Hippies, Computer und Geheimdienste: Die Vorgeschichte des Silicon Valley ist auch die Vorgeschichte des Ausnahmezustands in der vernetzten Gesellschaft. Die Historikerin Felicity Scott begreift diesen Nexus als Ausgangspunkt, um bei der Berliner Gazette-Jahreskonferenz FRIENDLY FIRE wegweisenden Fragen zur Politik der Staatsbürgerschaft nachzugehen. In diesem Interview unternimmt sie eine vorläufige Bestandsaufnahme.
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Heutzutage feiert man die Computerkultur als eine Form von Gegenkultur – ein Mem, das die Hippies in den 60er-Jahren prägten. Frau Scott, Sie haben diesen Zusammenhang ausgiebig erforscht: Kennzeichnend für die Philosophie der Hippies war demnach, dass die Hippies die Beziehung zwischen Regierung und Polizei auf der einen Seite und den Outlaws (den außerhalb des Gesetzes Stehenden) auf der anderen Seite auf kluge Weise durchschauten und für sich geschickt zu nutzen verstanden (vergleiche „The Outlaw Area“ von Stewart Brand, im Jahr 1970 als Beilage zum Whole Earth Catalog erschienen). Können Sie erläutern, was genau die Hippies über diese Beziehung dachten und was dies für die Vorstellung von Staatsbürgerschaft bedeutete?
Ihre Frage enthält viele wichtige Facetten, und ich freue mich besonders, dass Sie folgende komplexe und teilweise widersprüchliche Wechselwirkung ansprechen: In den späten 1960er-Jahren und frühen 1970er-Jahren traten in der US-amerikanischen Gegenkultur diejenigen Menschen, die zunehmend einen Anspruch auf eine nichtreguläre Staatsbürgerschaft erhoben, in eine eigenartige Wechselwirkung mit einem System, das aus Computerisierung, Herrschaftstechniken und der Polizei bestand. Man muss tatsächlich alle diese Facetten zusammendenken, wenn man verstehen will, worum es im damals von solch medienerfahrenen Menschen wie Stewart Brand propagierten Libertarismus ging. Man versteht dann auch, warum Brand solch einen großen Einfluss auf die kulturelle Vorstellungswelt dieser Epoche hatte, und man versteht auch, warum Ideologien, die die Vorstellung von „einer Welt“ und vom „Outlaw“ beinhalten, sich bis heute gehalten haben – vor allem in der Computerkultur mit ihren scheinbar „alternativen“ und „freiheitlichen“ Werten.
Brand erkannte auf geradezu geniale Weise, dass die Basis für die unbestimmten Logiken der damals in Amerika aufkommenden Kommunikationstechnologien, der Ökologie und des Idealismus der neuen sozialen Bewegungen eine politische Ambivalenz war. Seine „Genialität“ trat aber noch viel mehr in seiner bemerkenswerten Fähigkeit zutage, bestehende Ideale und Gefühle zu aktivieren und sogar gegenkulturelle Forderungen nach Freiheit, Transformation und Vernetzung für seine eigenen Zwecke umzuschreiben. Mächtige Personen aus dem militärisch-industriellen Komplex und aus den die Transformation der Herrschaftsformen vorantreibenden Institutionen kamen durch Brands Vermittlung mit Hippies und anderen neuen sozialen Subjekten zusammen. Letztere waren ja eigentlich radikal gegen den von diesen Mächtigen propagierten Militarismus und Nationalismus.
Innerhalb der Hippie-Kultur wurden sehr unterschiedliche Ansätze zu einer nichtnormativen oder weniger normativen Subjektivität entwickelt (hier ging es nicht immer direkt um Staatsbürgerschaft). Ich würde diese Ansätze nicht in einen Topf mit Brands recht zynischer Nutzung dieser Kultur zu nationalistischen und globalisierenden Zwecken werfen wollen. Ich versuche vielmehr zu verstehen, warum diese unterschiedlichen Bereiche in eine so starke wechselseitige Beziehung gerieten und warum der Idealismus der Hippies so häufig – mit unterschiedlicher Intensität – dazu neigte, zum Thema Staatsbürgerschaft eine entpolitisierte subjektive Haltung einzunehmen. Schließlich stellten die Hippies gleichzeitig die normale US-amerikanische Vorstellung von der Staatsbürgerschaft infrage.
Ich würde nicht sagen, dass die Verbindung aus Computern, alternativen Kulturen und der Kritik an Polizei und Herrschaftsstrukturen keinen Boden für eine progressive Auffassung von der Staatsbürgerschaft bereitet. Ich sehe im Gegenteil die Möglichkeiten dieses Feldes und hoffe, dass diese Möglichkeiten weiter genutzt werden. Ich möchte jedoch eindringlich darauf hinweisen, dass solche Ideale von mächtigen Akteuren gekapert werden können und dass solche Ideale oft radikal erscheinen, ohne es in Wirklichkeit zu sein.
Um die Politik der Staatsbürgerschaft weitergehend zu reflektieren: Genau wie zu den Zeiten von Stewart Brands gegenkulturellen Aktivitäten ist in unserer heutigen digitalen Kultur, die von einem intransparent operierenden Unternehmens-Regierungs-Komplex dominiert wird, die Vorstellung von Innovation eng mit dem Gedanken der Illegalität verknüpft. Welche Auswirkungen hatte das damals auf die Konstruktion von Staatsbürgerschaft innerhalb und außerhalb einer von Gesetzen umhegten Staatlichkeit?
Der Begriff „Innovation“ ist einer dieser schwierigen Begriffe, die wir genau prüfen sollten. Allzu oft verbindet sich damit eine unkritische Fortschrittserzählung, also beispielsweise eine Erzählung über den sozialen, politischen, wirtschaftlichen, technischen oder künstlerischen Fortschritt. Der Begriff wird oft von dominanten Institutionen und Akteuren verwendet, um eine bloße Veränderung als „fortschrittlich“ zu kennzeichnen, ohne dabei die mit dieser Vorstellung zusammenhängende politische Gesinnung offenzulegen.
Innovation hat einen positiven Klang. Der Begriff taucht immer dann auf, wenn man vom „Guten“ sprechen will, und er wird ja auch andauernd verwendet. „Innovationen“ haben jedoch nicht immer sozial und politisch progressive Auswirkungen. Die politischen Kampagnen und der Regierungsstil von Donald Trump sind, wenn überhaupt etwas, dann „innovativ“. Trotzdem der Begriff auch auf diese Weise verwendet werden kann, brauchen wir ihn – oder die Sprache der Innovation – nicht unbedingt zu vermeiden. Wir sollten Veränderungen jedoch innerhalb eines größeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenhangs sehen, in denen sie wirksam werden; wir sollten stets für jeden Einzelfall die rhetorische und politische Wertigkeit prüfen.
Man kann Innovationen schließlich verschieden nutzen, nämlich auch für sozial progressivere und gerechtere Zwecke. Wir müssen deshalb zusätzlich zur Frage des „Wie“ folgende Frage stellen: „Wem und zu welchem Zweck dienen Innovationen?“ Mit dieser Frage hängt teilweise meine Faszination für die verführerischen Behauptungen eines Buckminster Fuller oder eines Stewart Brand zusammen. Diese Autoren behaupteten, dass sich Innovationen in so genannten „Outlaw-Räumen“ ereignen, in Räumen also, die nicht von Regeln oder Gesetzen eingeschränkt werden.
Es ist natürlich eine gefährliche Fiktion, zu glauben, solche Outlaw-Räume befänden sich irgendwie außerhalb der politischen Sphäre. Auch solche Räume existieren natürlich innerhalb eines größeren Systems, das von Macht und Herrschaft geprägt ist. Im Fall von Fuller kann man dieses größere System als „Imperialismus“ und im Falle von Brand als „Neo-Imperialismus“ bezeichnen. Outlaw-Räume bleiben aber Orte für Kämpfe, Orte, die nach wie vor das Potenzial zur Neugestaltung solcher Beziehungen haben. (Illegale israelische Siedlungen in der West Bank sind in diesem Sinne auch Outlaw-Räume.) Die in Outlaw-Räumen hervorgebrachten Innovationen wirken sich aber letztlich in unterschiedlichen sozialen und geografischen Bezugssystemen auch unterschiedlich aus.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Von der ambivalenten Beziehung zwischen Legalität und Illegalität, die mich so fasziniert, erhoffe ich mir vor allem, dass meine historischen Forschungen die Kraft bekommen, in der Welt der Gegenwart als Gespenst die Runde zu machen. Ich freue mich daher, dass Sie diese Frage gestellt haben und eine Querverbindung zur Staatsbürgerschaft hergestellt haben, vor allem da dies auch einen Bezug zur politischen Funktion des heutigen Staates hat.
Ich möchte in dem Zusammenhang daran erinnern, dass seit dem Zweiten Weltkrieg die herrschenden Vorstellungen von der Staatsgewalt immer wieder mit Nachdruck infrage gestellt wurden und werden. Zusammen mit den Vorstellungen von der Staatsgewalt wurden und werden auch implizit die Vorstellungen von der Staatsbürgerschaft infrage gestellt. Das Konzept der Staatsbürgerschaft ist ja an der Schnittstelle zwischen Herkunft, Staat und Territorium aktiv. Wir müssen mit anderen Worten innerhalb der so genannten Neuen Weltordnung, die teilweise durch von den USA angeführte Globalisierungskräfte gelenkt wird und unserer Gegenwart den Stempel aufdrückt, zunächst folgende Fragen stellen: Wer konstruiert die neuen Vorstellungen von Innovation, Herrschaft und Staatsbürgerschaft? Wem ist es gestattet, in diesem Raum der Illegalität aktiv zu sein? Und zu welchem Zweck ist er oder sie in diesem Raum aktiv?
Der Zugang zu denjenigen Räumen, die Brand positiv als „Outlaw-Räume“ beschrieb, ist nicht symmetrisch. Das Gleiche gilt auch für den Zugang zu den politischen Gemeinwesen, in denen der Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft im konventionellen Sinne besteht. In meinen Forschungen beschäftigt mich daher die Frage, ob man diese politische Ambivalenz nicht auf andere Weise nutzen könnte. Die Frage ist für mich, ob die zu konstatierende Fluidität und Instabilität nicht auch die Chance für strategische Umkehrungen von Macht bietet und ob der Niedergang der festgefügten und grundlegenden Beziehungen zwischen Bürgern und Staaten nicht auch andere politische Möglichkeiten bereithält.
Ich möchte damit nicht die weiter existierende Bedeutung des Staates für aus der Staatsbürgerschaft abgeleitete Rechte und für andere rechtliche Ansprüche schmälern. Es gibt viele Beispiele aus den Kämpfen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, wo durch politischen Kampf Illegalität in ihr Gegenteil verkehrt wurde, beispielsweise als es darum ging, wo eine nichtweiße Person sitzen oder essen darf. Die Grenze hat sich in diesen Fällen gerade aufgrund von staatsbürgerlichen Aktivitäten verschoben. Der Staat hat nach wie vor bei solchen gesetzlichen Veränderungen eine Schlüsselfunktion inne. Ich denke die Frage ist aber, ob solche Aktivitäten auch in einem postnationalen Rahmen oder auch in anderen Räumen stattfinden können, und falls dies der Fall ist, wie solche Aktivitäten dann aussehen könnten.
Der militärisch-industrielle Komplex diente auch als Experimentierfeld für computerbewanderte Hippies, deren Aktivitäten zur Normalisierung bestimmter Formen von Gesetzlosigkeit beitrugen. Das Kunst-Architektur-Medien-Performance-Kollektiv Ant Farm kann als Inspirationsquelle für die Suche nach Alternativen zu dieser Tendenz dienen. In Ihrer Arbeit zu diesem Thema haben Sie einmal gesagt, dass Ant Farm in Projekten wie „Truckstop Network“ (1971) „einen Raum für das Konzipieren und Testen einer vernetzten Gesellschaft eröffnen“. Könnte man auch sagen, dass Ant Farm einen Raum für das Konzipieren und Testen der Staatsbürgerschaft innerhalb einer vernetzten Gesellschaft eröffnet hat?
Obwohl ich viel Zeit damit verbringe, den Apparat zu hinterfragen, in denen Ant Farm arbeitet und interveniert, bezeichne ich die Gruppe in meinen Arbeiten nach wie vor als „gutes Anschauungsmaterial“. Fragwürdig finde ich insbesondere die engen Beziehungen der Gruppe zum militärisch-industriellen Komplex, wie sie in ihrer Verbindung zur Computerszene in und um San Francisco und zu Stewart Brand zum Ausdruck kommt. Für mich ist vor allem das Verständnis der Gruppe von Architektur wichtig: Sie betrachten Architektur nicht allein aus dem Blickwinkel der formalen, ästhetischen oder funktionalen Rahmenbedingungen dieser Disziplin, wie das für dieses Fach und diesen Berufszweig normal wäre (obwohl die Gruppe diese Rahmenbedingungen nicht komplett vernachlässigt; sie geht jedoch mit diesen Rahmenbedingungen mit großer Ironie um). Ant Farm betrachtet Architektur zusätzlich auch aus dem Blickwinkel der sozialen, subjektiven, medientechnischen, institutionellen, wirtschaftlichen, politischen oder geopolitischen Rahmenbedingungen.
In diesem Sinne enthüllt die Arbeit der Gruppe auf vielfältige Weise, wie Architektur den gewalttätigen und diskriminierenden Logiken des gegenwärtigen biopolitischen Apparats unterworfen ist; wie sie mit normativer Tendenz als Kontrollmechanismus für unsere Umgebung fungiert und wie sie mit der Aufgabe betraut ist, die Gesundheit, Sozialisation und Produktivität der Bevölkerung zu regulieren. Wichtig ist in dem Zusammenhang jedoch, dass Ant Farm Architektur auch als Ort des politischen Protestes und des Widerstandes, sogar als Ort der semantischen Umkehrung sieht. Die Gruppe ist auch ein Beispiel dafür, wie Architektur, gerade dadurch, dass sie so eng mit den heutigen Mächten verbunden ist und sich mit diesen überschneidet, die Verbindungen innerhalb der dominanten Herrschaftssysteme teilweise unterbrechen oder neu definieren kann.
Die Gruppe zeigt Möglichkeiten auf, wie man sich auch auf andere Weise zu diesem herrschenden Apparat verhalten kann und wie man diesen kreativ umlenken oder für andere Zwecken nutzen kann. Ant Farm nimmt die Ironie ernst. Einfach ausgedrückt glaube ich, dass wir in der Arbeit der Gruppe Spuren einer künstlerischen Praxis finden, die noch nicht vollständig in die von Stewart Brand propagierten technisch-sozialen Logiken integriert worden ist. Diese Praxis zeigt, dass es so etwas wie einen künstlerischen Rest oder Überschuss gibt, welcher die Grenzen dieser Systeme im Hinblick auf ihre Folgen für Subjekte und Umgebungen markiert.
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang auf die Rolle zurückkommen, die die Outlaws und die Illegalität spielen. Bitte erlauben Sie, dass ich etwas abschweife, bevor ich zu meiner eigentlichen Frage komme. Illegalisierte Migranten bewegen sich ja heute oft in einem rechtlosen Raum. Sie bewegen sich also in einem Raum, der sich außerhalb der Beziehung und der Vereinbarung befindet, die der Staat für seine Bürger eingerichtet oder mit ihnen geschlossen hat, eine Beziehung und Vereinbarung, die nicht zufriedenstellend und in verschiedener Hinsicht auch nicht akzeptabel ist. Dadurch, dass die illegalisierten Migranten sich in diesem Raum bewegen, missachten sie den nationalstaatlichen Rahmen und destabilisieren potenziell auch die Komplizenschaft des Staates mit dem Kapitalismus. Dabei erweitern Migranten potenziell auch die Vorstellung davon, was politisches Handeln ist. Migration, vor allem in seiner illegalisierten Form, kann deshalb auch als soziale Bewegung angesehen werden. Trotz – oder bis zu einem gewissen Grad gerade wegen – ihrer extremen Gefährdung und Unsicherheit sind illegalisierte Migranten in der Lage, die politische Sphäre zu erneuern und den Raum der Demokratie auf unerwartete Weise zu erweitern und neu zu definieren. Vor diesem Hintergrund stelle ich mir die Frage, ob Sie in der Epoche und bei den Akteuren, die sie untersucht haben, dieses Potenzial ebenfalls gesehen haben. Wer eröffnet oder eröffnete einen politisch-emanzipatorischen Raum für das Konzipieren und Testen der Staatsbürgerschaft an ihren legalen Grenzen? Wie sieht dies jenseits der legalen Grenzen aus? Kann dies für unsere Zeit noch von Bedeutung sein?
Zum Teil lässt sich diese Frage dadurch beantworten, dass ich konkret auf mein jüngstes Buch Outlaw Territories: Environments of Insecurity/Architectures of Counterinsurgency eingehe. Dieses Buch soll (teilweise) als eine Art Vorgeschichte – und bisweilen als eine Allegorie – der gegenwärtigen Ausweitung der Techniken des Sicherheitsapparats und des Erstarkens der Kräfte der menschlichen Unsicherheit dienen. Diese „Verunsicherungskräfte“ treiben das Erstarken des Sicherheitsapparats ja an.
Im Buch sind dazu Fallstudien und Ereignisse aus den 1960er- und 1970er-Jahren enthalten, durch die die Beziehung der Architektur zu solchen Enteignungen und zynischen Anpassungen an die entgrenzenden Logiken des neoliberalen Kapitals lesbar wird. In den Beispielen geht es etwa um die heldenmäßigen Figuren des Outlaw oder der Frontier (zu deutsch etwa: „Wilder Westen“ oder Grenzgebiet), welche damals mit Ausnahmezuständen (beispielsweise Umweltkatastrophen, Aufstände in den Städten oder Kriege) oder mit den aufkommenden, zunehmend globalen ,und aus neuen institutionellen, technisch-wissenschaftlichen und geopolitischen Strukturen hervorgehenden Herrschaftstechniken korreliert wurden.
Ein Schlüssel zum Verständnis liegt darin, folgende Beziehung (oder das Fehlen einer solchen Beziehung) zu verstehen: die Beziehung zwischen der gewaltsamen Enteignung einerseits (die größtenteils, aber nicht ausschließlich in den so genannten Entwicklungsländern stattfindet) und dem freiwilligen Rückzug oder Exodus aus einer politischen Gemeinschaft andererseits, die wir innerhalb der Gegenkultur konstatieren können. Meine Arbeiten über die amerikanische Gegenkultur versuchen stets die Gratwanderung zwischen progressiven und weniger progressiven politischen Tendenzen sichtbar zu machen. Oft werden auch weniger progressive politische Tendenzen vorschnell als alternativ, radikal oder avantgardistisch bezeichnet; oft glaubt man, beschäftigen sich solche Tendenzen auch nicht mit demokratischen Fragestellungen. In Outlaw Territories betrete ich hinsichtlich der Befragung dieser Ambivalenz Neuland: Ich mache eine Reihe von Begegnungen sichtbar, die zwischen US-amerikanischen Figuren und Praktiken sowie Institutionen und Kräften stattfanden und die Auswirkungen auf den so genannten Globalen Süden hatten.
Das Manuskript wurde vor dem Sommer 2015 abgeschlossen, in dem die westlichen Medien sich stark mit Geflüchteten aus Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan und aus Afrika beschäftigten. Daneben galt die Aufmerksamkeit der Medien ja noch weiteren von Krieg, Auseinandersetzungen, Besetzung und wirtschaftlichen und ökologischen Katastrophen heimgesuchten Orten, um nur einen Ausschnitt aus der Litanei der Katastrophen zu erwähnen. Das hat dazu geführt, dass die Geflüchtetenkrise nicht mehr nur als das „Problem“ der Dritten Welt angesehen wird und dass die ansonsten übliche klare Unterscheidung in wir/die, innen/außen, Zugang/Ausschluss in zunehmenden Maße unsicher wird. Solche Fragestellungen werden sicherlich auch auf absehbare Zeit die Diskussionen in Europa und in den westlichen Ländern bestimmen, sowohl die öffentlichen Diskussionen als auch Diskussionen innerhalb der Architektur. Diese Fragestellungen haben jedoch eine lange Vorgeschichte, die, wie vorhin erwähnt, eng mit der expansiven Logik des Kapitals zusammenhängt. Diese expansive Logik löst gleichzeitig eine scheinbar unaufhörlich zunehmende Entwurzelung und Verunsicherung einerseits und andererseits immer mehr Nationalismus, Grenzen und Barrieren aus. Letzteres ist eine von Fremdenfeindlichkeit angetriebene anachronistische Gegenreaktion auf diese Fluidität und nimmt heute häufig die Form einer islamfeindlichen Gesinnung an.
Innerhalb dieser Realität können wir tatsächlich auf unterschiedlichste Weise von illegalisierten Migranten lernen, was es heißt, heute eine Bürgerin oder ein Bürger zu sein, und wie man politische Forderungen aus der Position der extremen Unsicherheit, aus der Position des Outlaw stellt. Ich hoffe, dass meine historischen Studien eine Hilfestellung dazu bieten. Die „heldenhaften“ Figuren, die in meinem Buch vorkommen, sind fast durchwegs Akteure aus dem Globalen Süden (aus Palästina, Nigeria und den Philippinen), deren Interventionen in einige der so genannten „Weltkonferenzen“ der Vereinten Nationen während der 1970er-Jahre den Raum für neue Formen der politischen Diskussion eröffneten, einschließlich der Diskussion darüber, wie Demokratie aussehen könnte. Die Kapriolen solcher Charaktere wie Stewart Brand nehmen sich in diesem Kontext zunehmend gespenstisch aus, denn ausgerechnet Leute wie Brand wollten genau solche Räume wieder verschließen.
Anm.d.Red.: Felicity Scott hält am 3.11.2017 den Abschlussvortrag bei der Berliner-Gazette-Jahreskonferenz FRIENDLY FIRE. Ebenso als Speakerin auf dem Panel: die Geografin Deborah Cowen. Beide sprechen zur Frage der Staatsbürgerschaft unter den Bedingungen des Krieges und des Ausnahmezustands. Mehr Infos hier. Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion. Das Foto oben zeigt eine Arbeit der Gruppe Ant Farm. Übersetzung aus dem Englischen: Edward Viesel.
Die junge Generation muss die Angst überwinden, die sie in die Verdrängungen, Ablenkungen und Klauen neoliberaler also bürgerlicher Popkultur wie Schafe massenhaft treibt bzw. fliehen lässt. Nur dann wird sie für ihre Zukunft aktiv werden können und wieder wie frühere Generationen zu Millionen sich in unbegrenzte Räume wagen bzw. stürmen wie seinerzeit die Hippies aber auch in Europa die sogenannten 68er und sie verändernd gestalten können. WebART (re)agiert so: http://brunopolik.de/jugendliche-angst/
Könnte der Text vielleicht auch im englischsprachigen Original veröffentlicht werden?
Die Übersetzung klingt arg holperig und z.T. missverständlich. Was im deutschen Text “Staatsbürgerschaft” heisst, war im englischen Original wahrscheinlich “citizenship” – womit in diesem Kontext nicht die Staatsangehörigkeit gemeint ist, sondern Bürgerrechte.
Klingt in unseren Ohren nach irreführender Haarspalterei. Bürgerrechte (civil rights) hat man nur mit einer Staatsangehörigkeit (citizenship), ohne Staatsangehörigkeit kann man auf Menschenrechte zurückgreifen.
Die englischsprachige Version ist hier verfügbar: https://www.opendemocracy.net/digitaliberties/krystian-woznicki-felicity-scott/outlaw-spaces-strategic-reversals-of-power-at-margi
Ich habe die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche angefertigt. Ich würde gerne auf Florian Cramers Kommentar eingehen, weil ich das aufgeworfene Thema interessant finde:
1) Zunächst: Was den von Florian Cramer bemängelten „holprigen Stil“ betrifft: Der Text ist ein akademischer Text. Autorinnen und Autoren, die ausschließlich für ein akademisches Publikum schreiben, setzten häufig vieles als gegeben voraus und gehen davon aus, dass ihr (ebenfalls akademisches) Publikum mit komplizierter Syntax und/oder semantischen Verkürzungen umgehen kann und sich den Gesamtsinn schon erschließen wird. Einen flüssig und angenehm zu lesenden Essay könnte man durch redaktionelle Bearbeitung oder Umschreiben des Textes erreichen. Die beschriebene Problematik betrifft schon den Originaltext von Felicity Scott (siehe Link oben) sowie abertausende andere akademische Texte, die trotzdem oft sehr interessante Überlegungen enthalten.
2) Interessanter finde ich die Frage ob “citizenship” “Bürgerrechte” oder eher “Staatsbürgerschaft” heißt. Im Original steht tatsächlich überall “citizenship”. Dass dies überall mit “Bürgerrechte” übersetzt werden sollte, scheint mir falsch zu sein. Die Übersetzung für “Bürgerrechte” ist “civil rights”. Gegen “citizenship” = “Bürgerrechte” überall spricht schon alleine die Tatsache, dass auch schon die allgemeine Übersetzung von “civil rights” als “Bürgerrechte” heute letztlich fragwürdig ist. Wenn man genau wäre, und die Verwendung in den USA und in Großbritannien beachten würde, müsste die Übersetzung für “civil rights” bereits heute teilweise folgendermaßen lauten: “zivilgesellschatliche Rechte” oder “Rechte von Zivilpersonen”.
Die Problematik wird im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zu “Bürger” gut dargelegt: “In einem weiteren Sinn kann Bürger aber auch alle Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder Nationalität bedeuten. Dann ist die allen liberalen Verfassungen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft (früher: Obrigkeit und Untertan – dazu Staat und Gesellschaft) gemeint. Bürger sind dann alle Personen (Zivilpersonen) als gesellschaftliche, also nichtstaatliche Akteure. Sie sind grundrechtsberechtigt, der Staat dagegen grundrechtsverpflichtet.”
Und der Artikel “Nationality” in der englischsprachigen Wikipedia weist auf die verschiedenen Dimensionen der Staatsbürgerschaft hin: “In the modern era, the concept of full citizenship encompasses not only active political rights, but full civil rights and social rights. Nationality is a necessary but not sufficient condition to exercise full political rights within a state or other polity.”
Man müsste hier allerdings umgekehrt feststellen, dass die Nationalität eben oft keine notwendige Vorbedingungen für “citizenship rights oder civil rights” ist, nämlich für den Gedanken von “zivilen Rechten”, die jedem an einem Ort anwesenden Menschen zukommen, unabhängig von seiner Nationalität (was ja vielfach im Bereich Schule oder Gesundheit bereits umgesetzt ist, wenn es auch in den USA immer wieder – erfolglose – Vorstöße gibt, dies zu ändern: der Schulbesuch beispielsweise ist in westlichen Staaten überwiegend kein “(Staats-)Bürgerrecht”, sondern eine Art “Zivilpersonenrecht” [und -pflicht]). Übersetzen könnte man “citizenship” nach dieser Definition auch als Bündel von “civil, economic, social and cultural rights”, zu deutsch etwa: “wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Rechte von Zivilpersonen” (siehe auch die “ESC Rights” der Vereinten Nationen). “Zivil” heißt in diesem Zusammenhang nichtstaatlich und nichtmilitärisch, da für Vertreter des Staates und für militärisches Personal andere Gesetze, Regeln und Rechte gelten.
Wo ist das Problem? Das Problem liegt darin, dass der so gefasste Begriff des “citizen”, vor allem in dem Konzept des “citizenship” (als “civil rights” = Bürgerrechte, wie oben dargelegt gedacht) sich nicht mit dem deutschen Begriff des “Bürgers” deckt. Das sieht man daran, dass der Wikipedia-Artikel bei seiner alternativen Definition für “Bürger” stark abstrakt formuliert (“Zivilpersonen”, “nichtstaatliche Akteure”, “grundrechtsberechtigt”). Zwar versteht die örtliche Kommunalzeitung unter “Bürger” oft die Einwohner eines Ortes unabhängig von ihrer Nationalität. Das politologische Konzept des “Bürgers” meint meines Erachtens jedoch heute immer noch ausschließlich den “Staatsbürger” (trotzdem der Wikipedia-Artikel “Staatsbürgerschaft” behauptet, dass damit eine “rechtliche Zugehörigkeit zur Gemeinschaft (Rechtsgemeinschaft) von Bürgern eines Staates, den Staatsbürgern, deren Nationalität nicht im unmittelbaren Bezug zu einem Staat steht” gemeint sein könnte [“Vielvölkerstaat”]; ich halte “Staatsbürgerschaft” und “Staatsangehörigkeit” dagegen im normalen Sprachgebrauch für austauschbare Begriffe, bezogen auf das Individuum).
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er-Jahre hatte auch patriotische Anklänge; deren Vertreter waren wohl ausnahmslos Staatsangehörige der USA. Zurecht fragt jedoch die Huffington Post im Jahre 2011: “Is Immigration Reform the New Civil Rights Movement?” Die Subjekte dieser “Bürgerrechtsbewegung” zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie eben keine “Bürger” sind. Ihnen geht es zunächst darum, dass sie nicht in ihr “Heimatland” abgeschoben werden (wo sie ja tatsächlich Bürger sind): das ist eines der “Bürgerrechte”, von dem sie glauben, dass es ihnen in den USA zusteht und dass sie durchsetzen wollen. Faktisch steht ihnen dieses Recht aber nicht zu, weil das unbeschränkte Aufenthaltsrecht in den USA nur das Recht eines US-Staatsangehörigen ist. “Zivilrechtsbewegung” würde sich natürlich etwas seltsam anhören, da ja “Zivilrecht” auf Deutsch vor allem einen Teil des römischen Rechts meint (das es in England und den USA als Common-Law-Staaten nicht gibt) und nicht die “Rechte von Zivilpersonen” innerhalb der Zivilgesellschaft, was auf amerikanischem Englisch heute tendenziell mit “civil rights” gemeint ist. Die Verwirrung ist vorprogrammiert.
Scotts Begriff “citizenship claims” habe ich mit “aus der Staatsbürgerschaft abgeleitete Rechte” übersetzt. Tatsächlich könnte man dies als so etwas wie “bürgerrechtliche Anrechte oder Forderungen” übersetzen, was aber nicht wirklich besser ist.
In dem Aufsatz ging es auch um die Frage, ob es ein verbindendes Element zwischen Menschen geben kann, das nicht vom westlichen Nationalstaat in der Form der Staatsbürgerschaft (und der daraus abgeleiteten Bürgerrechte) garantiert wird. Die oben erwähnten “zivilen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte” als “citizenship rights or civil rights” eines jeden Menschen, egal wo sie/er sich befindet, wären oder sind ein Schritt in diese Richtung.
Das Problem ist der Begriff “Bürger”, der jedoch genauso das Kernstück des Begriffs “Bürgerrechte” ist. Ich schlage statt “Bürgerrechte” den Begriff “Zivilpersonenrechte” vor. Klingt aber irgendwie nicht sehr elegant.
Wie wäre es mit einem kleinen Essay zum Thema der Begrifflichkeit von “Bürger”, “Staatsbürgerschaft” und “Bürgerrechten” im Deutschen und im Englischen, lieber Florian Cramer, zusammen mit ein paar begrifflichen Alternativvorschlägen an die Redaktion ? :-) (Ist allerdings nicht mit der Redaktion abgesprochen, deren Mitglied ich auch nicht bin).
Wie wäre es mit ‘Bürgersinn’ für Citizenship?
Um Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft scheint es im Quellext wirklich nicht zu gehen, auch nicht um Nationalität.