Um extraktivistische Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur zu überwinden, müssen wir die Verwobenheit von Extraktivismus und Mobilität auflösen, Mobilitätsmuster verändern, die Extraktivismus untermauern, ermöglichen und fördern, und uns über nicht-extraktive Mobilitäten Gedanken machen, argumentieren Tim Leibert, Lela Rekhviashvili und Wladimir Sgibnev in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
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Erinnern Sie sich noch an den Dreieckshandel aus Ihrem Geschichtsunterricht in der Schule? Ab dem 16. Jahrhundert brachten europäische Schiffe Sklaven aus Afrika über den Atlantischen Ozean entlang der sog. Middle Passage zu Plantagen in Amerika. Dort nahmen die Schiffe Nutzpflanzen an Bord – Baumwolle, Zucker, Tabak – und segelten mit dem Golfstrom nach Europa. Dann brachen die Seeleute mit dem Kanarenstrom nach Süden auf und führten Industriegüter mit, die für den Kauf von Sklaven aus Afrika bestimmt waren, und das Dreieck setzte sich von neuem in Bewegung.
Dieses komplizierte Zusammenspiel auf globaler Ebene beinhaltete einerseits extraktivistische Ströme und Beziehungen – völkermörderische Vertreibungen und eine massive Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen. Andererseits, so unsere These, trug dieses Zusammenspiel dazu bei, ein immer perfekteres Wissen über Navigation und Schiffbau zu schaffen: materielle und immaterielle Infrastrukturen der Mobilität, die einen vernetzten Extraktivismus ermöglichten.
Wir argumentieren, dass Extraktivismus in Verbindung mit Mobilität ein ausbeuterisches Wirtschaftsystem hat entstehen lassen, das zur Zerstörung von Böden, der Atmosphäre, von Lebensräumen und Gesellschaften geführt hat und in der heutigen Klimakrise gipfelt. Wir schlagen daher vor, Extraktivismus und Mobilität als untrennbar miteinander verbunden zu betrachten – und genau diese Verbindung als konstitutiv für die kapitalistische Weltwirtschaft zu begreifen. Um die extraktivistischen Beziehungen zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Natur zu überwinden, müssen wir notwendigerweise die Verwobenheit von Extraktivismus und Mobilität auflösen, Mobilitätsmuster verändern, die den Extraktivismus untermauern, ermöglichen und fördern, und uns über nicht-extraktive Mobilitäten Gedanken machen.
Das Gegenteil von Nachhaltigkeit
Wir sehen Extraktivismus als ein Machtverhältnis, das die Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen ermöglicht und die Reproduktion und Regeneration dieser Ressourcen vernachlässigt – also als das Gegenteil von Nachhaltigkeit: Er läuft den Kernprinzipien von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz zuwider. Im Einklang mit einem umfassenden Verständnis der extraktivistischen Ströme und Beziehungen nehmen wir bewusst ein breites, ganzheitliches Verständnis von Mobilität an, das vielfältige Bewegungen einschließt – von Zwangsvertreibung über Care-Migration und Pendelströmen bis hin zur Mobilität von Waren und Ideen und der Mobilität von Wissen bei der Arbeit (für und) gegen Extraktivismus.
Ausgehend von diesem ganzheitlichen Verständnis von Mobilität schlagen wir zwei Hauptwege vor, auf denen Extraktivismus und Mobilitäten miteinander verwoben sind. Erstens ist die Mobilität ein entscheidender Ermöglicher des Extraktivismus, indem sie Arbeitskräfte für extraktive Industrien mobilisiert und Orte der Extraktion mit Orten des Konsums und der Kapitalakkumulation verbindet. Wir bezeichnen dies als Mobilitäten des Extraktivismus. Zweitens erzeugt die Mobilität selbst einen Bedarf an Extraktion und produziert ausgedehnte und vernetzte Landschaften der Extraktion im Dienste von immer weiter expandierenden mobilitätsbezogenen Industrien und Infrastrukturen, der extraktivistischen Mobilitäten.
Mobilitäten des Extraktivismus
Die Gewinnung von Rohstoffen an den globalen Peripherien, seien es Nutzpflanzen, Erze oder fossile Brennstoffe, zeigt diese Verflechtungen deutlich auf, mit dem transatlantischen Sklavenhandel als brutalsten Ausdruck dieser Verflechtungen. Wir können aber auch den extraktivistischen Charakter von Mobilitätsinfrastrukturen nachvollziehen, wenn wir z. B. eine Karte von Subsahara-Afrika betrachten und den Eisenbahnlinien folgen, welche die Bergbaubecken mit Häfen an der Meeresküste verbinden und dabei die großen Bevölkerungszentren umgehen.
Die Gewinnung von Rohstoffen bringt auch die Mobilität von Menschen mit sich: die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung und die Ankunft von Personen, die an der Gewinnung von Rohstoffen beteiligt sind. Man denke an den Goldrausch am Klondike oder die Zuwanderung zentralasiatischer Arbeitskräfte in die russischen Öl- und Gasfördergebiete in Westsibirien. Eine weitere Form der Mobilität von Menschen in Regionen, in denen Rohstoffe abgebaut werden, ist der Zustrom von Ingenieuren, Managern und Staatsvertretern und mit ihnen die Mobilität von Wissen und Praktiken, die auf den Abbau von Rohstoffen ausgerichtet sind, sowie von Finanzströmen, Krankheiten und Materialitäten, die die Produktionszyklen und das tägliche Leben durchdringen.
Wir können auch Mobilitäten erwähnen, die sich außerhalb der Rohstoffgewinnung in den globalen Süden richten, wie die Ausbeutung von kulturellem Kapital und Würde durch Massen- oder Sextourismus oder die Verlagerung von Industrien an Orte mit niedrigeren Umweltstandards und geringerem Schutz für Arbeitnehmer. Hervorzuheben ist auch der extraktivistische Charakter der Arbeitsmigration in Zentren unterschiedlicher Größenordnung, seien es regionale Hauptstädte oder der globale Norden. Die Abwanderung von Fachkräften fordert einen hohen Tribut in den Ursprungsgesellschaften und erschöpft die Ressourcen für die soziale Reproduktion in Ländern wie Moldawien oder Bosnien und Herzegowina. Dies geht Hand in Hand mit einer zunehmenden Abhängigkeit von Geldüberweisungen – d. h. mit einem erhöhten Tempo finanzieller Mobilitäten – sowie mit dem Einzug neuer sozialer Normen und Werte.
Extraktivistische Mobilitäten
Diese vielschichtigen Verflechtungen von Extraktivismus und Mobilität führen zu sich gegenseitig verstärkenden negativen Ergebnissen, vor allem im Hinblick auf negative Klimaauswirkungen: Massentourismus geht einher mit außerordentlichen Externalitäten von Kurz- und Langstreckenflügen. Die autobasierten, motorisierten Alltagskulturen des globalen Nordens sind auf die Gewinnung fossiler Brennstoffe angewiesen, was auf der ganzen Welt schwere Auswirkungen auf das Klima und die biologische Vielfalt hat.
Das Aufkommen batteriebetriebener Elektrofahrzeuge, Hyperloops und wasserstoffbetriebener Kreuzfahrtschiffe sind nur auf den ersten Blick eine mögliche Lösung. Weder stellen Elektroautos das Primat des privaten Automobils auf der Mobilitätsseite der Gleichung in Frage, noch lösen sie die extraktivistischen Probleme, die mit der Produktion von Batteriezellen und der Stromerzeugung verbunden sind. Extraktivistische Verhältnisse in Bezug auf die Nutzung und den Missbrauch von städtischem Raum, Parkplätzen und Zersiedelung tragen ebenso zum Problem bei wie sozial ungleiche Umverteilungspolitiken zugunsten der Ober- und Mittelschicht, z.B. Subventionen zum Kauf von Elektroautos.
In Deutschland sinken die sektoralen Kohlendioxidemissionen des Verkehrssektors nicht, was bedeutet, dass der extraktivistische Charakter der Mobilität trotz aller Ankündigungen nicht angegangen wird. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen einer echten Mobilitätswende, die auf eine Entkopplung der Mobilität von extraktivistischen Verflechtungen abzielt, und einer “Antriebswende”, die diese problematische Verbindung aufrechterhält.
Mobilitätspolitiken, sei es automobile oder ÖPNV-orientierte, werden nach wie vor im Sinne eines kapitalistischen, extraktiven Systems gedacht: als Faktoren von Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum, um das Pendeln zur Arbeit und die Reproduktion von Arbeitskraft zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist die Debatte über die Internalisierung der externen Kosten der Auto-Mobilität zwar gut gemeint, aber unzureichend, da sich die extraktivistischen Grundlagen unseres derzeitigen Mobilitätssystems nicht quantifizieren lassen, sondern notwendigerweise auf vergangene, aktuelle und zukünftige Ungerechtigkeiten verweisen.
Mobilität und Extraktivismus entkoppeln
Wir sind uns schmerzlich bewusst, dass die Aussichten auf eine Entkopplung von Mobilität und Extraktivismus in der gegenwärtigen historischen Situation nicht günstig sind. Hegemoniale Entwicklungspläne konzentrieren sich vielmehr auf groß angelegte Vernetzungsinfrastrukturen, die neue Landschaften der Extraktion erschließen und sie an die urbanen Zentren der Kapitalakkumulation anbinden. Die jüngste Welle der weltweiten Militarisierung angesichts der russischen Invasion in der Ukraine schafft nur weiteren Bedarf für Ressourcenabbau und wird möglicherweise weitere groß angelegte Vertreibungswellen auslösen.
Politische Lösungen für Klimakrisen sind langsam, verstreut und wenig koordiniert und werden dem Ausmaß der laufenden und prognostizierten ökologischen und sozialen Krisen kaum gerecht. Wenn es um Mobilität und Extraktivismus geht, scheinen die bestehenden dominanten Lösungen eher darauf abzuzielen, das System mit vermeintlich nachhaltigeren Lösungen zu optimieren, um das Produktions- und Konsumniveau beizubehalten oder weiter auszubauen, anstatt, wie wir vorschlagen, die bestehenden Mobilitätsmuster des Extraktivismus und extraktivistischer Mobilitäten zu unterbrechen.
Diese facettenreichen und vielfältigen skalaren Verbindungen zwischen Mobilität und Extraktivismus anzuerkennen ist entscheidend, um technische und – was noch wichtiger ist – politische Lösungen und Wege für soziales Handeln zu finden. Nachhaltige Mobilitäten müssen notwendigerweise nicht-extraktiv sein. Die Proteste im Jahr 2021 gegen die Beteiligung von Siemens an der Beschaffung von Eisenbahnsignalen für ein neu zu errichtendes australisches Kohlebergwerksprojekt sind ein Beispiel dafür, wie entscheidend Mobilitätsinfrastrukturen für extraktivistische und damit CO2 -lastige Volkswirtschaften und Gesellschaften sind.
Überwindung extraktivistischer Machtverhältnisse
Auch wenn es nur um einen kleinen Teil des Bergbauvorhabens ging und die Proteste letztlich erfolglos blieben, machten sie einmal mehr deutlich, dass der Kohlebergbau zwangsläufig auf Häfen und Anschlussbahnen angewiesen ist. Das Hauptproblem ist also eine Entkopplung von Mobilität und Extraktivismus. Eine Perspektive der “Übergangsgerechtigkeit” – Transitional Justice – könnte dazu beitragen, die ökologische und soziale Relevanz des öffentlichen Verkehrs und des Schienengüterverkehrs, des Zu-Fuß-Gehens und des Radfahrens, der lokalisierten Produktion und des Konsums sowie die Anerkennung unterdrückter Stimmen und Erfahrungen zu bewerten und verschiedene wirtschaftliche Praktiken aufzudecken, die im Widerspruch zu motorisierten Gesellschaften stehen.
Darüber hinaus müssen wir uns für die Schaffung nicht-extraktiver Migrationssysteme einsetzen. Auch hier erscheint eine ganzheitliche Perspektive auf die Mobilität hilfreich. In diesem Zusammenhang muss darauf geachtet werden, eine nicht-extraktive Mobilität von Wissen und Daten zu ermöglichen (z. B. um dem Brain-Drain aus (ländlichen) Peripherien entgegenzuwirken). Die Förderung der Mobilität von Wissen über nicht-extraktive Mobilitäten ist eine Komponente dieser Agenda: die Verbindung und Stärkung von Bewegungen, die sich gegen Extraktivismus auf nationaler und internationaler Ebene wenden, und die Schärfung des Bewusstseins für negative externe Effekte sowohl extraktivistischer Mobilitäten als auch von Mobilitäten des Extraktivismus auf Klima, biologische Vielfalt und Lebensgrundlagen. Diese Öffnung der Perspektive könnte hilfreich sein, um unser ganzheitliches Verständnis von Mobilität zu unterstützen und die Mehrdimensionalität und Komplexität extraktivistischer Machtverhältnisse zu verdeutlichen.
Anm.d.Red.: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; die englische Version ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de