Kindesmissbrauch und “Knabenspiel”. Wie Jungs instrumentalisiert werden

Das so genannte “Knabenspiel” ist eine Form des Kindesmissbrauchs, die in Afghanistan trotz Verbot nach wie vor praktiziert wird. Jungen werden von Männern wie Sklaven gehalten und müssen sexuelle Übergriffe über sich ergehen lassen. Die Opfer sind lebenslang traumatisiert und werden oft selbst zu Gewalttätern. Ein Teufelskreislauf, der sich nur schwer durchbrechen lässt, vor allem, weil das “Knabenspiel” als kulturelle Praxis verklärt wird. Berliner Gazette-Autorin Kim Ly Lam nimmt sich des komplizierten Themas an.

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Es wird erregt geklatscht und gelacht. Der Raum ist voll, die Männer sitzen auf dem Boden und blasen Haschischwolken in die Luft. In der Ecke singt der Lautenspieler von Herzschmerz und unerwiderter Liebe, aber es achtet keiner auf ihn. Die Aufmerksamkeit gilt dem Jungen, der in Frauenkleidern und Glöckchen um die Herren tanzt. Er trägt Schminke, die von den weichen und doch markanten Gesichtszügen ablenkt. Vielleicht soll sie auch seinen Schmerz verstecken, das weiß niemand. Das will auch niemand wissen.

Knabenspiel lautet Bacha Bazi übersetzt und es sind meistens einflussreiche Männer, die diese hinterfragbare Tradition in Afghanistan praktizieren. Darin geht es um Macht und Ansehen, welches mit dem Besitz eines Tanzjungen steigt. Die sogenannten Bacha Bereesh müssen sich nach Einkauf schminken und für ihre Herren auf Parties tanzen, sie des Öfteren im Anschluss sexuell befriedigen.

Ein Bacha Bereesh hat sich dann nicht zu beschweren, er muss seinem Herren widerstandslos dienen. Wer sich dagegen wehrt, wird bestraft: Untreue Tanzknaben werden hinter Gitter gebracht und nicht selten ermordet. „Solange es kein Reintegrationsprogramm für diese Kinder gibt, können wir ihren Schutz nicht sicherstellen.“, gibt Dee Brillenburg Wurth zu. Die UNAMA-Beraterin für Kinderschutz schaut dem menschenrechtswidrigen Treiben der Knabenspieler schon seit Langem machtlos zu. Denn die Bekämpfung des Brauchs ist von außen nur schwer durchzuführen.

Ausgenutzte Armut

In Afghanistan nennt man die Besitzer von jungen Tanzknaben „Bacha Baz“. Sie kommen oft aus höheren Schichten, sind ehemalige Offiziere oder Warlords und können bis zu zehn Jungen besitzen, sagt Soraya Sobhrang. „Die Nummer deiner Jungen spiegelt deine Macht wider. Du musst viel Geld ausgeben, um die Jungen zu bezahlen und zu versorgen. Es zeigt deinen Reichtum“, erklärt die Beauftragte der Kommission AIHRC (Afghan Independent Human Rights Commission).

Ein Reichtum, der die Kinder anlockt: Im Alter zwischen 12 und 15 Jahren befinden sich die meisten von ihnen, wenn sie erstmals von einem Bacha Baz angesprochen werden. Es sind Kinder, die auf der Straße spielen oder in verlassenen Gassen herumlungern, Knaben, die aus ärmlichen Verhältnissen stammen. Wenn der Baz mit seinem Auto ranfährt, reagieren sie oft mit Neugier und begrüßen ihn aus Höflichkeit.

Sie werden gefragt, was sie am liebsten spielen, ob sie zur Schule gehen und wie es den Familien geht. Das Erstgespräch wirkt wie eine unschuldige Aufmerksamkeitsbekundung, die das Vertrauen der Jungen gewinnt. „Ich bin ein Hirte“, sagt der Baz zum Schluss, „ich habe Geld und möchte euch helfen.“ Tatsächlich lassen einige arme Eltern ihre Kinder freiwillig gehen. Sie hoffen, dass die finanzielle Unterstützung des Baz ihren Söhnen Perspektiven bietet.

Andere wiederrum kommen aus zerrütteten Familien und rennen vor diesen weg. Auch hier treibt sie die finanzielle Situation in die Arme ihres Meisters. „Ich möchte irgendwann mal unabhängig sein“, heißt es später häufig, „aber momentan ist das Tanzen meine einzige Überlebensmöglichkeit.“

Es ist unklar, wie viele Kinder derzeit als Bacha Bereesh sexuell ausgebeutet werden. Nur wenige von ihnen bekennen sich der Prostitution, da sie gesellschaftliche Ausgrenzung fürchten. Zudem fällt es ihnen schwer, über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen. Ein Report der AIHRC berichtete 2014, dass 81 Prozent der befragten Tanzknaben vor ihren Meistern fliehen wollen. Nur 89 Prozent der bekannten Täter würden jedoch strafrechtlich verfolgt werden. Der Beistand für einen Bacha-Bazi-Aussteiger sei gering, nur wenige würden Hilfe erhalten oder beschützt und reintegriert werden.

„Frauen sind für Kinder da, Jungen für das Vergnügen.“

Bacha Bazi hat tiefe Wurzeln, denn es ist eine jahrhundertealte kulturelle Praktik. In einem Land, das den meisten Frauen öffentliches Auftreten untersagt und Frauenprostitution nahezu mehr tabuisiert als Kindesmissbrauch, findet es Zuspruch. Frauen seien für Kinder da, Jungen für das Vergnügen. Der höhere Wert, der dem männlichen Geschlecht zugesprochen wird, spielt hierbei eine große Rolle. Dennoch ruft die Praktik Kontroversen hervor.

Während die Taliban unter ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001 Bacha Bazi verbannten und Partizipanten verfolgten, feierte die Tradition nach Rückzug der Terrormiliz ihre Rückkehr. Anhänger argumentierten, dass sie nicht in die Jungen verliebt und daher auch nicht homosexuell seien oder gegen ihre Religion verstoßen würden.

In ihrem Buch „Die Knabenliebe in Mittelasien: Bačabozlik“ hielt die Sozialwissenschaftlerin Ingeborg Baldauf 1988 fest, dass es keine verbindlichen Rechtsquellen in der mittelasiatisch-islamischen Rechtsauffassung zum Knabenspiel gebe und daher auch keine Möglichkeit zur Bestrafung. „Der bačaboz [Bacha Baz] sucht und findet im Umgang mit Knaben einen Ersatz für personale Bindungen, die ihm das Ehe- und Familienleben nicht bieten kann“, erklärt Baldauf. Einer Statistik des AIHRC zufolge befinden sich 78 % der ihnen bekannten Täter in einer Ehe.

Polizisten sind in Knabenspiele verwickelt

Inzwischen sollen einige Taliban dazu hinübergegangen sein, die Tanzknaben für Terrorakte zu instrumentalisieren. Die britische Zeitung The Daily Mail hatte vergangenen Juni gemeldet, dass es im südlichen Afghanistan Attacken auf Polizisten gegeben habe. Letztere seien auf einer Tanzparty überrascht und von den Jungen angegriffen worden. Bereits 2010 war die internationale Gemeinde auf solche Parties aufmerksam gemacht worden, nachdem US Soldaten weiterzubildende afghanische Offiziere beim Tanzen mit den Knaben ertappt hatten.

Der damalige afghanische Innenminister Hanif Atmar habe die amerikanische Presse darum gebeten, den Vorfall zu verschweigen. In einem darauffolgenden Jahresbericht der UN wurde die Involvierung der afghanischen Polizei in Bacha Bazi scharf verurteilt. „Manche Kommandeure auf Distriktebene umgehen den formalen Rekrutierungsprozess und heuern Jungen an, darunter auch für sexuelle Zwecke“, enthüllte Radhika Coomaraswamy, damalige UN-Sondergesandte für Kinder in bewaffneten Konflikten. Es handele sich hierbei um einen direkten Fall von Kindesmissbrauch.

Dennoch berichteten viele US Soldaten die Jahre darauf, dass sie von ihren Vorgesetzten dazu angehalten wurden, die Bacha Bazi Praktik zu dulden. So sollten sie wegschauen, da es sich um eine fremde Kultur handele, die sie nicht verstehen würden. Die New York Times veröffentlichte 2015 schließlich einen Artikel zur Ermordung des US Soldaten Gregory Buckley, der sich gegen das Knabenspiel ausgesprochen hatte.

Dem Obergefreiten war aufgefallen, dass die vermeintlichen Tee-Jungen der afghanischen Kommandeure abends in die Zelte gerufen wurden und anschließend laute Schreie von sich gaben. Es wird vermutet, dass seine Ermordung mit seiner Kritik gegen die tatverdächtigten Polizisten zusammenhängt. Mittlerweile ist Bacha Bazi in Afghanistan gesetzlich verboten. Doch die strafrechtliche Verfolgung der Täter verläuft nur schleppend – nicht zuletzt aus dem Grund, dass einige verantwortlichen Behörden den Kult selbst praktizieren.

Konsequenzen von Bacha Bazi

Die Zeit als Bacha hinterlässt bei vielen Tanzknaben schwere seelische Schäden. Nur bei wenigen Jungen hält die Beziehung zu ihrem Herren ein Leben lang – die meisten werden nach dem Einsetzen ihres Bartwuchses von ihrem Aka verstoßen. Die traumatisierten Jungen landen dann auf der Straße und stürzen ab. Es folgen Drogenkonsum und Prostitution, eine düstere Zukunft.

Einige wählen jedoch einen Weg, der auf dem ersten Blick recht unverständlich wirkt. Sie werden nach ihrer Entlassung selbst zu einem Knabenspieler, engagieren andere Jungen zum Tanzen und führen die Missbrauchskette fort. Tatsächlich hat dieser Akt tiefverankerte psychologische Gründe.

Wissenschaftler nennen das Phänomen „trauma re-enactment“, den Zwang, traumatische Erlebnisse zu wiederholen und durchzuspielen. Manchmal mündet dies in Masochismus oder baut einen unsichtbaren Käfig, der das Leben von den Opfern determiniert. Sie können ihr Trauma nicht benennen oder besprechen, taumeln in etwas Ungreifbarem, das wie eine Kette schwer um ihre Brust liegt.

Wenn ein ehemaliger Bacha Bereesh zum Knabenspieler wird, versucht er sich neu zu erfinden. Er spielt die Szenen seiner Vergangenheit nach und stellt einzelne Details um, porträtiert sich als Aggressor statt als Opfer. Mit dem Wechsel vom Passiven ins Aktive versucht er die Kontrolle über die Situation zu erlangen, die ihm in seiner Vergangenheit entglitten ist.

Wie in den meisten Missbrauchsfällen oder Gewaltakten handelt es sich auch bei Bacha Bazi um ein Spiel zwischen Macht und Machtlosigkeit. Es sind zwei Pole, die in ihrer Interaktion durch Handlungen des Dominierens verknüpft sind, und entsprechende Bedürfnisse im Täter reizen. Diese Bedürfnisse sind unter anderem Sexualtrieb, Besitz und Macht.

Dass die Tradition daher vor allem Hierarchie und Androkratie in Form von Kindesmissbrauch auslebt, steht außer Frage. Zentral ist es, die Legitimation und Berechtigung einer solchen Praxis zu hinterfragen, wenn der Konsens der Beteiligten, in diesem Fall der Konsens der Knaben, erzwungen wird.

Wird Freiheit als universales und objektives Recht definiert, scheiden Kulturalität und Subjektivität als Argumentation und Bewertungskriterien aus. Und so scheint man Bacha Bazi nicht damit entschuldigen zu können, dass die Tradition Teil einer fremden und uns unbegreifbaren Kultur sei. Missbrauch bleibt in jedem Kontext gleich; er nimmt den Kindern ihre Kindheit und Freiheit. Aber nicht das Recht darauf.

Anm. d. Red.: Das Foto stammt von Mateus Lunardi Dutra und steht unter Creative-Commons-Lizenz.

2 Kommentare zu “Kindesmissbrauch und “Knabenspiel”. Wie Jungs instrumentalisiert werden

  1. In der islamischen Tradition ist ja sogar der Verkehr mit Tieren positiv beschrieben, ähnlich wie auch im europäischen Mittelalter. Es ist schon seltsam welche liberalen Praktiken es alles gibt in einem Kulturkreis, den man oftmals für unterdrückerisch hält. Richtig ist dennoch: “so scheint man Bacha Bazi nicht damit entschuldigen zu können, dass die Tradition Teil einer fremden und uns unbegreifbaren Kultur sei.” – darüber zu reden, das ist schon mal gut.

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