Nach dem kommunistischen Manifest: Die Rolle des “Ostens” in den radikalen Theorien des Westens

Das politische Potenzial der BLACK BOX EAST als gemeinsamer Raum für transnationale Kämpfe ist Gegenstand fortlaufender Erkundungen. Der Sozialtheoretiker Max Haiven und der Historiker Vijay Prashad versuchen, einen Beitrag zu diesem kollektiven Prozess zu leisten, wenn sie über die Bedeutung des “Ostens” in den radikalen Theorien des Westens diskutieren.

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Max Haiven: Ich möchte mit der Rolle des “Ostens” in Marx’ Vorstellung beginnen. Er war ein deutscher Exilant (einige würden sagen: Geflüchteter), der in London lebte und die seiner Meinung nach wahrscheinliche oder unvermeidliche proletarische Revolution in den westlichen kapitalistischen Ländern vorwegnahm und sich vorstellte, dass diese zu einer weltweiten Revolution führen würde. Im Zuge dessen hat er auch den Osten sehr genau studiert, manche sagen, mit einem gewissen Grad an Vorurteilen oder einem inhärenten Orientalismus.

Vijay Prashad: Marx versuchte, die Widersprüche im Kapitalismus zu verstehen, die innerhalb dieses Systems nicht gelöst werden konnten. Er argumentierte zum Beispiel, dass sich im Kapitalismus die Produktivkräfte sehr schnell entwickeln: bessere Technik, bessere Wissenschaft und Landwirtschaft, ergo enormer gesellschaftlicher Reichtum. Aber wird diese Entwicklung wird durch die Grenzen des Privateigentums gebunden, was großes Elend für eine große Zahl von Menschen bedeutet. Diese Disparität stört die liberale Vorstellungskraft, wie Charles Dickens und andere illustrieren. Marx sagt: Seht her, es gibt keine Lösung in diesem System und deshalb müssen wir zu einem anderen System übergehen.

Aber das wirft die Frage nach der Unendlichkeit auf. Viele sagen: Das System, das wir haben, wird für immer bestehen, weil es auf Gier basiert und Ungleichheit natürlich ist. Marx hingegen argumentiert, dass die Geschichte zeige, dass es große epochale Umbrüche sehr wohl gegeben habe, und wenn er den epochalen Umbruch zwischen etwas, das Feudalismus genannt wird, und etwas, das Kapitalismus genannt wird, nachweisen kann, warum kann es dann nicht einen weiteren epochalen Umbruch zu etwas anderem geben? Bei seiner Methode des historischen Materialismus geht es also darum, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von der Vergangenheit in die Zukunft zu verfolgen. Die Zukunft ist also Teil der Betrachtung. Es handelt sich allerdings keineswegs um Zukunftsforschung. Stattdessen lautet die Annahme: Wenn es in der Vergangenheit epochale Veränderungen gab, könnte es in der Zukunft weitere geben.

Marx verstand das europäische “Material” am besten. Selbst in Europa gibt es eine große Vielfalt an feudalen Regimen – in Deutschland und Frankreich und Italien und Spanien und so weiter. Ungarn war eine der erbärmlichsten Feudalgesellschaften dieser Zeit, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs: elender Feudalismus, eine brutale, bösartige, antisemitische Art von Feudalismus. Kein Wunder, dass es 1956 zur Konterrevolution kam: brutale Faschist*innen kamen wieder an die Macht.

Aber Marx ist nicht nur an der europäischen Erfahrung interessiert. Im letzten Teil von Marx’ “Kapital I” geht er sehr detailliert auf die Enclosure-Bewegung in Großbritannien und die Art und Weise ein, wie der Imperialismus der britischen Industrie enormen Reichtum verschafft, und er zeichnet die große Transformation der landwirtschaftlichen Verhältnisse nach. Denn er ist sehr daran interessiert, zu verstehen, was die vorkapitalistische Dynamik in der Welt war. Welche Arten von Produktionsweisen gab es?

Das Untersuchungmaterial war für Marx begrenzt. Er musste hauptsächlich die britischen Aufzeichnungen über Länder wie Indien usw. lesen. Nun hatte der indische Feudalismus natürlich eine andere Geschichte als der europäische Feudalismus. Aber die erste wirklich universelle Produktionsweise war der Kapitalismus, weil er bestimmte Tendenzen universalisiert: die Tendenz zur Profitakkumulation durch den Produktionsprozess in erster Linie. Im Kapitalismus gibt es eine gewisse Homogenisierung der Wirtschaft und der Politik, die überall in der modernen Welt einsetzt. Im Gegensatz dazu gibt es eine enorme Vielfalt vorkapitalistischer Ökonomien, und um diese Vielfalt zu verstehen, betrachtet er das Material der Geschichte Asiens und behauptet, es gäbe eine asiatische vorkapitalistische Produktionsweise.

Sicherlich, es gibt bessere Historiker nach Marx – vielleicht sogar Zeitgenossen von Marx in Asien –, die ein feineres Gespür für vorkapitalistische Variationen haben. Aber ich finde es albern, wenn Leute sagen: Marx ist Orientalist, Marx ist Rassist. Er ist nichts von alledem. Er versucht, das Potenzial der Welt zu verstehen, eine Revolution hervorzubringen. Die Tatsache, dass Marx “den Osten” überhaupt theoretisiert, zeigt das. Er sagt nicht, dass die Menschen im Osten keine Menschen sind. Er sagt, dass sie menschlich sind: das ist eine antirassistische Geste.

Ob er nun in der Lage ist, die Ökonomien des Ostens korrekt darzustellen, ist eine andere Frage. Samir Amin hat den Begriff der tributären Produktionsweise geprägt. Hamza Alawi sprach von der kolonialen Produktionsweise. All dies sind interessante Möglichkeiten, diese Beziehungen zu theoretisieren oder zu systematisieren. Zu Beginn seiner Karriere schrieb Perry Anderson zwei umfangreiche Bücher – “Passages From Antiquity to Feudalism” und “Lineages of the Absolutist State” –, in denen er ebenfalls versuchte, die Entwicklung der Staatskunst im Laufe der Zeit zu verstehen. In diesen Texten erhält man ein viel klareres historisches Bild des Ostens.

Nichtsdestotrotz war Marx wichtig, weil er, bemerkenswert für seine Zeit, jeden einzelnen Aufstand unterstützte: den Aufstand der indischen Bauernschaft, die irischen Unabhängigkeitskämpfer*innen uws. Der Mann hatte, offen gesagt, keinen einzigen rassistischen Knochen in seinem Körper. Ich finde diese ganze Debatte über den Orientalismus oder Eurozentrismus von Marx absurd. Die Leute, die das behaupten, haben nicht genug marxistische Schriften von außerhalb Europas gelesen. Es stimmt, dass viele Marxist*innen eurozentrisch sind, aber das haben sie nicht von Marx.

MH: Viele Marxist*innen erwarteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass eine kommunistische Revolution in einer “entwickelten” westlichen kapitalistischen Wirtschaft wie England oder Deutschland erfolgreich sein würde, aber die erste Revolution fand in Russland, im Osten, statt. Welche Auswirkungen hatte – und hat – dies auf das radikale Denken?

VP: Dies ist eine sehr wichtige Frage für die gesamte Arbeit, die ich am TriContinental Institute for Social Research leiste. Auf der einen Seite haben wir also die Entwicklung der Produktivkräfte aus den letzten etwa einhundert Jahren. Wir beide zum Beispiel sprechen gerade über ein webbasiertes Videokonferenz-Tool und es ist unglaublich: Ihr Gesicht und der Raum, in dem Sie sitzen, sind klar erkennbar. Gleichzeitig ist die Ungleichheit heute extrem hoch. Warum wird der gesellschaftliche Reichtum nicht geteilt?

Nun, für Marx führt das Aufeinandertreffen von Privateigentum und dem Vormarsch der Produktivkräfte zu revolutionären Spannungen, so dass seine Konzentration auf Deutschland oder Großbritannien sinnvoll war, da dort die Spannungen am größten waren. Übrigens sagt Marx in seinen späten Briefen an die russische Marxistin Vera Zasulich und andere: Man muss nicht warten, bis die Produktionskräfte vorankommen. Man kann die Widersprüche und die Revolution beschleunigen, ohne zu warten. Diese Randbemerkungen werden von Marx nicht vollständig theoretisiert, das macht Lenin, der bekanntlich im russischen Reich aufgewachsen ist.

Heute wird unsere Vorstellung von Imperien durch die britischen oder französischen Imperien mit Überseekolonien überschattet. Aber das zaristische Regime war ein größtenteils zusammenhängendes Imperium, genau wie die Vereinigten Staaten: ein riesiges Territorium, das zum größten Teil in Asien lag und aus kolonisierten Völkern bestand, die als Bürger*innen zweiter Klasse gehalten wurden, einschließlich der Leibeigenen, die den Sklav*innen in den USA sehr ähnlich waren. Während die Sklaverei in den USA 1865 (gewissermaßen) abgeschafft wurde, emanzipierte der Zar die Leibeigenen im Jahr 1861. Das sind eigentlich sehr ähnliche Geschichten. Lenin wuchs in dieser unseligen imperialen Ordnung auf. Sein Bruder starb bei dem Versuch, ein Attentat auf den Zaren zu verüben. Im Jahr 1905 gab es einen Aufstand, der niedergeschlagen wurde. Lenin fragt: Müssen wir warten, bis die Produktivkräfte vorankommen, bevor eine Revolution möglich wird?

Lenin machte drei Beobachtungen, die von zentraler Bedeutung sind. Erstens sagte er, dass sich die Produktivkräfte in der kolonialen Welt nicht einfach von selbst weiterentwickeln werden. Wenn also die Möglichkeit einer Revolution daran geknüpft wird, dass sich die Produktivkräfte auf angemessene Weise entwickelt haben, bedeutet dies, dass Hunderten Millionen von Menschen die Möglichkeit abgesprochen wird, sich jemals zu emanzipieren. Ferner bedeutet dies, dass Indien, China, Russland, Mexiko usw., die ein niedriges Produktionsniveau haben, im Grunde genommen dazu verurteilt sind, bis auf Weiteres nichts anderes zu tun als Rohstoffe für Europa zu produzieren. Das ist nicht akzeptabel.

Daher Punkt zwei: Sozialist*innen müssen nationale Befreiungskämpfe verteidigen. So unterstützte Lenin im Gegensatz zu Trotzki und anderen den Osteraufstand von 1916: Er sagte, die nationale Frage müsse gelöst werden. Marx hat darüber nicht viel geschrieben, obwohl er intuitiv alle nationalen Kämpfe unterstützte. Aber Lenin stellte Theorien dazu auf und argumentierte, dass nationale Befreiungskämpfe eine Beziehung zum Sozialismus haben könnten.

Drittens argumentierte Lenin, dass in den fortgeschrittenen Industrieländern zwar die Arbeiter*innenklasse als politisches Instrument reife, doch der Imperialismus ihre Fähigkeit für revolutionäre Ziele zu kämpfen, abstumpfe. Ein Teil der Arbeiter*innenklasse werde zur Crème de la Crème, zur Arbeiter*innenaristokratie und damit zur Vorhut der Kapitalist*innen. Folglich würden sie die Arbeiter*innenklasse in eine falsche Richtung führen. In Deutschland zum Beispiel sagen Bernstein und Kautsky im Grunde, dass eine Revolution sinnlos sei, weil sich die Gesellschaft schließlich auf natürliche Weise zum Sozialismus entwickeln werde. In Großbritannien gibt es die Labour Party. In Frankreich gibt es die sozialistische Partei.

Es wäre für die Bolschewiki bequem gewesen, nach dem Sturz des Zaren im Januar/Februar 1917 nach Russland zurückzukehren und die liberale Regierung von Alexander Kerenski zu unterstützen, in der Hoffnung, er würde als Vertreter der Kapitalist*innen die Produktivkräfte entwickeln. Doch Lenin sagte voraus, dass Kerenski die Revolution verraten würde, weil er nicht in der Lage sein würde, die Produktivkräfte voranzubringen. Er würde das zaristische Russland als ein riesiges inneres Reich zweiter Ordnung aufrechterhalten, das den europäischen Imperien untergeordnet war. Deshalb mussten die Bolschewiki Kerenski stürzen.

Diese Idee, dass nationale Befreiung und Sozialismus gleichzeitig erreicht werden können, war die Lektion, die die kolonisierten Länder gelernt haben: Auch wir in China, in Indien können den Kolonialismus stürzen und zum Sozialismus aufsteigen, obwohl die Produktivkräfte noch nicht voll entwickelt sind. Wir müssen die Entwicklung der Produktivkräfte im Sozialismus beschleunigen. Das ist das eigentliche Herzstück des Leninismus. Es geht also nicht nur um die Revolution gegen den Zaren oder einen anderen Tyrannen.

Der Leninismus ist eine theoretische Tradition, die erstens besagt, dass kolonisierte Länder nicht in der Lage sein werden, ihre Produktivkräfte weiterzuentwickeln, zweitens, dass kolonisierte Menschen Bestrebungen zur nationalen Befreiung haben, die unterstützt werden müssen, und drittens, dass wenn es in einer Kolonie zu einer Revolution kommt, die von den nationalen Befreiungskräften angeführt wird, die wiederum von den Kommunist*innen unterstützt und angeführt werden, dann gilt es gemeinsam die Kolonialherren zu stürzen und dann die Produktivkräfte zu beschleunigen, um so schnell wie möglich zum Sozialismus zu gelangen. Der Leninismus hatte einen enormen Einfluss auf China und Vietnam. Er war eine große Inspiration für Ho Chi Minh, der nicht durch Marx zum Marxismus kam, sondern durch die bolschewistische Revolution und Lenin.

Die chinesische Revolution und der Maoismus entwickelten sich auf ganz andere Weise, als westliche Marxist*innen sich den richtigen Weg zur Revolution vorstellten, inspiriert vom Leninismus, aber anders als dieser. Ich spreche hier nicht nur über Mao und seine Ideen in der chinesischen Revolution, sondern auch darüber, wie diese eine Umgestaltung der westlichen marxistischen Vorstellungen davon erzwangen, wie man einen revolutionären sozialen Wandel herbeiführen kann. Ausgehend davon möchte ich drei verschiedene Wege aufzeigen.

Erstens: Irgendwann nach dem Scheitern der deutschen Revolution 1918 (und dem darauf folgenden Scheitern der ungarischen Revolution 1919) macht sich unter Marxist*innen in der westlichen Welt eine Art Hoffnungslosigkeit breit. Perry Anderson nennt dies eine Politik der Niederlage. Dies führte zu einer Tendenz, sich von Überlegungen zur politischen Ökonomie und Politik abzuwenden und auf die Philosophie zu konzentrieren. Man sieht das in der Frankfurter Schule, bei Althusser… heute gibt es diese Idee des “kommunistischen Horizonts” auf einer philosophischen Abstraktionsebene, die sich nicht mit dem Wesen der Arbeiter*innenklasse oder der Frage der Produktionskapazität auseinandersetzt. Die Finanzialisierung der Wirtschaft wird metaphorisch. Es findet keine Auseinandersetzung mit den empirischen Details der historischen Materie und des Materialismus statt.

Auf diesem ersten Weg gibt es eine Reise, die in der Asche Berlins startet, ausgehend von den in den Kanal geworfenen Leichen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, und eine direkte Linie zum philosophischen Engagement bildet, das man bei Alain Badiou und bis zu einem gewissen Grad bei Slavoj Žižek sehen kann. Marxismus erscheint hier als Philosophie des Klassenkampfes und der möglichen Revolution. Es ist keine Philosophie, um die Welt besser zu verstehen. Es gibt viele liberale Philosophien, die einem helfen können, die Welt zu verstehen, und ja, wenn der Marxismus einem hilft, die Welt besser zu verstehen, ist das gut. Aber es geht nicht nur darum, die Welt zu verstehen; es geht darum, sie zu verändern.

Der zweite Weg führt nach China. Die chinesische Revolution weist Gemeinsamkeiten mit der vietnamesischen oder der kubanischen Revolution auf. Auch hier mussten Fortschritte bei den Produktivkräften erzielt werden, während gleichzeitig die Produktionsmittel vergesellschaftet wurden. Es waren außerordentlich arme Länder. China war 1949 ein extrem armes Land, das von 12 Jahren Krieg zerrüttet war. Hier dauerte der Zweite Weltkrieg von 1937 bis 1949: der längste Zweite Weltkrieg aller Länder, und er war verheerend. Die nationalistische Regierung bombardierte einmal einen Staudamm und überflutete einen ganzen Bezirk, was zu einer Hungersnot führte. Die Leute reden über den Großen Sprung nach vorn, aber schauen wir uns an, was Chiang Kai-shek während des Zweiten Weltkriegs getan hat: eine weitreichende Zerstörung der Infrastruktur, unter der Millionen von Menschen zu leiden hatten. Die Kommunist*innen erbten also im Jahr 1949 eine Situation des großen Chaos. In ähnlicher Weise betrachtete Ho Chi Minh 1945 die Situation in Vietnam: Ein geteiltes Land, ein 30-jähriger Krieg, der ihnen von ’45 bis ’75 aufgezwungen wurde… Wie soll man den Sozialismus bloß aufbauen?

Im Gegensatz zu einer “Politik der Niederlage”, die ich weiter oben beschrieben habe, waren diese Revolutionen eine Politik des sozialistischen Aufbaus. Sie mussten sich mit den Tatsachen der Geschichte auseinandersetzen, die schmutzige Wäsche waschen und versuchen, sie ohne Wasser und Seife sauber zu bekommen. Der Marxismus, der sich dort entwickelt, hat also seine Nase tief in der Geschichte.

Ich bin gerade dabei einen Band mit Schriften und Reden von Ho Chi Minh herauszugeben, und der größte Teil des Buches stammt aus der Zeit nach 1945, als er mit verschiedenen Komitees sprach und versuchte, den Leuten klar zu machen, wie man das Wertgesetz von einer Analyse des Kapitalismus in ein Werkzeug des Sozialismus umwandeln kann, eine sehr komplizierte Arbeit und auch eine gefährliche Arbeit mit vielen physischen und ideologischen Angriffen. Hier verliert der westliche Marxismus den Faden. Er sieht diese Leute nicht als Marxist*innen an, sondern nur als Leute, die Handbücher schreiben. Die Menschen kennen Che Guevaras Handbuch für einen revolutionären Krieg, aber er schrieb auch über Wirtschaft, als er Chef der kubanischen Zentralbank war, als er Industrieminister war. Bis Helen Yaffi ein Buch darüber schrieb, interessierten sich die Menschen außerhalb Kubas nicht für dieses Thema. Che war ein innovativer Denker, was das Management der postkapitalistischen Wirtschaft angeht.

Mao schrieb und sprach viel darüber, wie man den Sozialismus aufbaut. Der bewaffnete Kampf ist nur eine Taktik. Die Schriften von General Giap über Vietnam? Das sind taktische Bücher, er wäre der Letzte, der sie als großer theoretischer Innovator bezeichnen würde. Nein, die große theoretische Innovation war die Praxis des Aufbaus des Sozialismus in einem armen Land. Sie lehnten die Lösung von Pol Pot ab, nämlich die Vergesellschaftung der Armut. Stattdessen wollten sie die Produktivkräfte voranbringen. Das ist der Grund, warum viele Menschen in vielen Teilen der Welt China einfach nicht verstehen. Sie verstehen nicht, wie wichtig es ist, den Hunger zu beseitigen, die Armut zu beseitigen und die Alphabetisierung der Massen zu fördern. Natürlich sind sie Menschen: China hat seine eigenen internen Probleme, es macht Fehler. Es gibt Fehler, die auf alle großen Organisationen zutreffen: Informationsfehler, Fehler, die dadurch entstehen, dass jüngere Mitglieder sich nicht trauen, den Älteren zu sagen, wenn ein Problem auftritt… aber das passiert in allen Gesellschaften. Man muss das ausklammern und das Gesamtproblem betrachten. Wie hat China die Armut abgeschafft, während Indien dies nicht geschafft hat?

Der dritte Weg führt in die Romantik. Als die Kulturrevolution in China stattfand, begannen die europäischen Marxist*innen, die die Sowjetunion für zu langweilig oder zu grau hielten, zu phantasieren. Es gibt all diese Bücher, in denen die Geschehnisse in China auf der Grundlage eines sehr geringen Verständnisses übertrieben werden. Es gibt eine Geschichte aus den späten 1960er Jahren, in der sich Ho Chi Minh mit einer Delegation der Kommunistischen Partei Italiens trifft. Sie saßen in seinem geheimen Haus, einem sehr bescheidenen Ort; er saß dort, typisch für ihn, mit einer Zigarette in der Hand, und die Italiener fragten ihn, wie sie Vietnam helfen könnten, eine sehr ehrliche und aufrichtige Frage, während US-amerikanische Flugzeuge Vietnam bombardierten.

Aber Ho Chi Minh sagt nicht: Schickt uns dies oder das; er sagt: “Geht nach Hause und macht eine Revolution.” Er sagt: Sicher, wir brauchen Solidarität, wir brauchen jede Menge davon, aber wir brauchen keine Romantik. Wir werden unsere Revolution machen. Wir werden sterben und Opfer bringen, und ja, wir brauchen euch da draußen im Kampf gegen die Lügen, die sie über uns erzählen. Aber geht nach Hause und macht eure Revolution. Was bringt es, über Kuba zu phantasieren? Natürlich braucht Kuba heute mehr denn je Solidarität. Venezuela braucht heute mehr denn je Solidarität. Aber: Geht nach Hause und macht eure eigene Revolution.

Dieser Weg der Romantik entspringt einer Situation der Niederlage in Europa und in den Vereinigten Staaten, einem Gefühl, dass wir nur bescheidene Reformen fordern können, die zur Vereinnahmung verdammt sind. Wir können nichts voranbringen, also phantasieren wir von etwas anderem. Aber diese Phantasie wird euch unweigerlich enttäuschen, denn vergesst nicht: Die anderen sind auf dem zweiten Weg. Sie erneuern sich, mühen sich ab und scheitern beim Aufbau des Sozialismus. Wenn ihr im Westen mit der schmutzigen Realität konfrontiert werdet, werdet ihr euch dagegen wenden.

MH: Die Kehrseite der Romantisierung ist immer Verachtung! Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der marktorientierten Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft ist “der Osten” erneut zu einem Katalysator für die westliche Vorstellungskraft geworden, dieses Mal jedoch in einem sehr negativen Licht. Wir begannen das neue Jahrtausend mit einem Krieg gegen den Terror, der auf orientalistischen Ängsten vor dem Osten beruhte. Heute erleben wir, wie “westliche” Mächte wegen des Aufstiegs Chinas Alarm schlagen. Was bedeutet das für die Linke?

VP: Das Projekt der chinesischen Revolution war die Befreiung der Menschen von allen möglichen Missständen, einschließlich Armut und Analphabetismus. Die Lebenserwartung stieg während der Mao-Periode tatsächlich um mehr als ein Jahrzehnt, was erstaunlich ist, wenn man es mit dem Jahrzehnt nach dem Fall der Sowjetunion vergleicht, als die Lebenserwartung in Russland zusammenbrach. So ist das eben, wenn der Kapitalismus zurückkehrt!

1978 beschloss China, eine Reformära einzuleiten. Ich halte das für den Zickzackkurs der Geschichte: Man lockert die Dinge, um die Produktivkräfte voranzubringen, und dann, wenn Ungleichheiten auftauchen, geht man in eine andere Richtung. Seit 1978 haben wir in China eine Menge Zickzack-Kurse erlebt. Aber wissen Sie, der sozialistische Aufbau ist eine schmutzige Angelegenheit: Er ist nicht einfach und es gibt keine Blaupause. In den mehr als 100 Stunden Interviews sagte Fidel Castro zu Ignacio Ramonette, dass es 1959 keinen Plan für die Revolution gab, man musste innovativ sein. Das ist es, was in China passiert ist. Die Art und das Ausmaß der Innovation und der Fehlerakzeptanz in China sind sehr interessant. In den 1990er Jahren öffnete sich China und privatisierte das Gesundheitswesen. Dann kam die SARS-Epidemie, die ein Weckruf war, und das Land baute ein robusteres öffentliches Gesundheitssystem auf.

Ich akzeptiere die Auffassung von der kapitalistischen Restauration in China nicht. Es ist ein sehr heikles Unterfangen, da viele wichtige Wirtschaftssektoren in öffentlicher Hand sind, einschließlich bedeutender Teile des Bankensektors. Eine Lehre, die man aus früheren sozialistischen Experimenten gezogen hat, ist, dass man nicht alles verstaatlichen muss, einschließlich der Friseurläden. Die Frage lautet nicht “Markt oder Staat”. So sieht es die bürgerliche Logik. Die Frage ist, wie wir den gesellschaftlichen Reichtum nutzen können, um die Sache der Menschheit voranzubringen. In einigen Lebensbereichen können Märkte über einen langen Zeitraum hinweg nützlich sein, um eine verzerrte Preisbildung zu verhindern. Das ist völlig in Ordnung, denn die Frage lautet nicht “Markt oder Staat”, sondern: Nutzen wir die immense Produktivität so, dass sie gesellschaftlichen Reichtum erzeugt, um die Sache der Menschheit voranzubringen, und nicht die Sache von Leuten, die Inseln in der Karibik kaufen.

In den 1990er Jahren haben die Chines*innen begriffen, dass sie ihre Wissenschaft und Technologie verbessern müssen, sonst werden sie immer die Kulis der Weltordnung sein, immer Arbeiter*innen für deutsche oder britische Unternehmen. Also steckten die Chines*innen einen großen Teil ihres gesellschaftlichen Reichtums in den Aufbau von Wissenschaft und Technologie, und in den letzten fünf oder sechs Jahren haben sie westliche Unternehmen in den Bereichen Robotik und Telekommunikation überflügelt… das ist die wahre Natur des heutigen Kalten Krieges.

Er ist eigentlich nicht mit dem Krieg gegen den Terror zu vergleichen, denn Al Qaida hat westliche Unternehmen nicht existenziell bedroht. Vielleicht drohten sie, sie zu stören und zu verletzen, aber sie konnten sie nicht verdrängen. Aber chinesische Firmen können das. Im Jahr 2009 wendet sich Obama Asien zu und versucht, das chinesische Entwicklungsgenie wieder in die Flasche zu stecken, und die Chines*innen weigern sich. Sie haben jetzt ihre eigene Agenda und wollen sich nicht vorschreiben lassen, was sie zu tun haben.

Die USA behaupten, China verletze mit 5G die Privatsphäre, aber im Ernst: Edward Snowden hat bereits aufgedeckt, dass alle Technologieunternehmen Nutzer*innendaten an die NSA weitergeben. So funktioniert der Informationskrieg nun einmal: Die Öffentlichkeit ist leichtgläubig, und das Ganze hat einen rassistischen Beigeschmack. Irgendwie ist es für die Menschen in Ordnung, ihre Daten an einen Haufen weißer Männer zu geben, die in der NSA-Zentrale sitzen, aber sie wollen sie nicht an die Chines*innen weitergeben? Dahinter verbirgt sich zweierlei: Rassismus gegen die “gelbe Gefahr” und wirtschaftlich motivierter Antikommunismus. Natürlich liegt dem Ganzen Amnesie zu Grunde. Wenn Mike Pompeo sagt, wir müssten unsere Privatsphäre schützen, vergisst man, dass er früher Chef der CIA war. Im Gegensatz zu den Zielscheiben des Kriegs gegen den Terror haben die Chines*innen tatsächlich eine existenzielle Bedrohung für den westlichen Kapitalismus geschaffen.

MH: Das Tri-Continental Institute for Social Research, das Sie leiten, hat seinen Namen und seine Inspiration durch eine Konferenz, die 1966 in Kuba stattfand und die versuchte, Verbindungen und Solidarität zwischen Asien, Afrika und Lateinamerika herzustellen. Mich interessiert, inwiefern dieses Erbe den Wunsch des Instituts inspiriert, über die Binarität von West und Ost hinauszugehen, die für die imperialistische Erzählung so nützlich war, aber für diejenigen, die für eine bessere Welt kämpfen, offensichtlich ziemlich gefährlich ist.

VP: 2015 fand in Brasilien ein Treffen mit dem Titel “Die Dilemmata der Menschheit” statt, das vor allem, aber nicht nur, von der Bewegung der Landlosen (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra, MST) organisiert wurde. Daraus wurde die Internationale Volksversammlung, und heute haben wir 200 Mitglieder, von großen politischen Parteien (die Arbeiterpartei Tunesiens, die Sozialistische Partei Sambias, die Kommunistische Partei Nepals) bis hin zu den sozialen Bewegungen der ALBA (vielleicht der größte Zusammenschluss von Bewegungen in der Welt).

Bei diesem Treffen wurde festgestellt, dass wir uns mitten in einer Phase befinden, in der der Kampf der Ideen beträchtlich ist, und dass die Versammlung eine Denkfabrik oder ein Forschungsinstitut benötigt, und ich wurde gebeten, bei dessen Aufbau mitzuhelfen. Wir diskutierten mit vielen Leuten über den Namen und kombinierten zwei Traditionen. Die eine war die von Ihnen erwähnte trikontinentale Bewegung, die die Solidarität zwischen nationalen Befreiungs- und Dekolonisierungskämpfen in einem marxistischen und sozialistischen Kontext fördern wollte. Sie war in gewisser Weise eine Antwort auf die Bewegung der Blockfreien Staaten, die nicht ausdrücklich sozialistisch und nur für Nationalstaaten offen war. Die Tri-Continental war auch offen für nationale Befreiungsbewegungen, die noch keine staatliche Macht errungen hatten, wie die Bewegung in Guinea-Bissau, die dort von Amilkar Cabral vertreten wurde. Auch wir wollten nationale Befreiungskämpfe, Marxismus und Bewegungen miteinander verbinden.

Der zweite Teil des Namens geht zurück auf das Institut für Sozialforschung und auf die Frankfurter Schule, die sich in den 1930er Jahren inmitten des Aufstiegs des Faschismus und des Zusammenbruchs des Kapitalismus bildete. Dort warf Max Horkheimer, der prägenste Direktor, die Frage nach der Notwendigkeit auf, die Kultur und die Gründe für den Siegeszug des Faschismus zu untersuchen. Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation: Der Kapitalismus befindet sich in einer schweren Krise und neofaschistische Bewegungen sind im Aufwind, auch im Herzen des kapitalistischen Blocks in den Vereinigten Staaten und so weiter. Die Tradition der Frankfurter Schule ist inzwischen ziemlich vom Weg abgekommen, aber die ursprünglichen Fragen, die sie 1937 stellten, sind für mich persönlich und für unser Team von großem Interesse.

MH: Gibt es bestimmte Kämpfe, die Sie heute außerhalb des Westens besonders inspirierend finden?

MH: Auf jeden Fall. Zunächst streikten am 26. November 2020 250 Millionen indische Arbeiter*innen und Bauern*Bäuerinnen. Sieben Monate später, im Juni 2021, kämpften Dutzende Millionen indischer Bauern*Bäuerinnen ununterbrochen gegen die Regierung. Wir haben ein hervorragendes Dossier erstellt, das auf unserer Website zu finden ist und in dem wir die Art dieses Kampfes erklären, denn ein Teil unserer Arbeit besteht darin, die Theorie der Kämpfe zu erweitern und zu verbessern. Wir haben mit Bauernführer*innen gesprochen und einen Text verfasst, in den die Meinungen und Ansichten der Bauernbewegung selbst eingeflossen sind.

Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, sind die Kämpfe der Beschäftigten des Gesundheitswesens auf der ganzen Welt, ob es sich nun um Krankenschwestern in Südafrika oder um das Gesundheitspersonal in Brasilien handelt. Beide helfen den Menschen, die Covid-19 Pandemie zu überwinden, und sie kämpfen für ihre Rechte als Arbeitnehmer*innen. Das ist sehr inspirierend. Natürlich inspiriert mich auch der von den Kubaner*innen entwickelte Abdala-Impfstoff, den sie nach einem Gedicht von José Martí über einen Freiheitskämpfer in einem fiktiven Land benannt haben.

Was für eine erstaunliche Leistung für eine Insel mit 11 Millionen Einwohner*innen. Der Impfstoff hat eine Wirksamkeit von 92,5 % und ist damit fast genauso wirksam wie Pfizer und Moderna. Sie haben einen weiteren nasalen Tropfimpfstoff entwickelt, was für Länder, in denen keine Spritzen verfügbar sind, unglaublich ist. Die Kubaner*innen spielen in einer anderen Liga. Ich betrachte die Kubaner*innen als Jedi-Ritter*innen der höchsten Stufe. Sie haben ein gewisses Strahlen. Ich möchte Kuba nicht romantisieren. Es hat eine Menge Probleme, und die Blockade hat eine Menge Probleme verursacht, aber diese Insel hat etwas, das ich sehr bewundere.

Anm. d. Red.: Die Fragen stellte Max Haiven.

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