“Totale Transparenz”: Was ist die Zukunft der Zeitung unter den Bedingungen des Datenkapitalismus?

Wenn IT-Konzerne oder Staaten persönliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern für dubiose Geschäfte missbrauchen, ist der kritische Widerhall in den Zeitungen groß. Dabei fällt unter den Tisch: Zeitungen und Verlagshäuser haben in dieser Hinsicht keine weiße Weste. Vielmehr stehen sie heute vor der Herausforderung, eine komplexe Daten-Ethik zu entwicklen – kompatibel sowohl mit dem Persönlichkeitsrecht als auch mit dem Datenkapitalismus. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki kommentiert.

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Als der Philosoph Gianni Vattimo in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts seinen Essay “La società trasparente” veröffentlichte, steckte das Internet noch in den Kinderschuhen. Die digitale Revolution war am Horizont der gesellschaftlichen Entwicklungen für die wenigsten Menschen absehbar. Und doch formuliert Vattimo darin eine Idee der transparenten Gesellschaft, die bestens in das digitale Zeitalter passt.

Er beschreibt eine Gesellschaft, in der Medien eine neue Rolle zu spielen beginnen: Nicht nur die großen Institutionen, sondern alle können senden. Transparenz entsteht auf der Grundlage gegenseitiger Wahrnehmbarkeit. All die unterschiedlichen Akteure, die die Gesellschaft ausmachen, werden sichtbar; die heterogene Zusammensetzung der Gesellschaft wird im Zuge dessen transparent.

Mit der „historischen Wende zum allgegenwärtigen Internet“ gilt das „Ideal totaler Transparenz“ (SPIEGEL, 49/11) als umfassend verwirklicht. „Das Internet ist das erste Massenmedium, bei dem die Masse selbst aktiv werden kann.“ (Neuberger). Traditionelle Medienhäuser wie CNN haben das Potenzial dieser Entwicklung erkannt und ihre Formate entsprechend durchlässig gemacht, frei nach dem Motto: „Share your story“. (iReport)

Auch Zeitungen bereiten sich inzwischen auf die nächste Evolutionsstufe vor. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand: Ihre weitgehend geschlossene Kommunikationskultur wird durch das Internet mehr als nur herausgefordert. Unterschiedliche soziale Medien wie Blogs, Kurznachrichtendienste wie Twitter, soziale Netzwerke wie Facebook und Enthüllungsplattformen wie WikiLeaks begründen eine neue Medienordnung.

„Partizipative Kultur“ und „Datenfresser“

MIT-Medienwissenschaftler William Uricchio spricht von einer „partizipativen Kultur“, die sich in neuer Weise Bahn bricht. So alt wie die Bibel, entfalte die Praxis des gemeinsamen Verfassens von Inhalten, aber auch des Teilens und Vernetzens von Inhalten erst in der aktuellen Phase der digitalen Revolution ihr volles Potenzial. Für Journalismusprofessor Jeff Jarvis begründet sich damit eine neue soziale Norm der allumfassenden Transparenz: Eine Gesellschaft, in der alles geteilt, vernetzt und kollaborativ weiterentwickelt wird, erweitere nicht nur das kollektive Wissen, sie ebne auch den Weg zu mehr Toleranz und Gerechtigkeit.

Hier droht die Idee der transparenten Gesellschaft jeden Moment in eine Dystopie umzuschlagen. Beobachten, suchen, weiterleiten, empfehlen, reflektieren und senden – alle erdenklichen Handlungen der „partizipativen Kultur“ (Uricchio) sind für die Beschattungsprogramme von Konzernen und Staaten ein gefundenes Fressen. Je aktiver Menschen partizipieren, je reger sie die neue Stimmenvielfalt bereichern, desto umfassendere Profile lassen sich von ihnen erstellen.

Standen klassische Massenmedien im Ruf, ihre Nutzer zu manipulieren, so scheinen die sozialen Medien diese Funktion noch effizienter zu erfüllen: Sie sind näher dran, ja, sie verwachsen mit den Individuen. Wo beginnt und wo endet hier das Grundrecht, das dem Schutz einer Person vor Eingriffen in ihren Lebens- und Freiheitsbereich dient, das Persönlichkeitsrecht? Der Distanzverlust macht eindeutige Unterscheidungen des Persönlichkeitsrechts schwierig. Constanze Kurz, IT-Forscherin und Sprecherin des Chaos Computer Club, wird nicht müde, auf Verstoße hinzuweisen und für ein neues Bewusstsein zu plädieren – digitale Mündigkeit genannt. Der erste Schritt in diese Richtung: „Sich der Bedeutung seiner Privatsphäre bewußt zu werden, darüber nachzudenken, wo die Grenzen sind, was man für sich behalten will“.

In ihrem gemeinsam mit dem Hacker und Computerfachmann Frank Rieger verfassten Buch Datenfresser arbeitet sie heraus, wie die digitalen Bewegungsprofile der BürgerInnen zu einer neuen kapitalistischen Währung werden. Während das Wirtschaftssystem immer tiefer in die Krise taumelt, werden umfassende Datensätze über die Massen der Internet-Nutzer zu Kapitalanlagen: Die Konzerne verkaufen sie an meistbietende Werbeunternehmen; der Staat, der sie vordergründig nutzt, um seine Kontrollorgane auszubauen, setzt sie im internationalen Poker um geostrategische Vorteile ein.

Kurz, die aktuelle Phase der digitalen Revolution steht im Zeichen einer doppelgesichtigen Transparenz: Einerseits die Utopie einer offenen, vielstimmigen und alles teilenden Gesellschaft, andererseits die Dystopie einer Gesellschaft, in der Offenheit und Sichtbarkeit in Überwachung, Kontrolle und Manipulation umschlagen. Welche Rolle spielen Zeitungen in diesem komplexen und unübersichtlichen Szenario?

Zeitungen in der transparenten Gesellschaft

Wenn es nach Vattimo ginge, dann übernähmen Zeitungen eine zentrale Funktion in der „società trasparente“. The Guardian etwa hätte im Vattimo’schen Entwurf eine Vorbildfunktion. Wie kaum eine andere Zeitung hat das von Alan Rusbridger geleitete Medium die partizipativen Prinzipien der sozialen Medien in seine journalistische Philosophie und Praxis implementiert. Gleichzeitig, und das ist mit Blick auf die Kehrseite der Utopie von Bedeutung, zeichnet The Guardian immer wieder verantwortlich für weitreichende Enthüllungen, so auch die kriminellen Machenschaften der Presse, etwa im Phone Hacking-Skandal.

Am Beispiel der Zeitung lässt sich die gegenwärtige Transparenz-Problematik differenziert beschreiben. Aber die Zeitung ist hier mehr als ein Beispiel unter vielen. Öffentlichkeit, laut Jürgen Habermas das Kerngeschäft der Zeitung, wird im Zeitalter der Transparenz grundlegend neu bestimmt. Somit rückt die Zeitung in der aktuellen Phase der digitalen Revolution in den Brennpunkt eines weitreichenden Wandels. Erschüttert werden im Zuge dessen Fundamente – sowohl die der Zeitung als auch die der Gesellschaft im Allgemeinen. Ein Gradmesser dieser Entwicklung sind die Suchmaschinenergebnisse aus dem Jahr 2011: Allein in den Meldungen der Nachrichtenagenturen ergibt die Suchanfrage nach „Transparenz“ 4.666 Treffer. Zehn Jahre zuvor enthielten weniger als die Hälfte der Meldungen diesen Begriff. Passenderweise avanciert Transparenz zum Wort des Jahres in der Wochenzeitung Der Freitag.

Die Fragen, die sich vor diesem Hintergrund aufdrängen, lauten: Welches Bewusstsein haben Zeitungen in dieser Sache entwickelt? Wie tragen sie den komplexen Verhältnissen Rechnung? Wie vereinbaren Zeitungen die ethischen Imperative einer noch im Entstehen begriffenen digitalen Datenpolitik, speziell im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht, mit unternehmerischen Ansprüchen am vorgezeichneten Horizont aktueller kapitalistischer Währungen?

BILD und FAZ: Auch Zeitungen sind „Datenfresser“

Immer wieder geraten IT-Konzerne und Staaten in die Schlagzeilen, wenn es um schludrigen oder vorsätzlich kriminellen Umgang mit persönlichen Daten geht. Mögen Zeitungen in solchen Fällen als Anwalt des Bürgers auftreten – ihre Weste ist in diesen Fragen keineswegs weiß. Zeitungen überschreiten die schwammig definierten Grenzen des Persönlichkeitsrechts ebenso ungeniert wie Staaten und Konzerne.

BILDblog hat jahrelang die Verstoße der Bildzeitung untersucht: Auf wessen Kosten geht das skandalträchtige der jeweiligen Schlagzeile? Welche Privatperson wird hier gerade unrechtmäßig bloßgestellt? Wie wird dabei die Privatsphäre verletzt? Wie BILDblog-Gründer Stefan Niggemeier betont, hat die Bildzeitung nicht nur in der fernen Ära des Investigativjournalisten Günter Wallraff, sondern auch „in den vergangenen zehn Jahren gelogen, manipuliert, Menschenleben zerstört“. Die Konzernspitze rund um Matthias Döpfner gibt vor, dies aufklären zu wollen. Doch sie verschleiert alles systematisch.

Döpfners medienwirksame Aufarbeitung eigener Verfehlungen in Interviews für Print und TV ist bei genauerer Betrachtung nichts anderes als “Transparenz-Washing” (Klaus Raab). Und so bleibt die Akte Wallraff in der Geschichte Axel Springer eine Erinnerung daran, dass Europas Mediengigant selbst die Rechte seiner Angestellten nicht allzu ernst nimmt. Das Abhören und umfassende Ausspionieren des Personals gehört zur Tradition, ebenso die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz und anderen staatlichen Instanzen der Inneren Sicherheit. Zumindest wenn es darum geht, die eigenen Interessen zu schützen.

Die eigenen Interessen der Zeitungen, die sich gerne als tragende Säule der Demokratie inszenieren, sind vor allem wirtschaftlicher Natur. Die angesehene Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) zum Beispiel ist nicht das Produkt eines Wohltätigkeitsvereins. Vielmehr wird die FAZ von einem Mischkonzern auf den Markt gebracht, der diverse Informationsdienste, zwei Hotels, ein Kommunikationsinstitut, zahlreiche Verlage sowie ein Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen im Portfolio hat. Allein das Kommunikationsinstitut hat Kunden und Partner, zu denen die Crème de la Crème aus allen Branchen gehört: Bayer, Bertelsmann, Lufthansa, Daimler-Benz, Philips, etc.

Sind die Kunden der FAZ von den Kunden der Hotels und des Kommunikationsinstituts sauber zu trennen? In vielen Fällen ist das gar nicht gewollt. Denn das jeweilige Unternehmen profitiert vom Anderen – nicht nur beim Imagetransfer, auch und vor allem bei den Kontaktdaten. So wirbt eine Image-Broschüre der FAZ, bei seiner Arbeit könne das Kommunikationsinstitut auch die „Infrastruktur der FAZ GmbH nutzen und […] beispielsweise von einem der größten Zeitungsarchive sowie zahllosen Kontakten [profitieren].“

Datenkapitalismus: Zeitungen haben ihr Monopol verloren

Wo „riesiges Adresspotenzial“ attestiert wird, da kommt Goldgräberstimmung auf. Schließlich sind umfassende Kundenkarteien ein wichtiges Kapital. Besonders dann, wenn sie digital entstehen und betrieben werden. Datenbanken speichern Kundenverhalten, Algorithmen erstellen auf dieser Basis weitreichende Analysen, darunter Prognosen über Wünsche, Veranlagungen und Vermögensentwicklung. Stimmt das Angebot, wechseln die Daten den Besitzer.

Die IT-Konzerne haben das Erfolgsrezept kopiert und für das digitale Zeitalter fit gemacht. So liest man auch immer Neid heraus, wenn es heißt: „Facebook sieht Nutzerdaten als Geschäftsgeheimnis“. Auch der Handel mit Aufmerksamkeit, heute angeführt von Google & Co., ist von den Zeitungen erfunden worden. Vom „eyeball“-Modell ist in der Journalismusforschung die Rede, von dem Prinzip, den Augapfel als zentrales Nervensystem anzuzapfen, um Wissen über Zielgruppen zu gewinnen. Wer kauft unsere Zeitung? Wer hat welche Vorlieben? Dieses Wissen konnte lange Zeit erfolgreich an die Werbebranche veräußert werden.

Nicht, weil immer weniger Menschen die Zeitung lesen, sind Werbeeinnahmen rückläufig, sondern weil immer mehr und immer präziseres Wissen über die Menschen als Ziel von Werbebotschaften andernorts gewonnen werden kann: im Internet. Zeitungen haben ihr Monopol verloren – an Akteure, die das Internet von Anfang an vorbehaltlos nutzen. Daher verteufeln Zeitungen das Internet und seine zentralen Player. Die wichtigen Fragen fallen im Zuge dessen unter den Tisch: Wie können Zeitungen die neue Kultur der Partizipation auf einzigartige Weise bereichern? Wie können sie ethisch angemessen und unternehmerisch erfolgreich im aufkommenden Datenkapitalismus agieren? Es ist nicht zu erwarten, dass diese Fragen bald auf den Tisch kommen. Auch nicht, dass sie umfassend und kreativ bearbeitet werden. Die Zeitungen stehen sich selbst im Weg.

Glaubwürdigkeitverlust und Skandale am Medienmarkt

Zeitungen stecken seit mehr als einer Dekade in einer Identitätskrise. Die traditionellen Medienhäuser fragen sich, ob sie sich im Internet-Zeitalter behaupten können. Die Antworten werden in Alibi-Debatten gesucht, wenn es etwa unter dem Stichwort „Blogger vs. Journalisten“ darum geht, die Funktion des klassisch geschulten Journalisten gegen aufbegehrende Netizen zu verteidigen. Hier wird nicht nur ein falsches Feindbild beschworen – immerhin sind digital versierte Bürgerjournalisten als wichtige Ergänzung von Profi-Reportern zu sehen. Hier wird auch das Ausmaß der Krise verkannt. Den Zeitungen droht ein weitreichender Glaubwürdigkeitsverlust, der weit über die blinden Flecken der etablierten journalistischen Praxis hinausgeht.

Es geht nicht einfach nur darum, dass Journalismus kein Produkt, sondern ein Prozess sein sollte, an dem sich die gesamte Gesellschaft beteiligen kann. Es geht auf einer tieferen Ebene darum, wer diesen Prozess finanziert und steuert. Und um die Frage, welche Methoden koscher sind.

In letzter Zeit haben verschiedene Skandale den Medienmarkt erschüttert. Ob die Marke nun Basler Zeitung, BBC oder News International heißt – immer wieder erscheint das journalistische Trägermedium und die dahinter stehende Institution als undurchsichtiges Netzwerk. Hier herrschen Willkür und Hinterzimmerpolitik, als arbeiteten die Journalisten und ihre Manager in einem rechtsfreien Raum. Die Geldgeber bleiben mafiös im Dunkeln. Die journalistische Praxis nimmt kriminelle Züge an.

Es wäre falsch, die Branche unter Generalverdacht zu stellen. Aber es ist nicht undenkbar, dass sie sich selbst in eine Lage hineinmanövriert, in der die Identitätskrise zu einer umfassenden Glaubwürdigkeitskrise mutiert. Dafür spricht, dass das bisherige Krisenmanagement es versäumt hat, Offenheit und Ehrlichkeit zu Tugenden zu machen. Dafür spricht aber auch eine insgesamt unterentwickelte Ethik im Umgang mit Daten. Dieses Defizit zeigt sich auch dort, wo das Gegenteil behauptet wird.

Datenberg wird Datenschatz

Ein Beispiel ist der Fall „Cablegate“, bei dem Tausende von geheimen US-Depeschen von WikiLeaks an Verlagshäuser umgeleitet wurden. Als die Redaktion des SPIEGEL die Kontrolle über die Datenberge gewinnen konnte, gab es einiges zu feiern. Es war ein historischer Moment, zumal die Vormachtstellung des klassischen Journalismus behauptet werden konnte. Was die Hacker und digitalen Whistleblower-Fans nicht schaffen konnten, gelang hier: Das Material redaktionell nach kritischen Stellen zu sortieren, unter anderem im Hinblick auf den Schutz von Personen, und dann für eine breite Öffentlichkeit aufzuarbeiten.

Der Stolz über den eigenen Verdienst klang in fast allen Berichten durch. Aber auch in Interviews, die die SPIEGEL-Angestellten Außenstehenden gaben – etwa der zuständige Redakteur Holger Stark im Medienradio. Dabei ist vergessen worden, wie viel Potenzial der SPIEGEL bei der Auswertung verschenkt hat: Der Inhalt der Depeschen wurde nach boulevardtauglichen Themen sondiert (Häme über Politiker) und keineswegs technologisch zeitgemäß der Öffentlichkeit präsentiert. Von Datenjournalismus keine Spur – in Großbritannien etwa erlebte dieses neue journalistische Genre derweil eine Sternstunde.

Für The Guardian etwa waren die Depeschen ein Anlass, um technisch sowie erzählerisch neue Mittel zum Einsatz kommen zu lassen, zum Beispiel Visualisierungen, Karten, etc. Und um die Daten im Sinne der Open Data-Bewegung öffentlich zugänglich zu machen. Der SPIEGEL hingegen entschied sich dafür, dass Material für sich zu behalten. Warum? Man könnte es darauf schieben, dass die Redaktion verschlafen hatte, auf den neuen Schnellzug namens Datenjournalismus aufzuspringen. Doch hier ist mehr zu verbuchen als eine weitere verpasste Chance, den Journalismus und sein Trägermedium weiter zu entwickeln.

Chronisten sollten einen anderen Aspekt betonen: Als die US-Depeschen von WikiLeaks an den SPIEGEL weitergeleitet worden sind, sollten sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. WikiLeaks und SPIEGEL sind in einer neuartigen Partnerschaft als Vermittler in diesem Prozess aufgetreten. Wie aber hat der SPIEGEL seine Rolle interpretiert? Statt den Datenberg kontrolliert zu öffnen, wurde er zum Datenschatz umgewidmet, der in Deutschland auf Jahrzehnte hin exklusiv nur von der SPIEGEL-Redaktion ausgewertet werden durfte. Die verschlossenen Daten blieben verschlossen. In den Händen der Politik war dies einem machtstrategischen, jetzt in den Händen des Medienhauses einem unternehmerischen Kalkül geschuldet – dies bestätigte Jakob Augstein, der einen 24-Prozent-Anteil am SPIEGEL-Verlag vertritt, bei einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der re:publica 2011.

Unternehmerisches Kalkül: Daten sind das neue Öl

Das unternehmerische Kalkül meint hier: Daten sind das neue Öl. Wer Zugang hat, kann abschöpfen, auswerten und reich werden. Diese Logik wurde im weiteren Verlauf des US-Depeschen-Falls ad absurdum geführt. Die Depeschen wurden allesamt unkontrolliert öffentlich gemacht. Die dubiose Beteiligung von The Guardian an diesem Vorgang unterstreicht, dass selbst vorbildliche Medienhäuser noch davon entfernt sind, frei von datenethischen Zweifeln zu handeln.

Das unternehmerische Kalkül im Hinblick auf Daten – dieses Kalkül sollte in Zweifel gezogen werden. Einerseits mit Blick auf die bisher weitgehend undurchsichtige Aufstellung der Medienhäuser. Andererseits mit Blick auf eine Neubestimmung ihrer Daseinsberechtigung und Geschäftsmodelle in der aktuellen Phase der digitalen Revolution. Zeitungen und die dahinter stehenden Medienhäuser müssen unternehmerisch handeln, um überlebensfähig zu sein. Doch sie müssen auch einen Ethik-Codex definieren, den sie nicht nur nach Außen tragen, sondern auch nach Innen praktizieren. Und dieser Ethik-Codex betrifft auch und vor allem Daten.

Ob es um Informationsdienstleistungen im Finanz- oder Nautik-Sektor geht, ob es um die umfassende Einbindung von Kunden in die journalistischen Angebote einer Online-Zeitung oder um granulare Online-Werbung geht – alle unternehmerischen Ansätze, die für das digitale Zeitalter gemacht sind, stellen Zeitungen vor eine Herausforderung: Sie müssen eine umfassende Daten-Ethik entwickeln, die sich bewusst gegen die schleichenden Trends einer Verwässerung von Persönlichkeitsrechten stellt.

Neue Kommunikationsrituale und überraschende Fusionen

Wer die Zeichen der Zeit optimistisch liest, sieht die Zukunft der Zeitung in einer doppelten Öffnung liegen: Einerseits müssen Zeitungen sich gegenüber sozialen Medien, andererseits gegenüber ihresgleichen öffnen, sprich: sich mit anderen Zeitungen zusammentun. Was bedeutet das genau?

Zeitungen müssen sich einerseits für das Publikum öffnen, um die im digitalen Zeitalter geläufigen Kommunikationsrituale praktizieren zu können. Aber auch um „innovative Produkte zu entwickeln, die Kosten zu reduzieren und vorhandene Prozesse und Strukturen zu optimieren“, wie Christian Hoffmeister, Geschäftsführer der Hamburger Beratungsunternehmens Bulletproof Media, bei seinem Eröffnungsvortrag auf einem Kongress vom Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) sagte. Andererseits müssen Zeitungen deutlich wachsen, um in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie überhaupt eine Chance zu haben.

Inzwischen gibt es in der Branche ein Bewusstsein für diese Wende. Jüngste Meldungen aus dem Umfeld des BDZV belegen dies: „Jeder postet, egal ob Anzeigenleitung, Marketing oder Redaktion. Die Mitarbeiter haben einfach Lust darauf, die wollen kommunizieren.“ Und: „Zur Stärkung der nationalen Vermarktung: 7 Zeitungsverlage rotten sich zusammen“ (Kress). Wenn Zeitungen zu Kommunikationsnetzwerken werden, wenn sie es schaffen, sich gleichermaßen dialogisch und global aufzustellen, dann werden gigantische Datenmengen unter ihrer Kontrolle stehen. Das ist keine ferne Zukunftsmusik. Die Vorreiter des Medienwandels geben bereits jetzt optimale Studienobjekte in dieser Sache ab.

Der Online-Auftritt von The Guardian gehört zu den beliebtesten News-Angeboten der digitalen Welt – und setzt dabei voll auf User-Interaktion, Community und partizipative Formate. Was ist die Lektion für Zeitungen in Deutschland? Da The Guardian noch keine schwarzen Zahlen schreibt, gilt das Modell als suspekt. Das Portemonnaie verstellt hier den Blick in die Zukunft. Also drängen sich auch all die ethischen Fragen rund um die Zeitung als dialogisch-globales Kommunikationsnetzwerk zunächst nicht auf. Das ist ein gravierender Fehler.

Ist es angebracht, die doppelte Öffnung anzustreben, aber The Guardian aufgrund seiner Unprofitabilität auszulachen? Kürzlich hieß es hämisch im SPIEGEL: „journalistisch erfolgreich, ökonomisch ein Fiasko“ (Isabel Hülsen). Die Kritiker verweilen im berühmten „ein Schritt nach vorn, zwei Schritte zurück“-Modus. Sie scheuen ein klares Bekenntnis zur digitalen Revolution und warten im Zweifelsfall lieber ab. Das mag dem Einzelnen im jeweiligen Moment nicht schaden. Aber die Branche en gros wird mit dieser Haltung langfristig weiter an Bedeutung und Größe verlieren. Dabei gibt es für Zeitungen in der gegenwärtigen Phase der digitalen Revolution so unendlich viel zu tun.

Persönlichkeitsrechte und Daten-Ethik im digitalen Zeitalter

Ein beispielhaftes Tätigkeitsfeld sind Verstoße gegen das Persönlichkeitsrecht. Sie gehören heute zum Alltag der transparenten Gesellschaft. Staaten und Konzerne betreiben ihre fragwürdige Datenakquise quasi bei Tageslicht: systematisch und flächendeckend, im Schutze einer porösen Gesetzeslage. Man „bedient sich Schutzlücken, die sonst nur Kriminelle nutzen“, wie Politiker und Rechtsanwalt Gerhart Baum in der FAZ schreibt.

Die dauerhafte Beschattung der Bürger im digitalen Raum nimmt fast widerstandslos ihren Lauf, nur selten provoziert sie gesamtgesellschaftliche Empörung. Was kürzlich unter dem Schlagwort Staatstrojaner durch die Medien ging, bleibt ein Ausnahmefall des kollektiven Aufbegehrens gegen willkürlich agierende Mächte. Solche Fälle müssten nicht nur häufiger die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit erregen. Sie müssten auch mehr bewirken als Empörung. Doch nur wenige klassische Medien, die unverzichtbare Katalysatoren einer jeden sozialen Bewegung sind, haben einen langen Atem. Wer außer der FAZ hat den Themenkomplex Persönlichkeitsrechte, Datenschutz und digitale Gesellschaft prominent in seinem publizistischen Portfolio der Reihen und Serien aufgenommen?

Zeitungen wie die FAZ katalysieren die eruptiven Empörungswellen der Bürgerinnen und Bürger – es wäre auch an ihnen, daraus periodische Informationsströme werden zu lassen, die neue Bürgerbewegungen nachhaltig befeuern. Doch sie müssten dabei auf ihre Glaubwürdigkeit achten. Eine zukunftsweisende Positionierung innerhalb der transparenten Gesellschaft kann nur mit einer ebenso zukunftsweisenden Daten-Ethik behauptet werden.

Anm.d.Red.: Der Beitrag ist der vierte Teil einer Serie des Autors über Zeitungen im Medienwandel. Hier zum ersten Teil, hier zum zweiten und hier zum dritten Teil. Alle Fotos stammen von Noritoshi Hirakawa.

16 Kommentare zu ““Totale Transparenz”: Was ist die Zukunft der Zeitung unter den Bedingungen des Datenkapitalismus?

  1. Hab Probleme mit dem Text, du willst zu viel auf einmal: Datenfresser, Transparenz, Kapitalismuskritik, Journalismus, Qualität, Finanzen, PR, Vernetzung, Fusionen, …

  2. Stefan Niggemeier greift das Thema in seinem Text im aktuellen Spiegel auch auf: Er meint, dass die Medien die von Wulff eingeforderte Transparenz selbst nicht liefern würden. Beispiel ist die BILD-Zeitung, die indirekt durch andere Medien durchsickern lässt, was auf der Mailbox-Nachricht von Wulff enthalten ist, anstatt diese Nachricht für alle zugänglich zu machen.

  3. ziemliche Mühe hat mir das lange Lesen bereitet, wie dem Autor das Schreiben nehme ich an. Die Gedanken kreisen noch um. Ich spüre hier kommt was zur Sprache, mehr als eine Ahnung vom schwarzen Loch.

  4. Guter Anlauf, viele wichtige, relevante Fragen. Indirekt, so lese ich es, wird auch die Frage nach der journalistischen Integrität gestellt, die natürlich etwas mit dem Umgang mit Daten zu tun hat. Aber welchen Daten? Hier gibt es ganz unterschiedliche Arten von Daten und daher sollte man verschiedene Ebenen trennen. Dass Verlage selbst Daten sammeln, ist vor allem eine Marketingsache, dass Redaktionen Recherchematerial anhäufen eine journalistische Angelegenheit. Entsprechend ja auch die übliche Trennung zwischen Anzeigenabteilung und Redaktion. Der Text sollte daher stärker zwischen dem Verlag als kaufmännischer Institution und der Redaktion als journalistischer Institution trennen, um wirkliche Interessenskonflikte und Hindernisse zu definieren – und Lösungsansätze zu formulieren. (Beim Spiegel ist ja das interessante, dass die Redakteure praktisch selbst auch Verlagseigner sind und selbst in Personalunion kaufmännische Interessen verfolgen. Dennoch gibt es eine Trennung zur Anzeigenreaktion – hier laufen die Interessenskonflikte ein wenig anders.) Mit welchen Daten muss also wer wie umgehen, ist die Frage. Eine Antwort, die da formuliert “Die Zeitungen …”, “Die Medien …” kommt da vielleicht nicht sehr weit.
    Eine weitere Frage ist natürlich die nach der journalistischen Selbstkontrolle – reichen die Formulierungen im Pressekodex noch aus? Ich glaube nein, wie der Fall Wikileaks gezeigt hat.

  5. @#2: “du willst zu viel auf einmal”: vielleicht ein Symptom, der von mir angesprochenen Komplexität im Hinblick auf die Daten-Ethik, die zu entwickeln ist von Zeitungen; unübersichtlich wird es erst, wenn man sich in das konkrete Feld hineinbegibt und die Forderung nach beidem zugleich (Geschäft und Gemeinwohl) auch umgesetzt sehen will.
    Einige der Begriffe, die du mir zuschreibst (u.a. PR), die “will” nicht ich, die werden in eben diesem Feld “aktiviert”.

  6. @#3,4: die “Causa Wulff” ist sicherlich auch ein Fall von versuchtem Transparenz-Washing — Wullf benutzt diesen Begriff als modische Wendung, ohne die es im gegenwärtigen Diskurs kein Überleben gibt: aber was leistet er tatsächlich in Sachen Transparenz?

    Andererseits (ich danke für die Hinweise) sind die Medien natürlich eben in dieser problematischen Situation, Ansprüche zu stellen, die sie selbst nicht erfüllen (können): die Frage ist, ob es im Umkehrschluss untersagt sein sollte in einer solchen Gemengelage dann überhaupt Ansprüche zu stellen. Ich bin kein Fan davon, wie die Medien sich in der Causa Wullf verhalten, aber Fragen stellen, Ansprüche stellen — das ist auch ihre Aufgabe, selbst dann, wenn sie die Kriterien, die sie an andere legen, nicht gerecht werden.

    Medien werden derzeit neu erfunden, im Zuge der Digitalisierung, im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen, sie dürfen deshalb nicht das Handtuch werfen, und so tun, als gäbe es nichts zu tun — ausser dem ganzen Baustellenkram innerhalb ihrer eigenen System-Innenwelt.

    Dennoch können sie den inneren Zwist, den auch sie spüren, zum Anlass nehmen, um die Aussenwelt mit neuen Maßstäben zu betrachten (Wolfgang Michal schrieb dazu kürzlich einige interessante Gedanken auf in einer populären “Theorie der Vermischung” (http://www.wolfgangmichal.de/?p=1544)) — so funktioniert am besten immmer im Dialog.

  7. @#6: in der Tat gibt es sehr viele unterschiedliche Daten, die allesamt unterschiedliche Formen von Sensibilität erforderlich machen, sicherlich ist der Text an einigen Stellen nicht deutlich genug in der Abgrenzung, aber: das Problem ist, dass diese Abrenzungen so vielleicht in der Vergangenheit/Geschichte aufgestellt worden sind, ebenso wie du sie jeweils zuordnest, aber die Gegenwart hat gezeigt, dass diese Grenzen nicht mehr bestehen, dass sie schwammig werden. Ein gutes Beispiel ist, und das zeige ich im ersten Teil meiner Textserie über die Zeitungen im Medienwandel auf, die Aufhebung der Trennung von Verlag und Redaktion.

    Hier der Link zum besagten Text:

    http://berlinergazette.de/zeitung-schirrmacher-chinesische-mauer/

  8. Mit wollen meinte ich den Text: Für meinen Geschmack werden zu viele Themenfelder auf einmal behandelt. Das Thema ist komplex, eine weitere Folge hätte vielleicht das Verständnis erleichtert. Hier lesen ja auch nicht nur Datenschützer und/oder Journalisten.

  9. apropos Glaubwürdigkeitsverlust: selbst das weltweitangesehenste Zeitpunktsprojekt, die New York Times, weiß davon ein Lied zu singen, wie Isabell Hülsen auf Seit 132 des PIEGEL (2/2012) berichtet:

    “die vergangenen zehn Jahre haben dem Selbstbewusstsein der Zeitung zugesetzt. Die Glaubwürdigkeit ist angekratzt, seit der Redakteur Jayson Blair 2003 überführt wurde, Geschichten gefälscht zu haben. Dass die Redakteurin Judith Miller vor dem Irak-Krieg der US-Regierungspropaganda von den vermeintlichen Massenvernichtswaffen Saddam Husseins aufsaß, tat sein Übriges. Das Trauma war noch nicht ganz verarbeitet, da schlug die Finanzkrise zu. Nur dank eines – inzwischen abbezahlten – 250-Millionen-Dollar-Kredits des zwielichtigen mexikanischen Geschäftsmannes Carlos Slim kam die “Times” über die Runden, ein Schlag für die auf ihre Unabhängigkeit bedachte Redaktion.”

    http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2012-2.html

  10. Interessante Gedanken.

    Nur kurz zur Erinnerung, ohne einen Gegensatz behaupten zu wollen .. möchte ich kurz zwei Begriffe noch einmal klarstellen:

    – Datenschutz: Vermeidung des Herstellens und Verbreitens _personenbezogener_ Daten
    – Transparenz: Offenlegung von Prozessen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung
    – nicht von Individuen

  11. […] Der Herausgeber des Onlinemediums “Berliner Gazette” Krystian Woznicki fragt in seinem aktuellen Essay nach der Zukunft der Zeitungen und deren Verlage im Spannungsfeld des Themenkomplexes Datenschutz, digitale Gesellschaft und Verletzung von Persönlichkeitsrechten.

    Mit Blick auf aktuelle Ereignisse und tiefgreifende Transformationsprozesse im Medienmarkt attestiert Woznicki den Verlagen eine “unterentwickelte Ethik im Umgang mit Daten” und folgert daraus, dass diese “einen Ethik-Codex definieren [müssen], den sie nicht nur nach Außen tragen, sondern auch nach Innen praktizieren.”

    Den facettenreichen und wichtige Fragen aufwerfenden Essay in der “Berliner Gazette” finden Sie hier. […]

  12. Fahnder der Kriminalpolizei und die Berliner Staatsanwaltschaft haben am Mittwochnachmittag das Büro eines Reporters der Tageszeitung “Berliner Morgenpost” und die Wohnung des Journalisten durchsucht. Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE ermitteln die Behörden gegen den Redakteur, weil dieser einen Mitarbeiter des Landeskriminalamts (LKA) für Informationen aus laufenden Ermittlungsverfahren bezahlt haben soll.

    http://www.spiegel.de/panorama/justiz/verdacht-auf-beamtenbestechung-durchsuchung-bei-berliner-morgenpost-a-870055.html

    Nach der Razzia bei der “Morgenpost” legt die Zeitung Beschwerde ein. Der Springer-Verlag hält die Aktion nach SPIEGEL-Informationen für “eklatant unverhältnismäßig”. Die Details des Falls führen in einen Graubereich, es geht um die Beziehung zwischen einem “Mopo”-Reporter und einem LKA-Beamten.

    http://www.spiegel.de/panorama/justiz/berliner-morgenpost-engagierte-lka-beamten-als-bodyguard-a-870514.html

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