Das erste Mal vor einem Aquarium gestanden habe ich im Palais du Trocadero in Paris, im Alter von ungefaehr 15 Jahren. Ich habe keine Erinnerungen an bestimmte Tiere, sondern nur an die Farbe des Wassers – es war gruen und gelb, durchzogen von Luftblasen – und an das beunruhigende Gefuehl, dass diese Wassermassen die Scheiben zerbersten und sich ueber uns ergiessen koennten. Das Aquarium – wie uebrigens auch das Terrarium, wo man unterirdisch lebende Tiere wie Ameisen, Schlangen, kleine Nager haelt – leistet einer Art Voyeurismus Vorschub.
Hier kommt das Verlangen zum Tragen, etwas zu sehen, was nicht sichtbar ist, sofern man nicht danach taucht: die Meeres-, See- oder Flusstiefe. Diese Tiefe, auf unsere Augenhoehe exponiert, vor uns, und von uns nur durch ein Glas getrennt, welches ihr eine Form gibt – meistens ein Parallelepiped – ist seiner Tiefenwahrheit entzogen und in einem Raum eingelassen, der nach allen Seiten hin geoeffnet ist. Was wir moegen, ist das Gefuehl der Immersion – eine Fluiditaet des Tauchens. Das funktioniert in meinen Augen uebrigens nur mit den grossen oeffentlichen Aquarien. Mit den haeuslichen Aquarien nicht. [Ich hatte mal eines vor langer Zeit fuer meine Kinder, mit Schildkroeten aus Florida].
Das Wasser des Aquariums ist ein zerschnittenes, zerstueckeltes, glaciertes Wasser. Seewasser ist im Vergleich dazu ein gaenzlich anderes Wasser. Wasser, welches die Tiefe umspielt, Wasser, mit Geheimnissen durchtraenkt, ohne Gewissheit, ohne Transparenz. Oder besser: Wasser, das die Gewissheit seiner dunklen Oberflaeche besitzt. Es offenbart mir seine Tiefe nicht; es entzieht sie mir und exponiert stattdessen seine duestere Verfinsterung. Der Planschnitt ist nicht vertikal [wie beim Aquarium] zwischen mir und dieser Oberflaeche, sondern horizontal, zwischen meiner Annaeherung an das Ufer und der Oeffnung seiner gleichermassen klaffenden und verschlossenen Oberflaeche.
Dieses stehende und ruhende Wasser des Sees ist der Ausgangspunkt meines Essays >Die Annaeherung< [2008]. Und es war die photographische Arbeit von Anne Immele, speziell eine Serie von Seefotos, die mich dazu inspiriert hat. Man darf an dieser Stelle nicht unerwaehnt lassen, dass ich einen Text fuer sie geschrieben habe, der in dem Fotobuch >WIR< [2003] erschien. Der Gesamteindruck dieser Fotos, unter denen es bereits einige Bilder von Seen, sowie von Wasserbecken in Zoos gab, und darueber hinaus von Wasserlachen und Schwimmbaedern [es gab auch andere Fotos, ohne Wasser] - dieser Eindruck legt es nahe, von ihrer Eigenart als einer Art zu sprechen, die Dinge ruhig zu stellen, gleich zu machen und in die Laenge zu ziehen, all das in einem ziemlich konstant grauen oder verblassenden Licht. Ich habe meinen Text >Stehendes Licht< [Lumiere Etale] genannt. Etale ist im Franzoesischen ein Adjektiv, das im Begriff Stauwasser [oder auch Stillwasser] jene Phase im Zyklus von Ebbe und Flut bezeichnet, die sich zwischen das Ende des auflaufenden Wassers und den Anfang des ablaufenden Wassers schiebt. Der Wellengang wird sanfter, eine Spannung wird spuerbar, ein gewisses instabiles Gleichgewicht, das aber eine Pause einleitet. Das Meer stellt aus, sagt man, glaube ich, im Deutschen. Das ist auch ein Schweben. Diese enorme, riesige Masse, die, waehrend die Zeit vergeht, mit der Erstuermung des Ufers beschaeftigt ist, daraufhin mit dem Rueckgang und dem sich Zurueckziehen - dieses unermuedliche Wechselspiel der Expansion und Kontraktion findet einen Moment, ungefaehr eine Stunde, des Stillstands. In den Seen sind die Gezeiten unmerklich: das Wasser der Seen ist immer im Stehen begriffen. Der See repraesentiert dieses Intervall zwischen der Ausdehnung und Zusammenziehung, zwischen Eroberung und Absetzbewegung, zwischen Kreation und Implosion, ein Intervall, das der Agitation fremd bleibt und das jaeh eine einzige immobilisierte Macht enthuellt. Die Meerestiere sind ruhig: Man spuert genau, wie ihre Kiemen atmen. Es ist wie vor einem Orkan oder nach dem Ende der Welt. Ein bisschen wie die Stille vor dem Sturm. Ich glaube nicht, dass sich das >ich< im See spiegelt. Vielmehr taucht es darin. Es taucht darin ohne zu tauchen. Weder badet es noch schwimmt es in der Tiefe [uebrigens hat es Angst davor]. Aber es taucht seine Gedanken in dieser Undenkbarkeit, die die obskure, geschlossene und dennoch bewegbare Masse des duktilen und plastischen Wassers ist. Zur gleichen Zeit kommt dieses >ich<, das am Rande des Sees ankommt, von den Bergen und vom Wald her: Der See oeffnet sich vor ihm wie ein Krater [dies ist vielleicht das Antike], wie ein sehr alter Riss der Erde im Bereich ihres festen Gesteins und ihrer aeltesten Vegetation. Dies ist ein Mund, der zugleich geoeffnet und geschlossen ist, mit welchem sich der vorherige Zustand der Welt aeussert: ein Zustand ohne Transzendenz, ohne Form, alles in allem ohne Ausdruck. Oder es ist wie ein Auge, das nicht sieht, ein Auge, das dem Himmel zugewendet ist, der sich selbst im Wasser spiegelt - der Himmel und nicht das >ich<. Das Wasser ist das Element, das ueber alle anderen vorherrscht: es durchtraenkt die Erde, es loescht das Feuer, es durchzieht die Luft, um Nebel, Wolken und Regen zu bilden. Das Wasser herrscht vor, aber es dominiert nicht. Die Welt, eine Welt im Allgemeinen, ist im Wesentlichen fluessig, das heisst, dass sie zur Vermischung einlaedt, sowie zum Getuemmel, zum Fliessen, zum Tauchen und zum Ertrinken, aber auch zur Navigation, eben in dieser bestimmten Art, sich zu bewegen, sich Stroemungen und Winden hingebend sowie ihren Appellen zur Geschmeidigkeit und Gehorsam. Die originaeren Welten sind in einer gewissen Weise immer >fluessig<: beispielsweise die grossen Wuesten, die grossen Steppen, die grossen Waelder sind Spielarten des Meeres, des Ozeans, des fluessigen, beweglichen, wellenfoermigen Milieus. Sagt man nicht, dass die Zeit fliesst? Das meint nicht die Unumkehrbarkeit des Zeitverlaufs. Was es vielmehr zu denken gilt, ist die Bewegung, das Gleichgewicht, die Wellen, die Duenungen, die Rhythmen der Zeit und mit ihnen die des Raums, wenn wir ihn durchschreiten, wenn wir ihn sich oeffnen lassen und uns ihm gegenueber oeffnen. Das Wasser, welches das Prinzip des Lebens ist, bietet nicht wie die Luft die Transparenz, die es wiederum erlaubt, die Form, die Idee klar zu unterscheiden. Folglich vernichtet oder vergeudet es die Formen nicht: es verwandelt sie vielmehr fuer den Blick und die Beruehrung, es verfluessigt die Sinn-Beziehungen, die Identifikationen, die Fixpunkte. Im Wesentlichen machen die Ufer das Meer aus, obgleich es ihnen immer auch entrueckt ist, und zwar so weit, dass man sich niemals sicher sein kann, ob es die Erde jemals beruehrt. Auf diese Weise bringt das Meer einen Raum hervor, in dem der Sinn staendig zirkuliert und sich zugleich staendig entzieht - ein Entzug, bei dem die Wiederholungen des Seegangs eine andere Figur bilden. Immer mobil, niemals immobil - ausser wenn es steht - aber nicht mobil im Sinne einer geleiteten, gefuehrten Mobilitaet. Es gibt keinen Motor, wir haben es hier nicht mit Motorik zu tun. Es ist eine Bewegung, welche der Unterbrechung, Synkope und Wiederaufnahme harrt. Eine musikalische Bewegung. Tatsaechlich ist das Wasser musikalisch. Man denke nur an die unzaehligen Kompositionen oder Lieder, die sich auf das Meer beziehen.
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