden und ständischen Apparate kann auch die Philosophie des Getränkeherstellers Uwe Lübbermann aus Hamburg (Premium-Cola) herangezogen werden. In seinem Vortrag auf dem letzten CCC Kongress – „Hacking Wirtschaft“ – machte Lübbermann gegenüber hierarchischen Verhältnissen klar: „Behaltet die Struktur, aber benutzt sie nicht!“ Man kann das auch fürs Theater so handhaben. Die Antikapitalisten-Brause wird von einem Internet-Kollektiv nach dem Prinzip der Konsensdemokratie gesteuert, sämtlichen MitarbeiterInnen werden Einheitslöhne bezahlt, die nur nach Bedürfnissen abweichen, sprich höher sind, wenn jemand Kinder hat, Menschen mit Behinderung oder die eigenen Eltern versorgt.
Inzwischen haben die Konsensfindungstechniken auch schon auf andere Branchen übergegriffen, etwa Hausverwaltungen, die als die trägesten und uneffizientesten gelten. Wie wäre es, wenn auch sämtliche Theaterleitungen die spritzigen Ideen der BrauseherstellerInnen schlucken, um prickelnderes Theater zu machen? Sicher, da das bürgerliche Recht nur die Genossenschaft, nicht aber den Kollektivbetrieb zulässt, wird auch kein social turn das Theater zum postkapitalistischen Musterfall machen. Aber der viel beschworene Ensemblegeist muss dann nicht erst heraufbeschworen werden.
Moral kostet nicht nichts
Viele Bestrebungen des Kulturbetriebs zu mehr Gleichheit, zu mehr Solidarität, symbolpolitisch und performativ – „how to DO things with words“ -, sind wichtige Vorzeichen und zugleich Übungssysteme, die radikal andere Beziehungs- und Arbeitsweisen (auch Arbeitszeitmodelle) sowie Organisationsformen einzuleiten und NUR SO zu manifestieren imstande sind. Der Moralismusvorwurf rechter Leute von links, Räume des Respekts und der Verletzlichkeit zu kultivieren, sei harmlos, selbstgerecht und exklusiv, verfehlt sein Ziel vollständig, wenn linker Universalismus, wenn internationale und intersektionale Solidarität als Formationen der Politik und des Politischen einerseits als idealistisch und unrealistisch abgetan werden und andererseits klassenkämpferische Positionen aus dem historischen Materialismus, als hätte es 1968 nicht gegeben, ungebrochen in das Theater hineingetragen werden; da die Koexistenz sozialer Bewegungen und transnationaler Streikbündnisse mit der Vereinbarung einhergehen, dass verschiedene Grundwidersprüche, gegen die prekarisierte ArbeiterInnen und MieterInnen, Anti-RassistInnen, QueerfeministInnen, KlimaaktivistInnen und Geflüchtete vorgehen, sich nicht ausschließen, sondern dasselbe kapitalistische System in seinen Grundfesten (Lohnarbeit, Eigentum, Erbschaft, Produktionsverhältnisse, Individualisierung und Wettkampf, Ungleichheit, Entsolidarisierung usw.) angreifen; und schließlich Kunst- und WissensarbeiterInnen andere Diskurse kreieren, den pluralisierten Diskurs politisieren, andere Belohnungssysteme vorwegnehmen und nicht zur Nachahmung des schlechten und rechten Gegebenen einladen.
Moral kostet nicht nichts. Der Aufschrei gegen eine ungerechte, ungleiche und inzwischen ökologisch ruinöse Welt war immer schon moralisch und aus der heißen Wut geboren – mit welcher sich die verschonten Allies und bürgerlichen Sprachrohre solidarisieren konnten.
Der weiße Mann kann indes mehr denn je lernen, sich nicht mundtot machen zu lassen, aber auch nicht wegzugehen, wenn ein Safe Space auf seinen Beitrag temporär verzichten möchte. Er ist eingeladen, einfach mit im Raum zu bleiben und zur Abwechslung auch einmal zuzuhören, wenn es wieder heißt: Ihr repräsentiert uns nicht! Dazu hat der Herbst der Solidarität – #unteilbar, #endegelaende, #hambibleibt, #welcomeunited, #seebruecke, #ausgehetzt, #noPAG, #FridaysForFuture und nicht zuletzt „Die Vielen“ – Wind in die Segel derjenigen geblasen, welche auch 2019 nicht rechts mit links verwechseln werden, um Bühnen für Bevölkerungen zu schaffen.
Anm. d. Red.: Lesen Sie den ersten Teil des Essays hier. Das Foto oben im Text stammt von Mario Sixtus und steht unter CC-Lizenz.
erlaube einen Einwurf zu Latour:
Grundsätzlich stimme ich mit Dir hinsichtlich des mit Latour in Verbindung gebrachten Anliegens überein. Doch ich möchte in Frage stellen, ob es sinnvoll ist, dieses Anliegen so stark mit Latour in Verbindung zu bringen/an seinen Namen zu binden.
Die “geo-soziale Frage”, also die Verknüpfung von Umweltfragen mit politischen, sozialen, ökonomischen und geo-politischen Fragen ist nicht neu. Immer dort, wo “Umweltbewegte” über Natur-Esoterik hinausgehen und die brennenden politischen Fragen ihrer Zeit mitdenken bzw. zusammendenken, ist die geo-soziale Frage im Raum. Es reicht ein kursorischer Blick auf die Geschichte(n) so genannter sozialer Bewegungen, auf die kritische-theoretische Literatur-Backlist, oder auf die von Staaten und Konzernen konstruierten Zerrbilder ihrer Feinde (bei der NSA etwa, stehen neben “Muslimen” auch “Umweltaktivisten” ganz oben).
Heute ist dieses Anliegen “unser Anliegen” geworden und Latour versucht es geschickt zu verpacken, aber sollte man ihm allein dafür so viel Credit geben? So toll und wirkungsvoll ist die Verpackung dann doch nicht. Doch das Credit- und Aufmerksamkeit-geben, das Bühne-schaffen, etc. – all das geschieht deshalb, weil es für bestimmte Gruppen bequem und beneficial ist, Latour als Referent der geo-sozialen Frage aufzurufen – meistens haben sie wohl selbst nicht viel mit dem Anliegen zu gehabt und haben nun einen gefunden, der sonst eher teil ihrer Konversationen gewesen ist und jetzt, im richtigen Augenblick, die Stichworte der Zeit droppt.
Unbequemer, aber umso wichtiger erscheint es mir, nach Referenzen/Stimmen zu suchen, die aus dem Globalen Süden heraus (dem Diskurs oder dem Raum) eben solche Positionen bzw. Anliegen artikulieren. Und diese Stimmen gibt es ja nicht zuletzt deshalb, weil die Verwüstungen, die wir heute Klimakatastrophe o.ä. nennen, schon seit Anbeginn der Kolonialzeit eben dort besonders spürbar sind (beispielsweise der Völkermord an den UreinwohnerInnen Südamerikas im Zuge der Conquista stellt bereits im 15./16. Jahrhundert nicht zuletzt einen tiefen geologischen Einschnitt dar und zieht Klima-Konsequenzen nach sich, usw.)
Das soll nicht heißen, dass so ein weißer männlicher Superstar des akademischen Betriebs nicht auch mal für “unsere Sache” herangezogen werden kann. Es kann ja von strategischem Vorteil für die Öffnung und das Offen-halten des Diskurses sein, so einen Latour heranzuziehen. Aber man sollte sich das schon sehr genau überlegen. Speziell in seinem Fall möchte ich folgendes zu bedenken geben.
Es gibt so einiges, dass seine Aufrufung als Anwalt “unserer Sache” eigentlich ausschließt. Folgendes: Latour weiß ziemlich genau, dass die geo-soziale Frage sich in einem multi-dimensionalen Spannungsfeld abspielt, in dem menschliche und nicht-menschliche Akteure in gegenseitiger Abhängigkeit und Verwobenheit ko-existieren (Stichwort: Kritische Zone). Doch er verrät dieses Wissen an dessen Gegner, wenn er es fertig bringt, das multi-dimensionale Terrestrische auf eine Dimension zu schrumpfen: auf den horizontalen Boden, auf dem er landen will, an den er sich binden will. Ich spreche hier in erster Linie in Bezug auf das in der deutschen Sprache als “Das terrestrische Manifest” erschienene Buch, was ja eine Art Pamphlet seiner weniger schnell verdaulichen Überlegungen zu Gaia und (Post-)Anthropozän ist.
Latours Rede vom Boden, den er nur gelegentlich und halbherzig ins multidimensional Terrerstrische auffächert, bleibt einem Bild des Eindimensionalen verpflichtet: die flache Ebene, auf der wir stehen können (“Boden unter den Füßen”), auf der wir leben können, zu der wir eine Beziehung haben bzw. entwickeln sollen, um die wir uns kümmern sollen, etc.
Durch diese Schrumpfung des multidimensional Terrerstrischen wie es in der Idee der Kritischen Zone angelegt ist (was ja eine erhebliche vertikale Dimension hat: alles was sich oberhalb des Erdbodens hoch in die Atmosphäre erstreckt und unterhalb der Erdoberfläche nutzbar ist; was aber auch eine fluide Dimension hat, denn irdisches Leben findet nicht zu Landen sondern auch zu Wasser statt) – durch diese Schrumpfung der Welt entpuppt sich Latours Diskurs letztlich als einer “less world politics” verpflichtet.
Genauer betrachtet, steht Latours verkappte “less world politics” im Zeichen des Neo-Traditionalismus (derzeit bekanntlich eine beliebte Schnittstelle von gewissen alten Linken und neuen Rechten; kürzlich sehr treffend von Diedrich Diederichsen in seinem springerin-Artikel über Fortschritt analysiert). Wie auch andere Neo-Traditionalisten so sehnt sich auch Latour insgeheim in ein “Zurück”; seine earth boundedness will er zwar befreit sehen von allen möglichen Blut-und-Boden-Übeln und vielem mehr, das die Idee vom Boden ideologisch unerträglich erscheinen lässt. Doch derart (zweifelhaft) befreit, will Latour nicht wirklich “nach vorn”; er will sich nicht wirklich auf die Komplexität der kritischen Zone einlassen, ebenso wenig wie auf die Komplexitäten menschlicher Daseinsformen.
Beispielsweise ignoriert Latours Begriff der earth boundedness die Tatsache, dass es a) Menschen gibt, die mehr oder minder “nomadisch” bzw. tendenziell mobil drauf sind ((und auch bleiben wollen) von prä- bis hin zu hyper-kapialistischen Existenzformen)) oder b) Menschen, die nicht auf einem flachen Stück Land arbeiten und leben (sondern etwa überwiegend auf dem Wasser). Und und und.
Doch warum sollten Menschen (Typus a oder b) nicht in der Lage sein, ein verantwortungsvolles Verhältnis zur Kritischen Zone zu entwickeln? Warum muss man um jeden Preis “landen” und “sich binden”? Das muss man vor allem dann, wenn man im Herzem ein Neo-Traditionalist, dessen Vorstellungen vom Morgen von einem idealisierten Gestern imprägniert sind.
Das kommt mE im letzten Kapitel des Buchs besonders plastisch zum Ausdruck, wo Latour seiner haarsträubenden Europa-Schwärmerei freien Lauf lässt. Da wird immer nur soviel an Kritik, Problem, Widerspruch eingestanden, was im nächsten Atemzug als Stärke ausgewiesen werden kann… Das ist, unter dem Strich, die Rhetorik eines Business-Coaches, die – wie auch die Argumentation als solche – nicht im Stande ist, den Global Süden als “natürlichen” oder strategischen Verbündeten wahrzunehmen. Doch genau das scheint mir im gegenwärtigen Augenblick genau die wichtigste Herausforderung des Augenblicks zu sein.
Ich hoffe, mein Einwurf bringt “unsere Sache” weiter.
Lieber Krystian,
vielen Dank für die wichtige Erweiterung, den ausführlichen Exkurs zu Latour, der Einwurf bringt die Sache unbedingt weiter! Ich hatte gehofft, dass ich meinen Zweifel zu Latour mit dem Nachsatz, er wisse darauf keine Antworten zu geben, deutlich mache. Ich habe ihn auch auf einigen Podien erlebt, wo er von den Commons spricht, aber davon weder historisch, noch aktuell eine Ahnung hat, er machte eher den Eindruck eines Neugierigen, der mit Lernprozessen noch nicht abgeschlossen hat. Vielleicht dient der beliebte Manifest-Schreiber manchen als Türöffner. Vielleicht ist Latour selbst eine in die Jahre gekommene Greta, denen die Leute in Davos überhaupt noch zuhören. Vielleicht ist Bündnispolitik entscheidend, wenn die Zeit davonläuft und Gegenmaßnahmen selbstgerecht und Kompromisse faul sind.
Ich habe mich hier auch der Zuspitzung wegen, die in einem solchen Artikel, der an dieser Stelle ja auf ästhetische Entscheidungen zu sprechen kommt, für diese Anmerkung eines Paradigmenwechsels entschieden. Dass die soziale Frage auch eine Frage ist, die der globale Norden nicht für den globalen Süden beantworten kann und darf, ist entscheidend.
An anderer Stelle bin ich auch sehr gut ohne Latour ausgekommen (https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1450.gesetzt-wir-h%C3%A4tten-als-menschen-produziert.html) und du hast völlig recht, es braucht ihn nicht, um von Klimagerechtigkeit zu sprechen – oder etwa einem ersten Schritt dahin, der Ernährungssouveränität respektive einer n i c h t -imperialen Lebensweise. Ob La Via Campesina, Hans Rudolf Herren, Ulrich Brand oder Hans Widmer (dem ersten Commonisten avant la lettre), es gibt genügend aktivistische, wissenschaftliche, kulturelle Praxen und Ansätze jenseits der Hegemonie, die dem Weiter-So trotzen.
Welche weitere Tools/ Modelle/ Lebens- und Herstellungsweisen kommunale Praxen für MORE WOLRD bereitstellen können, hätte ich zu gerne noch am vergangenen Sonntag auf der TM erfahren, auf dem von Dir moderierten Panel. Wie so oft blieb am Ende zu wenig Zeit.
Zu diesem Podium habe ich noch einen kleinen Nachtrag: Ich denke nämlich, dass der notwendig zu schrumpfende Fußabdruck der Kohlenstoffdemokraten und -autokraten (wenn ein Ende des Wachstumsdenkens verbindlich wird) tatsächlich im Sinne von MORE WORLD wäre – und von der europäischen Austeritätspolitik der letzten Dekade und den Rechtspopulisten – LESS WORLD – zu unterscheiden ist. Wie Klimagerechtigkeit Weltzugänge erweitert und einengt, scheint mir der entscheidende Punkt für künftige Narrationen zu sein, jenen SF’s, von denen Donna Haraway spricht.
Lieber Kevin, lieber Krystian, kurz zu Latour und zum Panel am Sonntag: Latours Rede vom “Boden” sind in der Tat befremdlich, er zitiert irgendwann sogar salopp die “Blut & Boden”-Rede der Nazis. Dazu zweierlei: man muss Latour unbedingt erweitern und mit anderen Theorien koppeln. Ich finde in diesem Zusammenhang Deleuze & Guattari unverzichtbar, ihre Überlegungen zur “Geo-Philosophie”, dem Verhältnis von Erde und Territorium.
Und andrerseits verwundert es, dass Latour niemals Hannah Arendt zu Rate zieht, dabei findet man sehr viele Entsprechungen, bzw. sie kommt dem ganzen viel eher auf den Grund.
Ich würde Arendts Buch “Vita activa” auch für MORE WORLD empfehlen – der letzte Teil ist der “Weltentfremdung” gewidmet. Darin beschreibt sie in faszinierender Weise, was für eine Revolution durch Galileis Teleskop ausgelöst wurde – ähnliche Überlegungen finden sich bei Latour in den “Gaia-Vorträgen”, wenn er von einer “kopernikanischen Konterrevolution” spricht, die jetzt nötig sei.
Was damit gemeint sein könnte und mit der “Bodenhaftung”, das erklärt Arendt viel schlüssiger als Latour.
Dazu kurz meine 50 Cent: Es geht um eine “Verweltlichung” in einem etwas anderen Sinne. Es hieße: neue Beziehungen einzugehen. Politik in einem emphatischen Sinne: “Den Menschen” oder “die Menschheit” gibt es nicht, nur die Menschen – wir existieren nur im Plural. Das ist das eine.
Das andere ist: die Instrumente, derer wir uns bedienen (Teleskop oder andere) spiegeln uns immer nur unsre eigne Denkstrukturen zurück. Das zeigt sich an der Mathematisierbarkeit aller Phänomene. Das führt zu einer gewissen Relativität: wenn wir die Sonne ins Zentrum stellen, erhalten wir ein heliozentrischen Weltbild. Stellen wir die Erde ins Zentrum, ein geozentrisches Weltbild. Nun scheint es Zeit für ein neues geozentrisches Weltbild zu sein.
Statt davon auszugehen, dass die Erde ein fallender Körper unter anderen fallenden Körper ist (Galilei), d.h. dass hier dieselben Gesetze gelten wie überall im Universum, sollten wir davon ausgehen, dass wir bisher nur einen Planeten kennen, auf dem Leben möglich ist, dass hier also besondere Bedingungen herrschen.
Vielleicht lässt sich das zusammenführen in der Überlegung, dass es einen neuen Begriff der Geopolitik bräuchte – nicht länger als imperiale Strategie, sondern im Sinne einer Politik der Erde. Das würde zu aller erst bedeuten, die eigne Bedingt- und Begrenztheit mit einzubeziehen. Denn laut Arendt (und Latour) leben wir seit ein paar Jahrhunderten tatsächlich so, als würden wir uns von außen betrachten, von einem Standpunkt außerhalb jener “kritischen Zone” – das ist der berüchtigte “archimedischer Punkt”. Und dieser Punkt scheint wirklch dazu angetan zu sein, alles aus den Angeln zu heben: 2 Grad mehr und das war’s mit der Bewohnbarkeit des Planeten für unsre Spezies. Insofern bleibe ich dabei, was ich am Sonntag gesagt habe: The kids are damn right!
@Kevin #2: Die Türöffner-Idee finde ich gut und richtig, das meine ich in meinem Kommentar oben, wenn ich sage, unter bestimmten Umständen kann man so einen weißen, männlichen Superstar strategisch einsetzen. Doch, und das ist mein eigentlicher Hauptpunkt, zweifele stark ich daran ob das in seinem Fall überhaupt funktionieren kann. Öffnet er nicht die Tür in den Neo-Traditionalismus?
Er liefert keine Antworten, gut, das muss er auch nicht, doch das wesentliche ist: er stellt die falsche Frage: Wo, auf welchem Boden, will ich landen? Diese Frage steht m E im Zeichen des Neo-Traditionalismus (und nicht zuletzt einem (neo-)traditonellen Verständnis von Agency).
Die Frage müsste eher lauten: Wie kann ich mich in der Kritischen Zone als politischer Akteur verorten? Daraus folgen viele weitere Fragen, u.a. sicherlich auch die Frage, was “Verortung” in der Kritischen Zone überhaupt bedeuten kann?
Ist das noch ein Ort im klassischen Sinne, an dem ich politische Handlungsfähigkeit entfalten/ausüben kann? Oder eher ein Spannungsfeld der Verstrickungen und Abhängigkeiten, in dem eine Verschiebung von Agency zu “entangled agency” stattfindet?
(ich schreibe das in Eile und werde mir das alles noch einmal genauer durchlesen und ggf noch einmal ausführlicher antworten).
@Alex#3: “Denn laut Arendt (und Latour) leben wir seit ein paar Jahrhunderten tatsächlich so, als würden wir uns von außen betrachten, von einem Standpunkt außerhalb jener kritischen Zone”.
Ist das wirklich so? Und: Wer ist dieses Wir? In der Tat gibt es ein Problem für viele auf diesem Planeten, sich in der Kritischen Zone zu “verorten” und wahrscheinlich haben Leute in Europa damit die größte Schwierigkeit.
Denkbar ist, dass Leute in den USA diese Schwierigkeit übernommen haben – ein “erfolgreicher Transfer” des kolonialen Projekts, bei dem sich die Kolonialmacht immer als das Zentrum des Planeten begreift und dabei gerne objektiv von Außen betrachtet: als das Maß aller Dinge, als die universelle Norm.
Das ist mE das wahre Problem: “Europa ist die Norm für das planetarische Sein”. Dieses Dogma steckt auch in dem Satz “Wir leben seit Jahrhunderten so, als würden wir uns…” Dieses Dogma macht u.a. blind dafür, dass es seit Jahrhunderten Menschen gibt, die “anders” leben und sich dabei innerhalb der Kritischen Zone verorten.
Diesen Blick für andere Lebensweisen, der immer wichtiger für uns alle und eine gemeinsame, zukunftsweisende Praxis wird, vermögen (neo-traditionalistische) EurozentrikerInnen nicht zu entwickeln! ((auch deshalb gibt es in Latours Traktat keinen Diskurs zu den ‘anderen Lebensweisen’ innerhalb der Krtitischen Zone, die in irgendeiner Form fortschrittlich (gewesen) sind; Ausnahmen wie der Verweis auf Nastassja Martins Studie zu subarktischen und arktischen UreinwohnerInnen (“Les âmes sauvages”) nur als Anm in der Fußnote (!) bestätigen die Regel)).
@Krystian: Das “Wir” von Latour sind “Wir Modernen”, bzw. das “Wir”, das “nie modern gewesen ist”. Bei Hannah Arendt geht es um die Neuzeitlichen (jene Übergang zum Kapitalismus nach der sog. “Entdeckung Amerikas”, Reformation und eben der Entdeckung des Teleskops).
Ich verstehe Deine Vorbehalte gegen Latour, aber man muss präziser sein: Latour gehört zu den wenigen westlichen Wissenschafler*innen, die außereuropäische Theoriebildung ausgiebig rezipieren (und sich von ihr affizieren lassen) und versuchen, in den westlichen Diskurs einzubringen, z.B. die Anthropologie von Edouardo Viveiros de Castro, den eine wirklich intensive Auseinandersetzung mit amazonischen Denksystemen auszeichnet. Zentrale Begriffe hat Latour von ihm übernommen wie “Mononaturalismus” (als Grundlage des “Multikulturalismus”), dem er den “Multinaturalismus” des sog. animistischen Denkens gegenüberstellt – wirklich schwindelerregend steile Thesen, sehr sehr spannend… Ich finde ja auch, dass Latour dieses Denken dann irgendwann verflacht, z.B. in dem Merve-Band “Krieg der Welten”. Er bricht dann die antikoloniale Spitze ab und versucht eine Art neue Volksfront zu schmieden auf ökologischer Grundlage, in der er anscheinend auch einige Rechte integrieren möchte. Man kann das kritisieren und sagen, dass er eine zu “versöhnlerische” Perspektive anbietet, um es in einem sehr alten Polit-Vokabular zu formulieren. Aber man kann nicht sagen, dass er einfach nur die westliche Norm als universalistisch reproduziert.
Sicherlich gibt es in der Klima-Bewegung eine große Gefahr, den Herrschaftsanspruch des Westens auf eine grüne Art und Weise zu reproduzieren – aber auf dieser Klaviatur spielt eben auch Christian Lindner im Konzert mit allen Klimawandelleugner*innen, Dieselfreaks und Nimbi- Windparkgegner*innen, wenn er von einem gründeutschen “Klimanationalismus” spricht.
Die Klima-Bewegung wird, bzw. hat sich schon längst gespalten: eine Fraktion würde gerne die Welt am westlichen Bio-Wesen genesen lassen und die Klimasünder in der südlichen Halbkugel abkanzeln für ihren Raubbau an der Natur und ihren Entwicklungswahn, der anderen Fraktion ist klar geworden, dass es sich hier um die größte Gerechtigkeitsfrage unserer Zeit handelt: wie z.B. Naomi Klein, die sehr offen und ehrlich in ihrem “Klima vs. Kapitalismus” Buch beschreibt, wie eine Aktivistin aus dem globalen Süden sie auf dieses Thema gebracht hat. Dann zeigt sich: man kann im Zusammenhang mit dem Klimawandel nicht nicht vom Kolonialismus sprechen. This does change everything.
Terrapolis ist eine fiktionale Integralgleichung
Eine spekulative Fabel
Terrapolis is ein n-dimensionaler Nischenraum
Für ein artenübergreifendes Mit-Werden
Terrapolis ist offen, weltlich, unbestimmt und polytemporal
Terrapolis ist eine Chimäre aus Materialien, Sprachen, Geschichten
Terrapolis ist für Artgenoss*innen, cum panis
Dienjenigen die mit Brot an einem Tisch zusammensitzen
Nicht posthuman sondern Kom-post
Terrapolis ist gegenwärtig
Macht Raum für unerwartete Genoss*innen
Terrapolis ist eine Gleichung für Guman
Für Humus Boden und eine riskante Ansteckung
Für vielversprechende Turbulenzen
Für Permakultur und Responsabilität
Alle Genoss*innen sind mit der alten Kunst
Des Umgestaltens beschäftigt
Mit Terraforming
Terrapolis hat endgültig abgeschlossen
Mit Kants globalisierenden Kosmopolitiken
Mit Heideggers griesgrämigem Weltwerden
Dem menschlichen Exzeptionalismus
Terrapolis wurde aus Würzelchen
Und ihren Symbionten kompostiert
Als Gewebe mit vielen Verbindungen
Responsabilität existiert nicht in der existenzialistischen
Bindungslosen und dabei maskulin menschenmachenden Lücke
Terrapolis ist reich an Welt
Geimpft gegen den Posthumanismus
Reif für das Erzählen von artenübergreifenden Geschichten
Nicht Heimat von homo
Dieses auf- und abschwellende phallische Selbstbild des Immergleichen
Sondern Heimat für Gumans
Die sich durch einen Zungenkünstlertrick
Aus den Humans verwandelt haben
Den Arbeiter*innen aus und mit dem Erdboden
Meine Kritter sind Wesen aus dem Schlamm
Und nicht aus dem Himmel
Aber dennoch leuchten die Sterne
In Terrapolis wurden die maskulinistischen Universalien überwunden
Guman ist erfüllt mit unbestimmbaren Geschlechtern und Gattungen
In der Lage eine heimatliche Welt des Unruhig-Bleibens herzustellen
Wo Partner*innen einander im Mit-Werden befähigen
Es ist von Gewicht mit welchen Gedanken wir Gedanken denken
Es ist von Gewicht welche Knoten Knoten knoten
Eine fleischige Kosmopolitik
Welche die Welt wie sie ist nicht zurückweist
Im Namen einer idealen Welt
Entscheidungen werden in Anwesenheit derer getroffen
Die die Konsequenzen tragen
Responsabilität ein Muster
Um das Mann nicht gebeten hat
(Donna Haraway, Unruhig bleiben, Vom Erzählen artenübergreifender Geschichten und über praktiken von Gefährten)
Könnten durch die materialistische Brille
von Haraways SF betrachtet
Latours Erdgebundene (auf)gelesen und verortet werden?
@Krystian
Ich möchte dir gerne nochmals auf deine damalige Replik eingehen, mit einem Text von Gene Ray: (https://www.documenta14.de/de/south/895_den_oekozid_genozid_komplex_beschreiben_indigenes_wissen_und_kritische_theorie_in_der_finalen_phase) – und ein paar Gedanken von Danowski/ de Castro.
Bei Ray heißt es:
“Ich bin überzeugt, dass die Ethik des Landes in irgendeiner Form Teil jedes gangbaren Widerstands gegen den modernistischen Komplex von Ökozid und Genozid sein muss. Man muss einen Ort ganz einfach erst kennen und lieben, bevor man sich dafür engagieren wird, für ihn zu sorgen und ihn zu verteidigen. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, dies rassisch zu bestimmen oder es aus Sorge vor angeblich genozidalen Potenzialen abzulehnen. Genozid und Ökozid sind längst im Gange. Und es ist unbestreitbar, dass sie von den Modernen – und nicht von indigenen Völkern – begangen werden. (…)
Das Leben des Landes gegen staatlichen Ökozid und Genozid zu verteidigen, ist eindeutig etwas ganz anderes als der Gebrauch der Macht durch den modernen Staat, um ein rassisch bestimmtes Band mit dem Land zu behaupten, dessen Zweck genau darin besteht, einen Genozid zu begehen.”
Mich würde sehr interessieren, was du von Rays Begriff einer “Ethik des Landes” hältst und seinem Versuch sich über die Moderne hinaus zu orientieren, seinem Versuch Wurzeln zu schlagen gegen alle Bedenken des Kritischen Theoretikers, die er in sich trägt:
“In der Folge entwickelte die kritische Theorie, wann immer sie auf die Behauptung eines speziellen Bandes oder einer Beziehung zwischen einem Volk oder einer Kultur und dem entsprechenden Ort traf, den Reflex, dies als eine Art Protofaschismus anzugreifen, der die Saat des Genozids in sich berge. Doch nicht jedes Band mit dem Land muss auf diese rassisch bestimmte Weise verstanden oder eingelöst werden. Auf jeden Fall haben die indigenen Völker Nordamerikas es zweifellos nicht auf diese Weise verstanden oder eingelöst. Die bloße Behauptung, dass jegliche Form eines Bandes mit dem Land möglicherweise rassisch bestimmt werden und daher genozidal sein könne, erlaubt nicht die pauschale Zurückweisung aller Traditionen und Praktiken einer mit dem Land verbundenen Kultur, ohne den Kontext oder die Tatsachen zu untersuchen.”
Das, was auch in Danowski/ de Castros “In welcher Welt leben?” anklingt (“Indigen-Werden” oder “Wieder-Indio-Werden”), benötigt ja auch immer das Wühlen im Unabgegoltenen, dem Sichtbarmachen einer Kolonisierung der Prämoderne und ihren lokalen Kulturtechniken (auch in Felwine Sarrs “Afrotopia” zu finden), um der “schwindenden Gemeinschaft des Lebens” entgegenzuwirken:
“Vom Ende der Welt zu sprechen bedeutet nicht, von der Notwendigkeit zu sprechen, sich eine neue Welt an Stelle der gegenwärtigen vorzustellen, sondern ein neues Volk; das Volk, das fehlt. Ein Volk, das an die Welt glaubt…”
@Alex & @Krystian
Und im Anschluss an diese Stelle zitieren Danowski/ de Castro Deleuze: “Schöpfung und Volk sind zur gleichen Zeit nötig.”
Im Vergleich zum Neotraditionalismus ist dieses Mehr-Welt-Werden das ja keineswegs exklusiv (auch nicht rechtslibertär-exklusiv) und es baut v.a. nicht vorhandene Privilegien aus, das ist wohl der entscheidende Unterschied. Als Wühlen und Ausgraben des Unabgegoltenen ist diese Mehr-Welt-Werdung nicht im Sinne des alten Rousseau-Missverständnisses, als Essenz oder “Überbleibsel” vorzufinden, sondern denkbar als “funktionierende folk-Maschinen”, “synkretistische Verkettung offener Technologien” oder “technoprimitivistische Bricolage” (wie es bei Danowski/ de Castro heißt), mit Haraway gesprochen: Denkbar als “oppositionelle Cyborgs” und “monströse Regeneration”.
Je nach Blickwinkel ist das ein De- oder Re-Learning. Und Haraways “Wir” – “Wir unfreiwilligen Erben der Kolonisatoren sind wohl kaum dazu berechtigt, die Kriterien für die Anerkennung von Verwandtschaft festzusetzen” – gilt es wohl noch immer zu problematisieren, und das macht auch Rays Ansatz aus. Dennoch setzt er auf den Ort, weniger das Mit-Sein.
Aber was ist von Rays “Neuverbindung mit dem Ort” zu halten: “Ich würde gerne sagen können, dass ich von einem Ort stamme, dass ich dort verwurzelt bin, dass ich verwurzelt bleibe.”
Wer sich mit sozialen Bewegungen der Urvölker befasst (wie ich das als “Huinca”, als Weißer Mann etwa in Chile beim “Pueblo Mapuche” getan habe oder in Smangus, Taiwan – auf Einladung des Goethe-Instituts), hat es mit einem Übersetzungsproblem zu tun: Z.B. die Parole “Raices & Tierra”, lässt sich als Kampf um Autonomie gegen den Staat Chile verstehen, mitsamt seinen Landnahmen und seiner Verweißungspolitik – funktioniert aber aus dem Mund von IB und Pegida diametral anders, als rechte Identitätspolitik oder machiavellistische Raumordnungsphantasie des Höcke-Flügels.
Die Frage ist also: Wie sich als Ally positionieren und mit welchem Vokabular, nicht wahr? Werde ich es sein, der für ein “neues Volk” eintritt? Oder unvoreingenommen zuhören können, wenn ein “neues Volk” gesucht wird, “das an die Welt glaubt”? Wie kann ich mich zur spirituellen Kosmovision, die den Hauptantrieb gegen die entseelte Moderne der transnationalen Profitmaschinen stellt, ins Verhältnis setzen? Wie kann ich als Mehrfachgeschonter der bis heute anhaltenden Verweißungspolitik u n d etwa als Verbündeter der Mapuche gegen Staudammprojekte und Austrockung/Kontaminierung der Böden durch Agromultis u.a. auftreten?
Neotraditionalismus hier und Progressivität dort? Wie lässt sich dieses dichotome Konzept (siehe Diedrichsen in der “springerin”) z.B. am Beispiel der Landlosenbewegungen diskutieren (etwa in Brasilien), wie am Beispiel “La Via Campesina”, wie das Konzept der Ernährungssouveränität? Der Weltagrarbericht von Hans-Rudolf Herren etwa hatte im Vergleich zum Lobbyismus von Monsanto/ Syngenta nie etwas Progressives.
“Unruhigbleiben und die Sehnsucht nach Wiederaufleben machen es erforderlich, komplizierte Geschichten zu beerben”, schreibt Haraway und ihr Unruhigbleiben braucht die Verwurzelung nicht. Tentakuläres Denken dagegen nimmt seismographisch jetzt schon die gravierenden Folgen von Ökoziden wahr, und diese sind weltweit nicht lokal begrenzt.
Mir scheint am Begriff der “Erdgebundenen”, so wie Haraway ihn benutzt, das Entscheidende, dass er inmitten der 6. Auslöschung andere “terrane Kritter” mitdenkt, vor denen Menschen sich zu verantworten haben und die dennoch vor neuerlichen Anthropos-Alleingängen abzuhalten sind (wie auch der Akzelerationismus einer wäre); und Haraways Ansatz ist doch klar ein MORE WORLD-Ansatz, oder nicht?
Das Wertvolle ist, denke ich, dass Haraway Korridore baut im Sinne der konkreten Utopie, die eine “Ethik des Landes” mit dem Nomadischen versöhnt; Response-Abilität entsteht hier weder durch die Wieder-Verwurzelung der in der Moderne Entwurzelten (das wäre die neo-traditionale Geste), noch durch die Ortlosigkeit der Nomaden oder einem unverwurzelten New Babylon (Constant). Ihre “Communities of Compost” sind durch Zu- und Abwanderung gekennzeichnet und durch artenübergreifende Verwandtschaften. Dies verstehe ich als “Acting in Concert” (Arendt) auf den Ruinen des Anthropozäns. Die Rituale, die Haraway als “String Figures” für das Chthuluzän entwirft, haben aber m.E. auch nichts mit den Ritualen zu tun, die zuletzt Byung-Chul Han dem Verschwinden der Welt entgegensetzt (“Kollektivgefühle verfestigen die Gemeinschaft”). Haraways SF-Tentakel sind spekulativ, nicht konservativ.
Ich lese gerade Adolf Grabowsky “Staat und Raum”, eher intellektuell enttäuschend und recht problematisch bis unfreiwillig komisch an einigen Stellen. Er diskutiert dort auch schon die Fragestellungen, Erdgebundenheit.
Ich glaube es ist eine gute Folie sich Schriften zur Geo-Politik aus den 20er Jahren anzusehen, um zu erkennen, wo die Lücken im Denken zu finden sind. Das Unerquickliche im geostrategischem Denken ist ja, dass es regelmässig 20 Jahre hinterher hängt, andererseits der Verzicht auf den Raum erst recht beschränkt ist. Mit anderen Worten, es wäre alles gut, wenn man das Raumdenken von seinem 20 Jahre Lag befreien kann. Das geht nur, wenn man davon ausgeht, dass diese Unzeitgemäßigkeit im gegenwärtigen Raumdenken da ist.
Wie der Kriegsplan, von dem gesagt wird, dass er am ersten Tag des Krieges bereits obsolet sein wird. Oder auch wie Don Quichote.