Misstrauen ist Mainstream: Wie der Journalismus in postfaktischen Zeiten wieder auf die Beine kommt

Was kann und muss Journalismus heute leisten? Wenn die Realität sich in den Händen einiger weniger wie Wachs formen lässt? Wenn eine Beraterin des Weißen Hauses von “alternativen Fakten” spricht, um unverhohlene Lügen zu rechtfertigen? Berliner Gazette-Autorin Kim Ly Lam fordert den bewussten Netzkonsum und einen Journalismus, der sich nicht vor Selbstkritik scheut. Ein Aufruf.

*

„Lügenpresse!“, schrien sie aufgebracht. Anfangs waren es keine tausend. Man hatte sie bereits in die Schublade der Verschwörungstheoretiker gesteckt, sie zwischen Chemtrail-Propheten und Verneinern der Mondlandung abgeladen, als der Populismus sich ihrer bediente.

Monatelang fütterte er die Verängstigten mit Falschinformationen und Zerrbildern, lobte ihre Angst als Stärke und nannte ihren Argwohn eine Vision, die es zu verteidigen gelte. Der rechtspolitische Flügel hat einen Keil zwischen das angebliche Establishment und das angebliche Volk getrieben.

In einer Zeit, in der der Begriff postfaktisch zum Wort des Jahres gekürt wurde, ist der informierte Bürger verwirrter denn je. Wir blicken zwischen all dem emotionalen Gebrüll nicht mehr durch, finden die dreckigsten Schlammschlachten unter den gründlichsten Artikeln und sind von Fake News umgeben. Misstrauen wird wieder Mainstream, denn man surft nicht mehr, man ertrinkt im Netz.

Doch welche Rolle spielt hierbei der Journalismus? Wie konnte etwas für die Demokratie Geschaffenes, die Vision des Netzschöpfers Tim Berners-Lee, sich in eine Gefahr umkehren? Und wer profitiert in Wirklichkeit von wem?

Warum wir misstrauisch sind

Eine kritische Haltung ist angesichts des ganzen Wirrwarrs sicherlich gesund. So wimmelt es im Netz von Interessenträgern, die ihr Interesse möglichst effektiv in die Köpfe anderer Nutzer einpflanzen wollen. Dies gilt nicht nur für radikale und populistische Gruppierungen; die Idee des grenzenlosen Teilens von Inhalten ist ein Fundament des freiheitlichen Grundgedankens im World Wide Web. Der einfache Zugang zu Inhalten und die vielen Möglichkeiten der Partizipation sollen demokratische Strukturen schaffen. Dennoch streben einige Mechanismen im Netz das Gegenteil an.

Man schaue sich die Filterblase an, ein Konstrukt aus Algorithmen, das berechnet, welche Informationen uns zugänglich sind. Die Filter sorgen dafür, dass wir von Dingen umgeben sind, die uns gefallen und unserer Weltsicht entsprechen. So sortieren sie dem Linkspolitiker linke Inhalte aus und dem AfD-Anhänger populistische Parolen. Wir schaffen uns im Netz eine Umwelt aus Gleichgesinnten, versinken in einem digitalen Egotrip, der unsere Sucht nach Selbstbestätigung befriedigt.

Wenn wir Angst haben, sehen wir umso mehr, was uns Angst macht. Wenn wir wütend sind, umgeben uns noch wütendere Stimmen. Somit ist das gefilterte Internet der perfekte Inkubator für explosive Emotionen und agiert zugleich als kapitalistischer Markt der Information. Es gilt im Wettbewerb der Reichweite möglichst viel Einfluss zu gewinnen, um vom Filter zu profitieren.

Auch etablierte Medien und deren Online Auftritte sind von diesem Kapitalismus betroffen. Einige versuchen sich dem Markt anzupassen, indem sie die Frequenz ihrer Artikel erhöhen und die Länge beschneiden. Die Recherchen werden kurzatmiger und die Titel überspitzt; in besonders schlimmen Fällen, versucht manch unreflektierter Redakteur den inneren Voyeur des Lesers herauszukitzeln. Clickbaits sind eine Droge, die die Leistung und Qualität des Journalismus drosseln. All dies weckt das Misstrauen des Lesers.

Der Informationskrieg im Internet

Trotz all der berechtigten Kritik sollte man nicht in Gefahr laufen, paranoid zu werden. Dies spielt nämlich Interessengruppen in die Hände, die eben jenes Misstrauen nutzen, um geachtete Medien in Verruf zu bringen und die Gesellschaft zu entzweien. Sie verstecken sich dabei im Dickicht der sozialen Medien, kreischen „Lügenpresse!“ in die Kommentare und setzen Fake News in die Welt, die sie nicht beweisen können. Man behauptet mehr als das man sich behaupten müsste, bedarf es schließlich keiner Rechtfertigung, die einen von Fakten abhängig machen würde. Längst habe sich die Konkurrenz der Informationen in einen internationalen Informationskrieg ausgeweitet, warnen zahlreiche Experten.

Aktuellster Fall: Der Hackerangriff Russlands auf den E-Mail-Server der Demokratischen Partei während der US-Wahl. Der Kreml habe laut New York Times bewusst auf die Veröffentlichung der Dokumente gesetzt, um die Reputation der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zu gefährden.

So sei die gezielte Selektion und Veröffentlichung von Informationen ein Mittel, um die Öffentlichkeit zu manipulieren und Ländern den Kampf anzusagen. In einem 2012 veröffentlichten Artikel verglich Putin diese Form des Kriegs mit einer Art „soft power“, die es dem Staat ermöglichen würde, in die heimische Politik anderer Länder einzugreifen.

Der russische Medienanalytiker Wassilij Gatow formulierte es mit folgenden Worten: „Wenn das 20. Jahrhundert vom Kampf um die Informationsfreiheit geprägt war, so wird sich das 21. Jahrhundert durch den Missbrauch des Rechts auf Informationsfreiheit auszeichnen.“ Was wir im Netz beobachten ist also ein Desinformationskrieg, der sich von Unwahrheiten nährt. Den Begriff der „Lügenpresse“, der seine Konkurrenz schwächt, begrüßt er geradezu mit offenen Armen.

Zensur ist keine Lösung

Was tun, um der Orientierungslosigkeit und Unwahrheit ein Ende zu setzen? Fakt ist: Es ist schwierig zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, zumal beide Pole sich in einem Kontinuum befinden. Wer entscheidet, was wahr ist? Ab wann wird eine Meinung eine Lüge? Keiner dieser Fragen ist leicht zu beantworten, weshalb die Idee eines Wahrheitskommittees bedenklich ist. Zudem würde eine Zensur den freiheitlichen Grundgedanken des Internets zerstören.

Der neue Plan von Facebook, Meldemöglichkeiten gegen Fake News zu schaffen, wird vor allem vom rechten Flügel der USA kritisiert. Das soziale Netzwerk hatte im Rahmen der US-Wahl massive Beschwerden über die verbreitete Desinformation erhalten. Nun wolle es laut Reuters den Nutzern erlauben, angebliche Fake News zu markieren, welche im Anschluss an externe Redaktionen weitergeleitet werden müssten. Sollten diese die Nachrichten weiterhin für zweifelhaft befinden, könnten sie künftig seltener in den Newsfeed erscheinen. Dafür sorgt ein Algorithmus, der eigens für dieses Vorhaben angepasst wurde.

Das Pilotprojekt wird zunächst nur in den Vereinigten Staaten getestet. Dort hagelt es bereits Vorwürfe seitens des rechtspolitischen Lagers, das von einer „Zensur-Architektur“ spricht. Ob der Plan der sozialen Plattform tatsächlich aufgeht, ist schwer zu beurteilen. Klar ist, dass ein Meldesystem schnell missbraucht werden kann.

Man stelle sich einen erweiterten Desinformationskrieg vor, der nun auch auf der Meldeebene stattfindet und die externen Redakteure schnell überfordern könnte. Auch lässt sich über die Legitimation der Redakteure streiten, die unseren Informationsfluss steuern würden.

Wir brauchen politische Verantwortung und Zeit

Trotz aller Problematik benötigt die Netzgemeinde wie jede Gemeinschaft verbindliche Regeln des Zusammenlebens. Wir verbringen einen beträchtlichen Zeitraum unseres Lebens im Internet und befinden uns dabei in einem sozialen Raum, dessen Gestaltung wir überwiegend Unternehmen und fremden Interessengruppen überlassen.

Das World Wide Web agiert für viele Nutzer als Hauptquelle für Informationen, immer mehr Menschen ziehen ihre Nachrichten über das Tagesgeschehen aus dem Internet. Es bedarf Richtlinien und Grenzen, die einen Qualitätsstandard garantieren und uns schützen. Wer politisiert, muss schließlich politische Verantwortung tragen.

Einen Schritt in diese Richtung hat die Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union bereits gemacht. Die Digitalcharta wurde von 27 Bürgerinnen und Bürger initiiert und dem Europäischen Parlament in Brüssel sowie der Öffentlichkeit Anfang Dezember zur Diskussion übergeben.

Sie will Grundrechte einfordern, die für den digitalen Raum gelten. Nun lässt sich die Idee der digitalen Grundrechte weiterentwickeln. Man könnte beispielsweise überlegen, wie sich der Geist der wehrhaften Demokratie in Form von weiteren Rechten in das Internet übertragen ließe. So müssen wir Wege finden, um die Grundwerte unserer Gesellschaft gegen Angriffe im Netz zu verteidigen.

Verantwortungsbewusster Medienkonsum

Auch ist das eigene Verantwortungsbewusstsein beim Konsum von Medien auszubauen. Wenn ZDF-Journalistin Dunja Hayali in ihrer Dankesrede zur Goldenen Kamera für die Kategorie „Beste Information“ darüber spricht, dass Wahrheit Zeit braucht, dann ist dies ein Appell an uns, sich mehr Zeit für die Wahrheit zu nehmen.

Das Netz mag zwar Informationen beschleunigen, doch es beschleunigt sich nicht von selbst; vielmehr geht es auf das Bedürfnis des Nutzers ein, möglichst viel Information mit möglichst wenigen Mitteln in kürzester Zeit zu verarbeiten.

Parallele Tabs und Fenster verstreuen unsere Aufmerksamkeit, denn wir lenken uns ab, wenn wir einem Podcast lauschen und gleichzeitig auf Facebook und ZEIT Online unterwegs sind. Es gilt das beschleunigte Netz neu zu interpretieren und neu zu nutzen, um dieser Verstreuung und gar Ablenkung zu widerstehen. Stichwort: Medienkompetenz.

Recherche ist der [Pseudo-]Meinung Feind

Wahrheit braucht also Zeit und damit auch Recherche. Letztere ist das einzige Mittel, um unsere Meinung zu reifen, ihr ein Fundament zu verleihen und sie von ihrem Ursprungszustand der losen Vorstellung einer Meinung, dem pseudohaften Abklatsch einer wahrhaft abgewägten Meinung, zu befreien.

Bedeutet: Eine echte Meinung kommt erst nach der Recherche, nicht davor. Sie ist keine Meinung um der Meinung Willen, sondern ein Erzeugnis der Reflexion. Reflektieren kann jedoch nur der, der seine eigene Sichtweise mit konkurrierenden Perspektiven vergleicht und herausfordert.

Umso wichtiger ist es für den Journalismus, Leserinnen und Leser eben all jene Perspektiven vorzustellen. Er muss der Versuchung widerstehen, in einen belehrenden Tonfall abzurutschen, der ihn von seinen Lesern entfremdet und eine Superiorität anmutet, die Journalisten nicht beanspruchen sollten.

Als vierte Gewalt arbeiten die Medien für das Volk; Augenhöhe ist daher fundamental, Erziehungspädagogik nur selten angebracht. Letztere kann bei falscher Anwendung gar eine Ablehnung des Lesers bewirken. Im Schlimmstfall sieht er darin das Bild des hochnäsigen Establishments bestätigt und schließt sich den angeblich volksnahen populistischen Medien an.

Letztendlich müssen wir einen selbstkritischen transparenten Journalismus anstreben, der bodenständig und ehrlich ist. Es liegt in unserer Entscheidung, all diejenigen Medien zu konsumieren, die sich der Recherche, Zeit und Wahrheit verschreiben. Nur so erhalten sie die Impulse, die sie benötigen, um Qualität durchzusetzen. Qualitätsjournalismus braucht unsere Unterstützung und wir brauchen ihn. Heute mehr denn je.

Anm. d. Red.: Die Fotos stammen von Andi Weiland und stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz.

2 Kommentare zu “Misstrauen ist Mainstream: Wie der Journalismus in postfaktischen Zeiten wieder auf die Beine kommt

  1. bravo… und danke fuer eine gehaltvolle und ueberlegte und vernuenftige analyse …

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.