>Die elektronischen Briefkaesten unserer weltweit zerstreuten LeserInnen sind die deutschen Chinatowns des Internet.< Anlaesslich des dreijaehrigen Bestehens der Berliner Gazette gab ich diesen Slogan zum Besten und erntete auf unserer Jubilaeumsgala im nbi, damals noch in der Schoenhauser Allee 157, nur maessigen Beifall. Vermutlich konnte das Publikum mit diesem Sprachbild wenig anfangen. Okay, allen ist gelaeufig, dass Chinatowns urbane Satelliten der chinesischen Kultur zwischen Tokio und New York sind. Aber die elektronischen Briefkaesten der Berliner Gazette-AbonnentInnen als das deutsche Pendant dazu?
Wir konnten bereits 2002 AbonnentInnen in Paris, Rom, Marseille, Kopenhagen, London, Barcelona, Tokio, Amsterdam sowie anderen Metropolen verbuchen, in denen die Amtssprache nicht Deutsch ist. Es ging also darum ein Bild zu finden, dass dieser Internationalitaet Rechnung trug. Wahrscheinlich war aber schon damals schwer vorstellbar, dass man mit einem deutschsprachigen Publikationsprojekt LeserInnen zwischen Suedeuropa, Skandinavien und Asien erreichen kann. Lag es nur daran, dass kaum jemand fuer moeglich gehalten haette, dass sich in diesen Regionen Menschen fuer Berlin und das hiesige Kulturleben interessieren?
Nein, ich nehme an, dass es eher daran lag, dass man einem deutschsprachigen Feuilleton im Internet diesen Einzugsbereich nicht zugetraut haette. Mehr noch als in der materiellen Welt heisst im Cyberspace die Lingua Franca Englisch. Medientheoretiker wie McKenzie Wark und Geert Lovink haben auf diesen Umstand hingewiesen und ihn theoretisiert. Und ohnehin: Deutsch eine Sprache, die nicht nur in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz gesprochen wird? Deutsch gar eine Weltsprache? Wir wissen, dass Englisch und Spanisch als Weltsprachen gehandelt werden. Wer die Ranglisten konsultiert, wird dort auch Arabisch finden. Klar. Aber auch Chinesisch und Indisch werden dort unter den Top 5 verzeichnet.
Letzteres ist nur dadurch zu erklaeren, dass im Verhaeltnis zur Weltbevoelkerung sehr viele Menschen diese beiden Sprachen sprechen. Indien und China – das sind Laender mit sehr vielen Einwohnern. Doch obwohl es eine beachtliche Diaspora gibt, ausserhalb der Landesgrenzen wird diese Sprache so gut wie nicht gesprochen. Spanisch, Englisch und Arabisch werden dagegen grenzuebergreifend von zahlreichen Nationen gesprochen. Das laesst sie nicht nur als wahre Weltsprachen erscheinen. Davon lassen sich auch Kriterien ableiten, wie man eine Weltsprache im Internet definieren wuerde. Immerhin haben im Cyberspace die Grenzen des Nationalstaats eigentlich kaum noch Bedeutung.
So ist auch Deutsch im Internet nicht an die Landesgrenzen gebunden. Menschen, die irgendwo in Suedeuropa, Skandinavien oder Asien leben, koennen deutsche Websites so abrufen und lesen, als wuerden sie in Deutschland zum Kiosk gehen. Andersherum koennen Deutsche, die ins Ausland gezogen sind, Blogs ins Netz stellen, die sich muehelos mit der deutschsprachigen Community im Internet verlinken lassen. Deutsche, die etwa in die Tuerkei [Antalya], nach Spanien [Mallorca], Zentralafrika [Namibia] oder in die Karibik gezogen sind. Deutsche, die in irgendwelchen Kolonien in Suedamerika [Colonia Dignidad] oder Nevada leben, wo neulich ein Hofbraeuhaus bei Las Vegas eroeffnete, um ihre Anwesenheit zu feiern.
Deutsche im Ausland – das ist dem Stern regelmaessig eine Titelstory wert. 2004 etwa: >Der Traum vom Sueden. Leben und arbeiten, wo andere Urlaub machen<. 2005 hiess es wiederum: >Ab ins Ausland: Neuer Job, neues Glueck<. Deutsch im Ausland - das ist bislang eine Domaene der Germanistik-Abteilungen von auslaendischen Universitaeten, Sprachschulen und Goethe-Instituten gewesen. Doch wer kuemmert sich um Deutsch als Weltsprache im Internet? Wer dokumentiert und kommentiert die Verbreitung des Deutschen im Cyberspace? Obwohl das Thema auf der Hand liegt, fuehlt sich diesbezueglich eigentlich so gut wie niemand zustaendig. Nun kann es nicht die Aufgabe der Berliner Gazette sein, diese Zustaendigkeit zu uebernehmen, aber - soviel sollte klar geworden sein - das digitale Mini-Feuilleton praktiziert Deutsch als Weltsprache ohne dabei versunkene Kolonialmythen wachzurufen. Nein, es geht vielmehr darum, die Vielfalt des Internets zu pflegen. Und die Moeglichkeiten der elektronischen Weiten zu erkunden. AbonenntInnen zu werben, die als Sprachlehrer auf den Philippinen leben oder als Angestellter einer Automobilfirma in Carolina. Expatriats oder Liebhaber der deutschen Kultur und Sprache. Immigranten der x-ten Generation oder temporaere Aussteiger. Es gehoert zu den Zielen der Berliner Gazette, ihre elektronischen Briefkaesten zu erreichen und sie als Mitglieder einer virtuellen Gemeinschaft zu gewinnen. Die deutschen Chinatowns des Internet? Ich vermute ein anderer Grund fuer den verhaltenen Beifall vor dreieinhalb Jahren duerfte darin bestehen, dass elektronische Briefkaesten nicht so sehr als kollektive Siedlungsformen erscheinen. Eher noch als individuelle. Das Bild war also nicht nur ueberraschend und gewissermassen neu, sondern auch nicht ganz stimmig. Aber: Spaetestens heute wird mir klar, dass die Uebersetzung zwischen off- und online-Realitaeten so problematisch ist, dass wir noch nach passenden Entsprechungen suchen. Beziehungsweise fuer die Verhaeltnisse im Internet eigene Begriffe zu finden versuchen. Der Slogan, den ich am 17.07.2002 zum Besten gab, beschrieb unser Projekt durchaus adaequat: Naemlich als Arbeitstitel. Es ist allerdings an der Zeit, an neuen Slogans zu basteln. Ich hoffe, dass wir spaestens bei der naechsten Jubilaeumsfeier neue Sprueche im Angebot haben.