Andrei Tarkowski: Zwischen europäischer Hochkultur und Sehnsucht nach der russischen Heimat

Die Vertreibung aus der geliebten russischen Heimat zwang den russischen Filmemacher Andrei Tarkowski ins europäische Exil. Das bietet ihm endlich die Freiheit, seine bald Kultstatus erlangenden Filme, nach eigenen Vorstellungen zu erschaffen. Trotzdem wird er sein gesamtes Leben in Einsamkeit und Sehnsucht nach seinen russischen Wurzeln verbringen. Kulturphilosophin und Berliner Gazette-Autorin Yana Milev blickt auf sein Werk, das in der Schweiz einer umfassenden Restaurierung unterzogen wird.

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Andrei Tarkowski galt bereits zu Ostzeiten als Kultregisseur. In den 1980er Jahren wurden seine Filme auch in der DDR, beispielsweise im Leipziger Clubkino „Casino“, gezeigt. Als sagenumwobener Geheimtipp, den man flüsternd weiterreichte, galt sein Film Stalker (1979). Dieser wurde für viele Intellektuelle am Vorabend von Perestroika und Glasnost, am Vorabend der Wende in Deutschland, zum Synonym für die „Zone“ und zur Ikone des erratisch-unsagbaren, was die Zone zusammenhält und die Zonenbewohner am Leben.

Die rätselhaft-mystische Bildsprache Tarkowskis war bis dahin ein ungesehenes Phänomen des Films. Alle, die im Sumpf der politischen Agonie versanken, sogen sie schwammartig auf. „Stalker“ gab den Gemütern Nahrung, nahm sie an die Hand und entführte sie in eine zeitlose Alleingelassenheit mit dem Orakel. Wenn „Stalker“ die Zone überlebte, dann konnten wir das auch. Und es gab zu Zeiten einige Skinheads in der Stadt, das waren die „Stalker“, die mit Hilfe des Films des Rätsels Sinns erschlossen hatten.

Wenn ich in Andrei Tarkowskis Gesicht schaue, was mir über den Dokumentarfilm von Ebbo Demant, gelang, bin ich in Anbetracht seines gewichtigen Werkes erstaunt über den zarten und kontemplativen Ausdruck eines feingeistigen russischen Dichters. Ich sehe das vergeistigte Gesicht einer romantischen Seele, dem eine geheimnisvolle Sehnsucht eingeschrieben ist und dessen rastlose Suche nach etwas uns Unbekannten tiefe Spuren in ihm hinterlassen hat.

Verlust der Heimat wird zum Verhängnis

Demants Film konzentriert sich auf die letzten Jahre von Andrei Tarkowski – auf sein Leben im europäischen Exil, seine Reisen durch diverse Länder und seine Gedanken zu Exil und Tod. Denn hier, in den letzten Jahren, kulminiert der Anachronismus der Tarkowskis Leben ausmachte zur Tragödie der Einsamkeit und Verlassenheit – der Tragödie eines Unantastbaren und Unverstandenen, der von einigen wenigen noch zu Lebzeiten heilig gesprochen wurde.

Der Verlust der Heimat wurde ihm, der wie kein anderer Filmregisseur mit Andrei Rubljow (1964) der „russischen Seele“ einen Namen gab, zum Verhängnis. Tarkowski wurde zunächst in der Sowjetunion von den Mosfilm-Funktionären das Leben schwer gemacht, dann wurde er abgeschoben und verstoßen. Was zuerst nicht so aussah, wurde jedoch zur bitteren Realität in seiner Biografie – eine Rückkehr in die Heimat wurde vereitelt und unmöglich.

1983 verließ Tarkowski die Sowjetunion, um in Italien Nostalghia (1983) zu drehen und um der erzwungenen Untätigkeit in der Sowjetunion zu entgehen – und nicht wieder zurück zu kehren. An dieser überraschenden, von ihm selbst unmöglich gewollten Wendung in seinem Leben, zerbrach seine Familie und seine Gesundheit. Tarkowski flüchtete im Exil in eine innere Emigration, in der er seine Trauer und seine Zustände in einer mystisch-geheimnisvollen Bildsprache verarbeitete. Im Exil konnte sich Tarkowski von der Staatsrepression, mit der sein Werk belegt wurde, befreien. Er konnte von nun an frei produzieren, jedoch litt er unaufhörlich unter dem Verlust der Familie und russischen Heimat.

Das Heimweh und das Leiden beim Spagat zwischen der europäischen Hochkultur und der russischen Kultur der Verschwendung, Weite und Tiefe, waren der Nährboden für seine letzten beiden Filme, die sowohl die Kulturen der westlichen, als auch der östlichen Hemisphäre an ihre Grenzen kommen sahen. Und sie erschufen nicht zuletzt seine Krankheit, die Zeit seines Lebens an ihm fraß. Während Tarkowski bis Ende der 1980er in seiner Heimat öffentlich verschmäht wurde, gelang ihm mit „Nostalghia“ der endgültige internationale Durchbruch. Bei den Filmfestspielen von Cannes 1983 wurde „Nostalghia“ mit dem Preis der ökumenischen Jury und dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Tarkowski teilte sich damals den Regiepreis mit Robert Bresson. 1985 entstand in Schweden sein letzter Film „Opfer“. Als zu dieser Zeit auch noch die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl passierte, war das für ihn die Verwirklichung seiner schlimmsten Albträume.

Von “Iwans Kindheit” bis “Stalker”

Bis zu seiner Auswanderung nach Italien hat er in der Sowjetunion fünf Meisterwerke gedreht, darunter im Jahr 1962 sein erster Spielfilm Iwans Kindheit (der in restaurierter Fassung zusammen mit seinem Regiedebüt Walze (1960) als Bonus erschienen ist).

Tarkowskis Filmografie bis hin zu seiner Exilierung kann deutlich in zwei Phasen unterteilt werden: in die Filme der 1960er Jahre und in die Filme der 1970er Jahre. Erstere überwinden zum einen das Kriegstrauma des Zweiten Weltkriegs, zum anderen die schwere historische Geburt Russlands, die ebenfalls einem Trauma gleichkommt. Den Hintergrund von „Iwans Kindheit“ bildet die Ostfront des Zweiten Weltkriegs und der Kampf der Roten Armee gegen die Invasion der Wehrmacht.

Im Zentrum der Handlung steht das 12-jährige Kind Iwan. Durch eine Reihe von Traumsequenzen und über mehrere Gespräche hinweg stellt sich heraus, dass Iwans Eltern und seine Schwester von deutschen Soldaten getötet wurden. Er jedoch entkam und schloss sich einer Gruppe von Partisanen an. Die Gruppe wird später von deutschen Truppen in einem Wald eingekesselt. Um ihn in Sicherheit zu bringen, steckten die Partisanen ihn in ein Flugzeug. Nach der Flucht wurde Iwan in einem Internat aufgenommen, aus dem er ausbüchst und sich einer militärischen Einheit unter dem Kommando von Grjasnow anschloss.

Für die Geburt Russlands, die Geburt der Ostkirche, der Ikonenmalerei, der russischen Seele, welche durch Tartarenkriege und Barbarengewalt stets bedroht war, wie auch für ein Russland das durch den Zusammenbruch der Kiewer Rus in eine Zeit der Entfremdung und Isolation geriet, aber auch die brutale Herrschaft ostslawischer Fürstentümer überstehen musste, steht der Film „Andrei Rubljow“ (1966). Hier zeichnet Tarkowski das Historienbild Russlands im 13. und 14. Jahrhundert, das erst nach einer langen Phase der inneren Zerrüttung und äußeren Isolation von Europa, der so genannten Smuta, am Anfang des 17. Jahrhunderts mit Zar Peter I., die Erstarkung des Russischen Reiches erfährt.

Mit dem Protagonisten Andrei Rubljow erschafft Tarkowski eine Figur, die durch diese dunklen Jahre wie ein Zeitzeuge wandelt und seine Zeugenschaft in Ikonen und Fresken niederschreibt und festhält. Bekannt ist, dass der historische Andreij Rubljow im Erlöser-Andronnikow-Kloster in einer Gemeinschaft Moskauer Maler lebte. Die Filmfigur Andrei Rubljow ist hingegen ein Wandermönch, der auf seinen weiten Wegen die dunkle Geschichte der Geburt Russlands erfährt. So agiert die Filmfigur nicht nur an einem geistlichen Ort, wie vergleichsweise dem Erlöser-Andronnikow-Kloster bei Moskau, sondern sie durchwandert geradezu territoriale und genuine Orte der Konflikte, Kriege, Gewalt, der Gottlosigkeit, der spirituellen Verwahrlosung, der Wollust, der tiefen seelischen Verlassenheit und der zwischenmenschlichen Geheimnisse.

Andrei Rubljow verkörpert in unseren Köpfen ein Déjà-vu: Die Infragestellung Russlands durch den „Westen“, das westliche Drängen auf Sanktionen und die Isolation Russlands von Europa. All das stellt den Wunsch des Westens dar, Russland in die tiefe Transformationskrise der post-sowjetischen Ära der 1990er Jahre zurückzustürzen, um es zu zerfleddern und zu zersetzen. Dem entgegen steht die Kraft der russischen Seele, die den tieferen Sinn in ihrem Widerstand gegen die immer wiederkehrende Unterwerfung unter fremde Dogmen sucht. Die radikale Antwort, die Tarkowski auf diesen Unterwerfungskrieg gegen das Russische gibt, ist das Schweigen!

Die russische Seele im Ostmenschen schweigt. Sie findet die tiefe Philosophie im einsamen Dialog, in der Einsiedelei, in der Entbehrung und im Kind. In „Andrei Rubljow“ ist es das Kind, welches das Geheimnis des Zwischenmenschlichen und der Kultur in sich trägt. Indem das Kind die Glocke gießt, gelangt dieses Wissen nach Außen und erhält somit die Tradition. Und es ist der Anblick der Kraft des Kindes, der das Schweigen des Mönchen Andrei Rubljow bricht. Sie werden Gefährten und Komplizen. Das Kind als Symbol des Kulturbringers und Kulturretters, als Symbol des Erhalts der russischen Seele und der Zuversicht, wird Tarkowski ein viertes Mal (nach „Iwans Kindheit“, „Stalker“ und „Andrei Rubljow“) in seinem letzten Film „Opfer“ verwenden. Nun ist es hier das stumme Kind, das Jungchen, das wieder zu sprechen beginnt: „Am Anfang war das Wort. Warum Papa.“ Und damit endet der Film im Klang des Violinen-Solos der Erbarme-Dich-Arie aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach.

Poetisch-philosophisches Erbe des Vaters

Die Filme Tarkowskis sind einem Gebet gleich in Strophen und lange Pausen des optischen und akustischen Schweigens dazwischen gegliedert, in denen sich das Gebet erschließt. Das metrische Tropfen des Wassers in einer Pfütze, das rhythmische Hüpfen einer Murmel und ihr verstummender Auslauf, das dumpfe Rattern einen Zuges über Gleise, das ferne Rufen einer Sphinx, das nahe Atmen des Ratsuchenden wird begleitet von langsamen Schwenks über leeres Land, dampfende Wasser, Geisterstädte, antike Ruinen, weite Himmel oder plötzlich verlassene Landhäuser. Die Handlung ist Handlung eines Geschehens, das dem Taubenflattern, dem Augenaufschlag, dem Herzklopfen, dem Regen oder dem einsamen Telefonklingeln ganze Aufmerksamkeit gibt und spirituelle Resonanzen schafft. Jedes Wort ist darin platziert wie eine Intarsie. Und am allermeisten sind es die Worte seines Vaters, des berühmten russischen Lyrikers Arseni Tarkowski, die das Gebet aus Klang und Fotografie tragen:

Das Gras zu erkunden saß ich und sann,
als das Gras wie Flöten zu singen begann.
Harmonisch verwoben sich Farben zu Klängen,
und als die Grillen durchs tönende Glühn
kometengleich schossen mit Hymnengesängen
da wusste ich, Tau blinkt als Träne im Grün.
Und wusste, des Riesenaugs kleinste Facetten,
ein Funkeln im leuchtenden Flügelpaar,
sie bergen das glühende Wort des Propheten.
Und Adams Geheimnis, ein Wunder, ward klar.
Ich liebte mein Werk, Kunst der Fuge in Wörtern, die nichts
als Bestehen im Scheinen des eigenen Lichts,
Liebte rätselhaft trübes Gefühl und unvernunftheile Klarheit,
Im Worte kam ich wahrlich zur Wahrheit. Meine Sprache war streng. Und wahrhaft wie Spektroskopie,
fügsam beugten sich mir die Wörter und trugen sie.
Eines noch sag ich – dass recht hat, der denkt,
Ich liebte die Schatten von Klängen und Licht,
doch hab ich meinen Nächsten und die Schöpfung nicht gekränkt,
durch Kälte unsrer Väter Erde nicht,
und wie ich schaffend hier durchs Leben ging,
hab kühlen Wasser Trunk ich, täglich Brot genossen,
zur Nacht hat mich des Himmels Unergründlichkeit umschlossen,
dass Sterne mit auf die Arme fielen.

So sind Tarkowskis Filme nicht nur in einer familiären Tradition der Dichtung und poetisch-philosophischen Sichtweise entstanden, sondern generell in einer russischen literarisch-philosophischen Tradition, wie sie auch von Dostojewskij, Puschkin, Tolstoi oder Turgenjew geprägt und mitgetragen wurde. Das typische dieser russischen poetisch-philosophischen Tradition ist ihre tiefe Nähe zu Religion und Spiritualität die, ganz im Gegensatz zur Philosophie des Westens, damit auch ihr östliches Wesen ausmacht. Und so ist es für einen Russen ein tragischer Umstand, wenn er seine physische Heimat verliert, da er damit auch seine spirituelle Heimat verliert.

In dem Interview, welches der Journalist Max Dax mit dem Sohn Andrei Tarkowskis, Andrusha Tarkowski, 2013 in Italien führte, wird diese Konklusion eindrücklich vermittelt: ein Russe ist nicht in der Lage außerhalb Russlands Wurzeln zu schlagen und eine spirituelle Heimat zu finden. Diese Tragödie eines entwurzelten Exilrussen wird auch in „Nostalghia“ evident.

Andrei Arsenjewitsch Tarkowski starb am 29. Dezember 1986 im Alter von nur 54 Jahren in Paris an Krebs. Er ruht auf dem Russischen Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois im Département Essonne (Île-de-France) bei Paris neben seiner langjährigen Assistentin und zweiten Ehefrau Larissa Tarkowskaja.

Larissa Tarkowskaja erhielt erst nach Andreis Tod einen französischen Pass. Sie widmete sich fortan der Erhaltung von Tarkowskis Erbe, beteiligte sich aktiv an der Gründung des Institut international Andreï-Tarkovski in Paris und der Publikation seiner Schriften. Kurz nachdem sie die unter dem Titel „Andreï Tarkowski“ bei Calmann-Lévy erschienene Biographie vollendet hatte, starb Larissa Tarkowski am 19. Januar 1998 im Alter von 60 Jahren in Neuilly-sur-Seine bei Paris.

Anm.d.Red.: Bisher sind Tarkowskis Filme im deutschen Sprachraum lediglich in alten Abtastungen und in am Original nicht prüfbaren DDR-Synchron erhältlich gewesen. Seit dem Frühjahr 2014 bringt die Schweizer Stiftung trigon-film sieben Tarkowski-Titel in restaurierter und digitalisierter Fassung heraus, einige davon sogar in High Definition im Blu-ray-Format. Infos dazu hier. Wer mehr über das Schaffen dieses Ausnahme-Regisseurs lesen möchte, dem sei sein Buch “Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films” empfohlen (Alexander Verlag). Eine Retrospektive des Werks ist im Kino Arsenal vom 18. Juli bis 29. August 2015 zu sehen.

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