Wie einst das britische Empire, beruht auch der heutige globale, extraktive Kapitalismus auf einem System von Menschenopfern. Ein kritischer Blick auf die Palmölindustrie offenbart sowohl die Gewalt dieses Systems als auch die Herausforderungen für einen Übergang in eine gerechte Welt, argumentiert der Sozialwissenschaftler Max Haiven in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
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Es ist nicht einfach, ein passenderes und erschreckenderes Sinnbild für die Verflechtung von kapitalistischer Ausbeutungswirtschaft und ökologischer Zerstörung zu finden als Palmöl. Seit fast 200 Jahren ist die Entwicklung dieses Plantagenprodukts von Entbehrungen und Gewalt geprägt, bei der im Namen von Profiten und billigen Preisen menschliche und nichtmenschliche Lebewesen auf dem Altar des Marktes geopfert wurden und werden.
Es wird geschätzt, dass Palmöl in irgendeiner Form heute in mindestens 50 Prozent der Supermarktprodukte enthalten ist. Es ist ein billiges Öl zum Frittieren und Verfetten von verarbeiteten Backwaren, eine Basis für Seifen, Reinigungsmittel und Kosmetika und ein Spurenbestandteil in Tensiden, Konservierungsmitteln und Stabilisatoren, die zunehmend Bestandteil unserer Ernährung sind. Es ist auch eine wichtige Quelle für Biokraftstoffe, die als Schlüssel zu einem “grünen” Wandel im Kapitalismus angepriesen werden.
Doch in den letzten zwei Jahrzehnten haben Umwelt– und Menschenrechtsgruppen Alarm geschlagen.
Der wachsende Markt für Palmöl hat zu einer Abholzung der tropischen Wälder geführt, mit katastrophalen Auswirkungen: Artenreiche Ökosysteme werden zerstört, um Platz für lukrative Monokulturen zu schaffen, wodurch große Mengen an gebundenem Kohlenstoff freigesetzt werden. In den sich ständig ausweitenden Palmölgebieten findet Land Grabbing ungebremst statt. In Indonesien und Malaysia, aus denen etwa 70 Prozent des weltweiten Palmölbedarfs exportiert werden, sowie zunehmend auch in Brasilien, Kolumbien und Honduras, kontrolliert eine Handvoll äußerst mächtiger Unternehmen den Markt. Trotz zweier Jahrzehnte, in denen sich ein “runder Tisch”, bestehend aus diesen Unternehmen, wohlwollenden Regierungen und misstrauischen NGOs, um freiwillige Regulierungs- und Prüfsysteme bemüht hat, sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung, einschließlich der Einschüchterung und Ermordung von Gewerkschaftsorganisator*innen, Aktivist*innen indigener Völker und Umweltjournalist*innen.
Der koloniale Schrecken des Palmöls
Die Schrecken der Palmölindustrie sind umfassend dokumentiert und Gegenstand großer Kampagnen von Menschenrechts- und Umweltgruppen sowie zahlreicher Arbeitsgruppen der Regierung. Was jedoch nur wenige von ihnen beachten, und was ich hervorheben möchte, ist die tiefere Verflechtung von Palmöl und extraktivem Kapitalismus.
Aus der Geschichte der Entstehung von Palmöl als globaler Handelsware können wir viel lernen. Die Ölpalme wird seit Jahrtausenden in ihrer Heimat Westafrika angebaut und geerntet, wo ihre Produkte eine grundlegende kulinarische, spirituelle, kulturelle, politische und wirtschaftliche Rolle spielten. Als sich die versklavten Menschen und ihre Verbündeten auf der ganzen Welt erhoben und 1807 die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels im britischen Empire erzwangen, suchten die Liverpooler Kaufleute, die ihr Vermögen in diesem schrecklichen, die Wirtschaft bestimmenden Geschäft gemacht hatten, nach neuer, nicht-menschlicher Fracht für ihre Schiffe. Sie fanden in Palmöl einen reichlich vorhandenen Rohstoff, der in Afrika gewonnen und in Europa zu einem billigen Schmiermittel für die Lokomotiven und Dampfmaschinen der beginnenden industriellen Revolution verarbeitet werden konnte.
Dieselben Netze ökologischer und wirtschaftlicher Gewalt, die zur Ausbeutung und Vermarktung afrikanischer Menschen eingesetzt wurden, dienten der Ausbeutung und Versklavung in Afrika selbst, um künstlich verbilligtes Palmöl zu gewinnen. Industrielle Chemiker in Europa fanden bald Wege, das Öl zu Kerzen und Seife zu raffinieren, zwei der ersten Massenprodukte, die ironischerweise beide mit rassistischen Bildern an die europäische Öffentlichkeit verkauft wurden, um die Verbraucher zu ermutigen, sich mit den angeblich edlen Ambitionen des Imperiums zu identifizieren: Handel, Christentum und Zivilisation in die afrikanischen Völkern zu tragen, die als barbarische Wilde dargestellt wurden. Bis zum heutigen Tag hält sich dieses Bild hartnäckig.
Eine Geschichte der Gewalt im Verborgenen
Dem Verbraucher/ der Verbraucherin wird vorgegaukelt, dass er in Zusammenarbeit mit wohlwollenden “grünen” Unternehmen seinen Beitrag für die Welt leisten kann, indem er einfach “nachhaltige” Produkte kauft. Abgesehen von der Falschheit der Behauptungen über die “Nachhaltigkeit” wiederholen solche Diskurse eine koloniale und weiße Vormachtstellung, in der der Bürger-Konsument im Globalen Norden durch seine kapitalistischen Transaktionen ein selbstzufriedenes Wohlwollen zum Ausdruck bringt. Sowohl im 19. Jahrhundert als auch heute gibt dieser Ansatz jeden Kampf für globale Solidarität – die wir dringend brauchen – für eine Art von Konsum-Narzissmus auf.
Dahinter verbirgt sich auch etwas Tieferes und Perverseres. Im 19. Jahrhundert, als die europäischen Raubstaaten immer tiefer nach Westafrika vordrangen, um sich immer mehr Palmöl-Exporte zu sichern, wurden diese Übergriffe oft im Namen einer humanitären Intervention gerechtfertigt, um “die Afrikaner von den lokalen Königen zu befreien”, zu deren Praktiken Menschenopfer gehörten. In der britischen Presse wurden blutige Details dieser Praktiken dargestellt, um Unterstützung für die imperiale Invasion zu gewinnen. Dies war jedoch eine Form der Irreführung: Das Ziel war immer der Aufbau einer Wirtschaft des Extraktivismus.
Unsichtbar gemacht wurde auch die Tatsache, dass das britische Empire selbst eine Gesellschaft der Menschenopfer war: Ganze Zivilisationen wurden im Namen des Bedarfs der Kapitalisten an Palmöl und anderen Grundstoffen ausgelöscht; selbst in den britischen Fabriken, in denen diese Stoffe zu Waren verarbeitet wurden, wurden Arbeiter, viele von ihnen Kinder, den Maschinen geopfert, wenn Arbeitsunfälle, Überarbeitung oder chronische Armut ihren Tribut forderten.
Die angeblich menschenverachtenden Bräuche der nicht-weißen, kolonisierten “Anderen” trugen dazu bei, die Aufmerksamkeit von dem monströsen Opfersystem des Kapitalismus abzulenken, das im Verborgenen liegt.
Arbeiter*innen, Wälder und die Armen der Welt
Heute bestehen solche Bedingungen extraktiver kapitalistischer Menschenopfer in neuen Formen fort. Natürlich kann hier auf die grausamen Arbeitsbedingungen auf und um Ölpalmenplantagen hingewiesen werden. Von Südostasien über Westafrika bis nach Lateinamerika ist der Missbrauch und die Ausbeutung von Wanderarbeiter*innen eine tragende Säule der Industrie. Diese Arbeiter*innen wurden oft durch frühere Spielarten des Extraktivismus entwurzelt, die sie oder ihre Vorfahren von ihren angestammten Grundstücken und nachhaltigen Wirtschaftssystemen vertrieben haben. Auf den Palmölfeldern sind die Wanderarbeiter*innen, denen oft der Schutz verweigert wird, giftigen Chemikalien, gefährlichen Arbeitsbedingungen, Verschuldung und sexueller Ausbeutung ausgesetzt.
Oft werden diese schrecklichen Bedingungen und die Brandrodung der Wälder nicht von Markenartikelherstellern oder gar den Konzernen, die sie mit Palmöl beliefern, verübt, sondern von Subunternehmern und Sub-Subunternehmern, die an der Grenze arbeiten, wo Prüfer*innen und Journalist*innen nicht hinreisen und wo Regierungsbeamte eingeschüchtert und bestochen werden können, was es den Kapitalisten, die weiter oben in der Lieferkette stehen, ermöglicht, sich auf Unwissenheit oder Hilflosigkeit zu berufen.
Aber die Palmölwirtschaft ist nicht nur eine, die Arbeiter*innen und den Wald auf den Opferaltar hebt. Während sich die Befürworter*innen der Branche damit brüsten, die Welt mit schnell wachsenden Plantagenpflanzen aufzuforsten, tragen die Netto-Kohlenstoffemissionen in erheblichem Maße zum anthropogenen Klimawandel und zur Zerstörung der biologischen Vielfalt bei, die beide tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschen haben, insbesondere auf die Ärmsten der Welt. Ironischerweise sind es gerade die ärmsten Menschen der Welt, die durch den entbehrungsreichen extraktiven Kapitalismus zu den Hauptverbraucher*innen von Palmöl geworden sind: Es ist heute das Fett der Armen der Welt.
Die Verbraucher*innen der Mittelschicht im Globalen Norden mögen stolz darauf sein, dass sie durch den Verzicht auf Nutella oder andere palmölhaltige Lebensmittel zur Rettung des Lebensraums der Orang-Utans beitragen. Aber für Hunderte von Millionen Menschen auf der ganzen Welt ist importiertes, raffiniertes Palmöl ein Grundnahrungsmittel, das dank seiner unglaublichen künstlichen Billigkeit lokal erzeugte pflanzliche und tierische Fette in ihrer Ernährung ersetzt hat. Die Auswirkungen auf die Gesundheit sind beträchtlich, nicht nur, weil Palmöl einen hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren enthält, die die Herzgesundheit gefährden, sondern auch, weil es in so vielen billigen, verarbeiteten und abgepackten Lebensmitteln enthalten ist, die zum Grundnahrungsmittel der armen Bevölkerung geworden sind, insbesondere derjenigen, die von ihrem Land vertrieben wurden, auf dem sie ihre eigenen Nahrungsmittel produzieren können.
Ernährung der “Überschussbevölkerung” mit Palmöl
Ein anschauliches Beispiel ist die Ernährung von Gefangenen im US-amerikanischen System der Masseninhaftierung, in dem unverhältnismäßig viele Schwarze aus der Arbeiterklasse und rassifizierte Menschen inhaftiert sind. Hier ist fast jeder Bestandteil einer Standardmahlzeit (Brot, Schmelzkäse, Schmelzfleisch, abgepackte Kekse, zuckerhaltige Getränke) stark mit billigem Palmöl versetzt. Im US-Gefängnissystem sind die abgepackten Ramen-Instantnudeln (im Wesentlichen Weizenmehl, Palmöl und Natrium) zu einer bedeutenden Alternativwährung unter den Inhaftierten geworden, da sie ohne diese Nudeln oft nicht genug Kalorien zum Überleben haben.
In ihrem bahnbrechenden Buch “Goldener Gulag” aus dem Jahr 2007 betrachtet die Geografin und Gefängnisabschafferin Ruth Wilson Gilmore solche Gefängnisumgebungen als Anzeichen für eine breitere Verschiebung innerhalb des Kapitalismus hin zu dem, was sie bezeichnenderweise eine “Ära der Menschenopfer” nennt. Ihr Buch konzentriert sich auf das Gefängnis als kapitalistische Technologie zur Verwaltung von “Überschusspopulationen”, d. h. von Menschen, die in der kapitalistischen Wirtschaft von Löhnen abhängig gemacht wurden, um die lebensnotwendigen Dinge zu kaufen, für die es aber im Kapitalismus zunehmend keine Lohnarbeit gibt, so dass sie gezwungen sind, extraktive Formen der Ausbeutung zu akzeptieren oder in der “informellen Wirtschaft” zu überleben.
Behauptungen, dass diese “Überschussbevölkerung” einfach auf die Automatisierung zurückzuführen sei – was bedeutet, dass die kapitalistischen Industrien weniger Arbeiter*innen benötigen – sind größtenteils falsch und ahistorisch: Die Realität ist, dass der Kapitalismus schon immer große Populationen von Möchtegern-Arbeiter*innen hervorgebracht hat, die zwei Dinge darstellen: eine “Reservearmee” von Arbeitslosen, die dazu beiträgt, die Löhne in der Gesamtwirtschaft zu drücken, und eine hyper-ausbeutbare Bevölkerung, auf deren Rücken die Gesamtwirtschaft aufgebaut ist. Heute ist Palmöl das wichtigste der “verbilligten” Lebensmittel, die das Leben dieser und anderer Opfer der extraktiven kapitalistischen Wirtschaft sichern.
Gegen das System der Menschenopfer und darüber hinaus
Wie das britische Empire ist auch die heutige globale Form des extraktiven Kapitalismus ein System von Menschenopfern, das im Verborgenen wirkt. Ich verwende diesen Begriff nicht nur wegen des dramatischen Effekts. Die Schrecken der globalen Wirtschaft brauchen nicht übertrieben zu werden: Sie sind schon schlimm genug. Vielmehr lädt uns das Nachdenken über Menschenopfer dazu ein, die kosmologischen Dimensionen dieser wirtschaftlichen Gewalt zu betrachten. Im Namen eines gottähnlichen “Marktes” legitimieren wir heute extreme Formen von menschlichen und nicht-menschlichen Opfern und Leiden. Die Hohepriester dieses Gottes bestehen darauf, dass jede Infragestellung oder Einmischung in den Willen des Marktes zu Chaos und Unheil führt. Aber behaupten nicht die Hohepriester und Nutznießer aller Opfergesellschaften etwas Ähnliches? Würden sie das Opfer nicht auf den Altar legen und ihm das Herz herausschneiden, würden die Götter verhungern oder zornig werden und schreckliche Gewalt über alle entfesseln.
Wenn wir den extraktiven Kapitalismus als ein System von Menschenopfern betrachten, hilft uns das, das Ausmaß der Abolition zu verstehen, die vor uns liegt, um einen Horizont nach dem Extraktivismus zu erreichen. Unsere Aufgabe wird nicht einfach darin bestehen, die alte Wirtschaft abzuschaffen und eine neue zu installieren. Sie muss notwendigerweise eine radikale Umgestaltung des Glaubens, der Werte und der Sinngebung beinhalten. Es geht um die Schaffung oder Wiederbelebung anderer Formen der postkapitalistischen Interdependenz.
Wir leben bereits in einer interdependenten Welt, aber diese Interdependenz wird vom Kapital verschlüsselt und verwaltet, einer Kraft, die von Wettbewerb und Profitzwang angetrieben wird und die Menschen und den Planeten im Namen ihrer eigenen Reproduktion erschöpft hat. Die vergangenen zwei Jahrhunderte der Geschichte des Palmöls zeigen uns, wie tief wir alle materiell und kulturell mit einer kapitalistischen Ordnung verstrickt sind, die sich heute beispielsweise durch die Förderung eines immer “grüneren Konsumverhaltens” aufrechterhalten kann. Hier wird das Subjektsein des kapitalistischen Verbrauchers als Lösung umgedeutet, obwohl es maßgeblich zu dem Problem beiträgt.
Um dieses System zu überwinden und den Weg für einen Übergang in eine gerechte Welt zu ebnen, müssen wir nicht nur die Palmölindustrie und das globale Nahrungsmittelsystem umgestalten, sondern auch uns selbst und unsere Gemeinschaften auf einer grundlegenden Ebene verändern. Hier müssen wir es wagen, auf gefährliche Weise von globalem Commoning und globalen Formen des Sozialismus zu träumen und neue Wege zu finden, das dynamische Dreieck zwischen dem Individuum, dem Kollektiv und der Öffentlichkeit zu gestalten.
Anm.d.Red: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version des Texts ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de