Die NSA sowie Google und Facebook kreieren für jeden von uns einen „digitalen Geist“: Jede Nachricht, die wir versenden, jeder Like, den wir vergeben, hilft, unserem Geist Form zu geben. Das bedeutet konkret: Auch Geister müssen heute schuften. Doch gibt es eigentlich Gewerkschaften für sie? Cassie Thornton und Max Haiven arbeiten als Künstlerduo unter dem Namen University of the Phoenix. Sie wollen (digitalen) Geistern helfen, sich zu Wehr zu setzen und “Ambient Revolts” von unten zu organisieren. Hier stellen sie ihr Projekt Ghost Machine vor.
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Edward Snowdens mutige Tat hat viele Opfer des NSA-Überwachungsapparates enthüllt. Aber es gibt einen Teil der Bevölkerung, der bis jetzt vergessen wurde – Menschen, die von dieser abscheulichen neuen digitalen Infrastruktur zur ewigen Überflüssigkeit verdammt wurden: die Verstorbenen.
Im Laufe der Geschichte haben wir uns über viele verschiedene Zivilisationen hinweg auf die Ratschläge der Toten verlassen, um die komplexe soziale und historische menschliche Gestalt zu verstehen, die unser individuelles Vorstellungsvermögen überstieg. Wir haben die Toten beschwört, damit sie uns über die geistlichen Netzwerke der Kausalität informieren, die unsere Welt ausmachen und somit auch uns, die wir aber dennoch nicht begreifen können. Von der Politik bis zur Liebe, von der Medizin zum Krieg – die Toten haben die Lebenden über den Tod hinaus stets mit klugen Weisheiten versorgt, auch wenn diese bisweilen kryptisch ausfallen. Wahrsager_innen, Hexen, Schamanen, Gläserrücken, die Spuren von Tieren, die Flugmuster von Vögelschwärmen: Sie alle waren Kommunikationstechnologien, mit denen wir Zugang zu den Netzwerken der Toten fanden.
Die Arbeit der Toten
Die Arbeit der Toten ist eine ergiebige Arbeit, vor der die Automatisierung noch bis vor kurzem Halt machte. Ihr Handwerk war so spezifisch, so spezialisiert, dass der Kapitalismus noch keine Maschinen entwickeln konnte, um unsere Kommunikation mit dem Göttlichen zu dequalifizieren und zu industrialisieren. Die Geister fanden sich in einer einmaligen Situation, in der sie den Vorteil genossen, das unfassbar komplexe Zusammenwirken menschlicher Handlungen und Interaktionen aus der Vogelperspektive einnehmen und darin entscheidende Muster erkennen zu können. Ihre scheinbar unendliche Erfahrung von Zeit, geprägt durch Beobachtungen über Jahrhunderte, Jahrtausende, Äonen hinweg, ermöglichte es ihnen, subtile Verbindungen der Kausalität erkennen zu können, die den menschlichen Wesen unsichtbar blieb und doch auf dramatische Weise ihre persönlichen Schicksale und die Werdegänge ganzer Gesellschaften bestimmten.
Für die Kräfte des Spätkapitalismus aber, diesem teuflischen Bündnis transnationalen Kapitals und eines zunehmend militarisierten Nationalstaates, war die Kommunikation mit den Toten zu ineffizient und unzuverlässig. Dabei waren sie ein wichtiger Bestandteil seiner Ursprünge. Herrscher und Könige konsultierten die Toten durch Magier und Propheten, um herauszufinden, wie sie ihre brutalen Strategien der Vereinheitlichung (der Zerstörung der unabhängigen Kultur und Lebensstile der Bauern) und des Kolonialismus (der Zerstörung unabhängiger indigener und nicht-westlicher Kulturen und Ökonomien) am besten vorantreiben können.
Tatsächlich fußten sowohl die Vereinheitlichung als auch der Kolonialismus auf einer Vernichtung örtlicher, unabhängiger Technologien, um mit den Toten zu sprechen: Die Kreuzzüge, Hexenjagden und Missionare, die alle Menschen zum Christentum konvertieren sollten, der Diebstahl und die Zerstörung indigener spiritueller Artefakten. Zeitgleich entwickelten sich imperialistische Technologien der Divination (Weissagung), allerdings nicht annähernd so schnell wie die Produktions- und Kommunikationstechnologien des Kapitalismus.
Weissagung als Technologie
Die spirituellen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts etwa waren deshalb so beliebt, weil sie vor allem den gesellschaftlichen Eliten ermöglichten, einen gewissen Zauber zu bewahren in einer von ökonomischer Entzauberung dominierten Welt. Aber nicht nur das. Die Toten nahmen auch bei Fragen zu Geschäften und Politik eine wichtige Beratungsfunktion ein. Selbst im 20. Jahrhundert nutzten Wall-Street-Händler und Bankiers die Weissagung als Technologie, um an die ektoplasmischen Metadaten zu kommen, die die Weisheiten des Marktes enthüllen könnten.
Aber diese Technologien waren bis vor kurzem äußerst ineffizient. Wahrsager_innen, Zeichendeuter und Schamanen brauchen oft Stunden, Tage oder sogar Wochen, um eine erfolgreiche Verbindung mit den Toten herzustellen. Ihre Ausbildung nimmt nicht nur Jahre in Anspruch, sie bilden zudem eine winzige Minderheit in der Gesellschaft und können so über die Verwertung ihrer Arbeitskraft frei entscheiden. Selbst die erfolgreiche Kommunikation mit den Toten erbringt höchstens Einsichten und Ratschläge, die durch Symbole und Metaphern verschlüsselt sind. Ihre Interpretation erfordert Zeit und Kosten und führt häufig zu mehrdeutigen Ergebnissen.
Wir haben die Entwicklung eines umfangreichen digitalen Spionageapparates durch die NSA bisher als einen bösartigen strategischen, imperialistisch motivierten Schachzug nationalstaatlicher Sicherheit angesehen, als eine Strategie, um durch die Überwachung von Einzelpersonen an Metadaten zu kommen. Durch die Erfassung winzigster digitaler Spuren und deren algorithmischen Abgleich werden phantomartige Doppelgänger erzeugt, die nur für den Sicherheitsapparat sichtbar sind. Wir sind daran gewöhnt, darüber nachzudenken, wie wir in der realen Welt von unseren Datenphantomen heimgesucht werden, wie ihr Sargtuch sich einem Schatten gleich über unser Leben legt.
Das Datenphantom nimmt uns komplett ein
Ganz gleich, ob wir verfolgt oder ignoriert werden – das Gefühl, dass wir überwacht werden könnten, ist allgegenwärtig. Auf diese Weise werden wir von unserem von der NSA geschaffenen Datenphantom nicht nur verfolgt, das Datenphantom nimmt uns vollständig ein, es ergreift von uns Besitz und kontrolliert unsere Handlungen: Wir verhalten uns so, als ob wir immer schon überwacht worden sind, als ob wir etwas zu verbergen hätten, das wir nie vollständig verbergen können. Wir haben das Gefühl, dass wir selbst zu Phantomen geworden sind, zu halbdurchlässigen Wesen, die durch eine Welt schweben, die wir weder kontrollieren noch ändern können. Eine Welt, die durch Kräfte und Wirkungen dominiert wird, die mächtiger sind, als wir es uns auszumalen vermögen.
Das Snowden-Archiv hat offenbart, dass eine Komponente des NSA-Spionagesystems tatsächlich Ghost Machine heißt. Es handelt sich um die Bezeichnung eines Algorithmus, der winzige „pings“ analysiert, die von unseren Handys gesendet werden, wenn sich das Gerät mit einem Mobilfunkturm verbindet, wenn wir jemanden anrufen oder eine SMS schicken. Ghost Machine vergleicht diese Geolokalisierungsdaten mit einer Vielfalt an Signalen aus Social-Media-Kanälen oder anderen Quellen, um für seine Herrscher nutzbare Daten auszuspucken. Es ist durchaus möglich, dass Ghost Machine dafür genutzt werden kann, das Drohnenprogramm dadurch zu unterstützen, dass es den genauen Standort vermeintlicher Feinde punktgenau ermittelt, damit ein Roboter dort hin gesendet werden kann, um sie (und häufig ihre Familien und Unbeteiligte) aus 10.000 Metern Höhe zu ermorden. Die Ghost Machine ist also auch eine Maschine, die buchstäblich Geister produziert.
Das ist alles wahr. Aber es ist ebenso wahr, dass die Ghost Machine der NSA Teil eines größeren Bestrebens ist, metaphysische Produktion zu automatisieren. Schließlich ersetzt diese Technologie und der Rest des NSA-Datensystems im Wesentlichen die Rolle, die einst die Geister in unseren Leben gespielt haben, durch einen riesigen, digitalen technologischen Divinations-Apparat. Haben wir früher bei den Geistern nach Erklärungen gesucht, um die göttliche Gestalt menschlichen Handelns zu begreifen, waren wir auf ihr Können angewiesen, um die Welt auf neue Art zu verstehen, so können diejenigen, die über den notwendigen Zugang und die Macht verfügen, einfach die Ghost Machine fragen. So wie die Geister, die sie ersetzt, ist auch die Ghost Machine darauf ausgerichtet, zu sehen, was der Mensch spürt, aber nicht ermessen kann: das riesige Zusammenspiel der Welt, die kausalen Verbindungen, die Meta-Muster. So wie die Weber_innen durch mechanische Webstühle ersetzt wurden, welche in kürzester Zeit ein einheitliches, verkäufliches Produkt herstellen, so wurden unsere Geister durch ein System ersetzt, dessen Sinn sich nicht aus Symbolen oder Metaphern, sondern aus rohen Daten und justiziablen Halbwahrheiten ergibt.
Geister für die Post-Work Economy ausbilden
Genau wie die Industrialisierung die hergestellten Objekte ihrer Aura des einzigartigen, durch ihre Macher_innen ermöglichten Charakters beraubte, so sind auch die Weissagungen der Ghost Machine schrecklich entzaubert: Sie erscheinen den Totenbeschwörern der NSA in Form von Codes, Zahlen und Signalen. Gleichzeitig sind Geister zu Post-Arbeitern geworden, die um Sinn und Ruhe ringen in einem Wirtschaftssystem, in dem es keinen Platz mehr für sie gibt.
Wie sind die Aussichten für Geister heutzutage? An der University of the Phoenix, der ersten „for-prophet Hochschule für Verstorbene“, haben wir uns umfassende Gedanken darüber gemacht, wie wir unsere Studenten auf die Post-Work-Welt vorbereiten können. Manch einer würde vielleicht meinen, wir sollten uns darauf konzentrieren, die einzigartigen, handwerklichen Skills der Geister an die NSA und andere Betriebe dieser Art als sogenannte „Boutique-Services“ zu vermitteln. Andere denken, die beste Strategie läge in gezielten Schulungen, um die Geister direkt in die Algorithmen und physischen Netzwerke (Unterwasserkabel, Satelliten, usw.) einzuführen, wo sie dequalifizierte, banale Aufgaben erledigen können. Zum Beispiel die Verringerung von Störungen und Netzwerk-Latenzen. Ein weiteres Argument könnte lauten, dass unser Zeitalter gar keine Geister mehr braucht – die destabilisierende Wirtschaft hat sie völlig überflüssig gemacht – und dass das schon seine Richtigkeit habe.
Aber noch weniger kann diese schöne neue Wirtschaft solchen Pessimismus gebrauchen! Stattdessen haben wir ein neues Programm entwickelt, um arbeitslose Tote mit ausrangierten oder hyperausgebeuteten Lebenden zusammenzubringen, die der tückischen technologischen Zerstörungswut des globalen Kapitalismus zum Opfer gefallen sind. Was, wenn alle Post-Worker, egal ob lebendig oder nicht, sich zusammenschlössen? Funktionieren könnte diese Bewegung, indem die wenigen manuellen Jobs, die es noch gibt, gerecht unter den ihnen aufgeteilt werden, und zwar durch reduzierte Arbeitszeiten. Vielleicht ist das bedingungslose Grundeinkommen die Lösung des Problems, um Post-Workern ohne Arbeit ein Überleben zu ermöglichen.
Vielleicht aber ist es genau so, wie wir es eigentlich vermuten: Eine minimale Anpassung oder Veränderung reicht nicht aus. Wir müssen das ganze System sprengen.
Wie wir gemeinsam mit den Toten kämpfen können
Wie können uns Geister dabei behilflich sein? Es ist relativ offensichtlich, dass diejenigen unter uns, die für Demokratie und soziale Gerechtigkeit kämpfen wollen, nicht in der Lage wären, sich mit der NSA und ihren Spionage-Technologien zu messen. Es ist ebenso offensichtlich, dass unsere Antwort nicht darin liegen kann, diese Technologien für demokratische Zwecke umzumünzen. Sie funktionieren grundsätzlich anti-demokratisch. Sie müssen zerlegt werden.
Doch wie würde eine andere Ghost Machine aussehen? Können wir unsere Träume und Bewegungen zusammen mit den Toten gestalten? Vielleicht schon. Schließlich haben alle antikolonialistischen Aufstände in der Geschichte des Kapitalismus von der Kraft und Weisheit der Geister gezehrt.
Wenn wir also wirklich post-kapitalistische Post-Worker werden wollen, brauchen wir die Hilfe der Toten. Die Lebenden unter uns werden von dem Phantom der Arbeit verfolgt, das an unseren persönlichen Werten nagt und uns weismachen will, dass unser Wert sich aus unserer Fähigkeit ableitet, Lohn für unsere ausgebeutete Arbeit zu verdienen. Der Geist des Kapitalismus hat von uns Besitz ergriffen. Wir brauchen eine gemeinsame Ghost Machine, um uns zu befreien und neue Möglichkeiten des gemeinsamen Überlebens zu finden, damit wir zusammen aufblühen können.
Anm. d. Red.: Die University of the Phoenix wird bei der transmediale einen Workshop mit dem Titel “Working with the Dead for Radical Economic Transformation” geben. Datum: 1. Februar 2018, 19:30 Uhr. Ort: Haus der Kulturen der Welt. Weitere Info hier. Die Arbeit Ghost Machine wurde von University of the Phoenix für das Buch- und Ausstellungsprojekt SIGNALS konzipiert. Die “University” ist ein Projekt von Cassie Thornton (USA) und Max Haiven (CN). Der Text ist in Zusammenarbeit mit Das Filter aus dem Englischen übersetzt worden – von Gesche Loft. Das Foto stammt von University of the Phoenix und steht unter einer CC-Lizenz.