Atomkraft in Japan: Die GegnerInnen, die Lobby und die Überlebenden von Hiroshima und Fukushima

Foto: Shimane Nuclear Power Plant von KEI (cc by)

Was können wir von Japan lernen? Seit der Katastrophe in Japan ist man in Deutschland schnell dazu übergegangen, eine intensive Nabelschau hinsichtlich Atomkraft zu betreiben. Aber langsam. Wir sollten zuerst verstehen, was in Japan passiert ist. Verstehen, wie dort die Nuklearindustrie funktioniert, was für Fehler sie gemacht hat und was einem Paradigmenwechsel hin zu erneuerbaren Energien im Wege steht. Die Berliner Gazette hat einen Experten eingeladen, dazu Stellung zu nehmen. Im Rahmen unseres Schwerpunkts WAS BLEIBT? äußert sich der international renommierte Historiker Yuki Tanaka zu den nachhaltigen Lektionen der Katastrophe – für Japan und die Weltgemeinschaft.

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Das Erdbeben, das Japan am 11. März mit einer Stärke von 9.0 auf der Richterskala traf und der daraus folgende gewaltige Tsunami zerstörten die malerische Landschaft an der Nordküste von Japans Hauptinsel Honshu. Tausende Menschen kamen ums Leben, viele wurden obdachlos.

Auf dem Gebiet, das im Zuge dessen komplett verwüstet wurde, befinden sich auf einer Strecke von 200 Kilometern vier Atomkraftwerke mit insgesamt 15 Reaktoren. Von diesen ist die Anlage Fukushima 1, die durch den tokioter Energiekonzern TEPCO betrieben wird, mit ihren sechs Reaktoren die größte. Bis zu diesem Zeitpunkt war TEPCO stolz auf die Stabilität der Sicherheitsbehälter dieser Reaktoren. Die Firma hatte angegeben, diese unter Zuhilfenahme jener brillanten Technologie gebaut zu haben, die ursprünglich für die Hauptbatterie der größten, jemals gebauten Schiffsartillerie entwickelt wurde. Diese Artillerie war auf dem riesigen Kampfschiff Yamato installiert, welches zum Ende des Pazifikkriegs von U.S.-Streitkräften zerstört wurde.

TEPCO: „Weltbeste nukleare Energietechnologie“

TEPCO behauptete, dass sich die Nuklearreaktoren im Falle eines Erdbebens zuverlässig herunterfahren und dann automatisch abkühlen würden. Strahlung würde dabei nicht austreten. Ein Erdbeben könne deshalb zu keinem schwerwiegenden nuklearen Unfall führen. Die Angreifbarkeit von Nuklearreaktoren durch Erdbeben war aber bereits beim Erdbeben der Stärke 6,8 im Juli 2007 klar geworden.

In TEPCOs Atomkraftanlage Kashiwazaki-Kariwa an der Nordwest-Küste Japans kam es damals zu mehreren Fehlfunktionen, unter anderem zu einem Brand in einem Umwandler sowie dem Austreten kleinerer Mengen von Strahlung ins Meer und in die Atmosphäre. Trotz dieses ernstzunehmenden Unfalls hielt TEPCO weiterhin arrogant an der Einschätzung fest, im Besitz der „weltbesten nuklearen Energietechnologie“ zu sein.

Der von TEPCO verbreitete Mythos von einem „sicheren und strapazierfähigen Reaktor“ wurde jedoch sofort erschüttert, als unmittelbar nach dem Erdbeben am 11. März, das die Reaktoren mit Gewalt erbeben ließ, meterhohe Tsunamiwellen über die Reaktoren hereinbrachen und mehrere Gebäude der Anlage beschädigten.

Während ich diesen Text hier schreibe, stehen drei der sechs Reaktoren kurz davor zu schmelzen und einer der Sicherheitsbehälter hat Feuer gefangen, weil verbrauchte Brennstäbe sich entflammt hatten. Das Strahlungslevel in der Umgebung des Atomkraftwerks ist sehr hoch und die Strahlung breitet sich immer weiter Richtung Tokio und Yokohama aus. Mit jedem weiteren Tag entfaltet sich ein beispielloses nukleares Desaster, das es immer schwieriger macht, die Radioaktivität einzudämmen.

Was hat Japans Atomindustrie falsch gemacht?

Es wird oft gesagt, dass Japaner, durch die Erfahrungen, die sie im August 1945 gemacht haben, höchst sensibel in Bezug auf nukleare Themen seien. Am Morgen des 6. August tötete eine Atombombe auf einen Schlag 70.000 bis 80.000 Bewohner von Hiroshima, bis zum Ende des Jahres starben 140.000 Menschen der Stadt an den Folgen des atomaren Bombenangriffs.

Drei Tage später tötete eine weitere Bombe etwa 40.000 Menschen in Nagasaki, weitere 70.000 Menschen starben bis Jahresende. Viele andere erlagen später den Folgen der Atombombe, oft nach einem Leben voller Qualen. Auch heute noch leiden Menschen an verschiedenen Krankheiten, die durch die Bombe, Brände und Strahlung verursacht worden sind.

Foto: Hiroshima A-Bomb Dome von chriggy1 (cc by-nc-nd)

Es stimmt, Japaner und insbesondere die Bewohner von Hiroshima und Nagasaki, sind sich der Gefahren von nuklearen Waffen sehr bewusst, sie sind die verheerendsten Waffen der Massenvernichtung. Überlebende der Atombombe, die den Terror der Bombe kennen und Angst vor den Langzeitschäden von Strahlung haben, sind deshalb die Vorreiter der Kampagne gegen Atomwaffen. Trotzdem standen bisher viele Überlebende und Aktivisten gegen Atomwaffen dem Thema Atomenergie gleichgültig gegenüber. Kampagnen gegen Atomenergie sind seit langem eine Randerscheinung.

Bombe oder Energie? Atomgegner im Zwiespalt

Es gab zum Beispiel eine kleine Gruppe von Gegnern der Atomenergie in Hiroshima, die sich aktiv gegen den Plan des Baus eines Atomkraftwerks in der Nähe von Kaminoseki stellten, einem wunderschönen Fischerdorf in Japans Westen, etwa 80 Kilometer von Hiroshima entfernt. Allerdings wurden sie dabei so gut wie gar nicht von Organisationen der Überlebenden der Atombombe unterstützt. Und weder die ehemaligen noch die derzeitigen Bürgermeister von Hiroshima, die weithin bekannt dafür sind, starke Fürsprecher eines Verbots nuklearer Waffen zu sein, unterstützten jemals die Bewegung der Atomkraftgegner.

Tatsächlich haben sie niemals Sorge über die Gefahren durch Unfälle im Bereich der Atomenergie ausgedrückt. Trotz des heftigen Protests begann der Energiekonzern CEPCO in diesem Jahr mit dem Bau des Atomkraftwerks. (Allerdings hat CEPCO temporär die Bauarbeiten am Tag des Erdbebens gestoppt. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, mit welchen argen Problemen die Atomindustrie und die Regierung zu kämpfen haben wird, wenn sie die Arbeiten an nuklearen Anlagen nach dem jetzigen Desaster wieder aufnehmen will.)

Foto: Fukushima heißt abschalten von Florian (cc by-nc-sa)

Es gibt viele Gründe für diesen seltsamen Zwiespalt im Lager der Atomgegner in Japan. Ein Grund dafür ist, dass nukleare Wissenschaft im Nachkriegsjapan sehr stark beworben wurde, insbesondere im Zuge der neuen US-amerikanischen Strategie der „friedlichen Nutzung nuklearer Energie“, die 1953 durch Präsident Eisenhower ins Leben gerufen wurde. Das lag zum Großteil an Japans Einsicht, während des Krieges wissenschaftliche Forschung vernachlässigt zu haben. Vor allem die damaligen Politiker und Forscher meinten, im Zweiten Weltkrieg von US-amerikanischer Technologie, am Beispiel der Nuklearphysik, besiegt worden zu sein.

Image-Kampagne für Atomenergie

Diese Einstellung, zusammen mit der tiefsitzenden Angst vor dem Fehlen natürlicher Energierohstoffe in einer Nation, die zu 100 Prozent auf den Import von Öl angewiesen ist und die der weltgrößte Importeur von Kohle ist, beflügelte die Nuklearindustrie. Besonders in den späten 1960ern benutzte die Regierung Japans Wahlgeschenke, um sich die Unterstützung von Gemeinden für den Bau von Atomkraftwerken in abgelegenen Gebieten zu sichern.

In Gebieten, wo lokale Gremien dem Bau eines Atomkraftwerks zustimmten, stellte die Regierung viel Geld zur Verfügung für den Bau von öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken, Krankenhäusern, Freizeitzentren, Sport- und Schwimmhallen. Energiekonzerne zahlten hohe Summen an Landbesitzer und Fischer, um sie zum Aufgeben ihres Besitzes und ihrer Fischereirechte zu bewegen. Politische Korruption wurde bald fester Bestandteil der Entwicklung dieser Industrie. Zur gleichen Zeit beförderten Regierung und Energiekonzerne den Mythos, dass Atomenergie sauber und sicher sei und marginalisierten damit die Bewegung der Atomgegner.

Obwohl die Bewegung der Atomkraftgegner für eine kurze Zeit nach dem Unfall in Tschernobyl 1986 einen landesweiten Aufschwung erlebte, ebbte dieser nach Kampagnen der Regierung und Energiekonzerne schnell wieder ab. Und obwohl es seitdem viele Unfälle gab, wurde die Schwere dieser Unfälle effektiv verschleiert. Eine Folge davon: Heute gibt es 17 Atomkraftwerke im Umfeld des Erdbebengebiets im japanischen Archipel, die mit insgesamt 54 Nuklearreaktoren 30 Prozent der japanischen Elektrizität erzeugen.

Zum zweiten Mal Opfer „nuklearer Massenvernichtung“

Atomkraftgegner warnen seit Jahren vor den Gefahren eines verheerenden nuklearen Unfalls. Dies wurde aber stets mit Versicherungen über die Sicherheit der Reaktoren abgetan. Der Unfall in Fukushima hat alle bisher geäußerten Befürchtungen und Voraussagen wahr werden lassen. Auf die gleiche Weise wie die Atombombe wahllos zehntausende von Zivilisten tötete, ist wahrscheinlich, dass der derzeitige atomare Unfall ebenso wahllos für das Leiden und den Tod zahlloser Menschen verantwortlich sein wird.

Das genaue Ausmaß ist zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar, vermutlich werden die Konsequenzen der Strahlungsverseuchung aber über die nächsten Jahrzehnte noch zu spüren sein. Aus diesem Grund kann der Unfall im Atomkraftwerk ein „wahlloser Akt der Massenvernichtung“ genannt werden. Und in diesem Sinne sieht es so aus, als würde die Bevölkerung Japans innerhalb von 65 Jahren zweimal Opfer „nuklearer Massenvernichtung“ werden.

Nationale Industrie, internationale Verflechtungen

Australien und Kanada sind Japans größte Zulieferer für Uran. 33 Prozent von Japans importiertem Uran kommt aus Australien, 27 Prozent aus Kanada. Australien muss sich entscheiden, ob es weiterhin Uran exportieren will, wenn gleichzeitig einige australische Politiker daran festhalten, dass die Einführung von Atomenergie im eigenen Land ein zu hohes Risiko darstellt. Es ist heuchlerisch, die Gefahren vor der eigenen Haustür zu vermeiden, während man vom Export des Auslösers für Desaster profitiert. Auf die gleiche Weise verfechten diese Politiker die Notwendigkeit Atomwaffen zu verbieten, weigern sich aber einen Bann über das Schürfen nach Uran auszusprechen.

Kurz: Japan ist nicht allein verantwortlich für das derzeitige nukleare Desaster. Von den Herstellern der Reaktoren bei General Electric bis zu den Lieferanten von Uran in Kanada, Australien und anderen, sind viele Nationen an der aktuellen Lage beteiligt. Wir sollten alle von diesem tragischen Unfall lernen, dass es keine Koexistenz von Mensch und Atomenergie geben kann, sei es nun in Form von Waffen oder Elektrizität. Das Risiko und die Kosten, in Geld umgerechnet und darüber hinaus im Sinne der Zerstörung von Menschenleben und Umwelt, sind zu unverhältnismäßig.

Die Katastrophe als Katalysator für einen Neuanfang

Das gegenwärtige Katastrophe könnte der Katalysator sein, der Japans existierende sozio-ökonomische Struktur und Lebensweise auf drastische Weise reformiert. Als ein positives Ergebnis könnte es der Weckruf und die Möglichkeit sein, die Nation auf einen neuen Kurs zu bringen, welcher die Entwicklung grüner Energie einleitet. Auf die gleiche Art, durch die Japans einmalige Friedenskonstitution aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs entstand, könnte diese Katastrophe genutzt werden, um eine bisher unmögliche, komplett neue, friedvolle und in Harmonie mit der Umwelt lebende Gesellschaft entstehen zu lassen. Solch ein optimistisches Ergebnis hängt von der Entschlossenheit und den Aktionen der Bevölkerung Japans ab, die dabei hoffentlich von ganzem Herzen vom Rest der Welt unterstützt werden.

Anm.d.Red.: Dieser Beitrag wurde von Anne-Christin Mook ins Deutsche übersetzt. Parallel hat die Berliner Gazette einen Text veröffentlicht, der die Rolle von Whistleblowern in der jüngsten Geschichte der Atomkraft in Japan skizziert.

21 Kommentare zu “Atomkraft in Japan: Die GegnerInnen, die Lobby und die Überlebenden von Hiroshima und Fukushima

  1. ist der Vergleich Fukushima / Hiroshima nicht ein bisschen geschmacklos??

  2. “Das AKW-Unglück setzt die Betreibergesellschaft Tepco auch finanziell unter Druck. Das Unternehmen ersuchte die großen Banken des Landes nach Informationen des Fernsehsenders NHK um Notkredite in Höhe von 1,5 Billionen Yen (13,1 Milliarden Euro). Diese Summe müsse möglichst bis Ende des Monats gezahlt werden, damit Tepco die Folgen des Unglücks im Atomkraftwerk Fukushima Eins bewältigen könne, berichtete der Sender unter Berufung auf unterrichtete Kreise. Möglicherweise könne der kurzfristig benötigte Betrag noch auf zwei Billionen Yen (17,4 Milliarden Euro) steigen.”

    http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,752615,00.html

  3. @Leander Kathman: der Vergleich Fukushima / Hiroshima kommt unter einem bestimmten Gesichtspunkt ins Spiel: der Unfall im Atomkraftwerk von Fukushima ist insofern ein „wahlloser Akt der Massenvernichtung“ als dass 1) Atom, wie alle wissen mussten, eben nicht zu kontrollieren ist und 2) die Betreiberfirma (und das ist spezifisch) so unglaublich fahrlässig gehandelt hat.

  4. Ich finde die Gegenüberstellung von Hiroshima/Nagasaki und Fukushima durchaus legitim und sogar notwendig, um zu erkennen, dass eine Energietechnik, die man auch als tödliche Waffe missbrauchen kann, keinesfall als Energieform unserer Zivilisation taug.

  5. Dennoch bleibt fragwürdig, ob eine kalkulierte Tötung auf dem Höhepunkt eines Weltkrieges in Waffenform mit ggf. fahrlässig geduldeten Sicherheitsrisiko und einem durch Naturkatastrophe verursachten Unfall einer zivilen Energiegewinnungstechnologie vergleichbar sind und welchem Zweck diese Verbindung dient.

  6. sehr wichtig finde ich den zuletzt angesprochenen Punkt
    zu welchem Ausmaß die Probelme der nationalen Atomindustrie Japans auch Probleme der Weltgemeinschaft, bzw. der Weltwirtschaft sind: “Von den Herstellern der Reaktoren bei General Electric bis zu den Lieferanten von Uran in Kanada, Australien und anderen, sind viele Nationen an der aktuellen Lage beteiligt.”

  7. (In Japan) there is an unwillingness to openly discuss bad news and to play down, disguise or even lie
    –Alex Kerr, author of “Lost Japan”

    ….das habe ich schon oft gehört….

    ….deshalb bin ich so froh…

    herr tanaka…. danke!

  8. Japan’s Information Crisis: Japan’s Prime Minister Naoto Kan sat down with executives from the Tokyo Electric Power Company this week and demanded to know: “What the hell is going on?” It was a question that spoke to a wary nation confused by conflicting reports of a nuclear crisis. The big question remains for Japan and the world – why is information from TEPCO so hard to get and can we even trust it? Political analyst and Tokyo resident Michael Cucek says TEPCO represents a textbook case of what not to do in crisis management.

    http://www.onthemedia.org/episodes/2011/03/18/segments/159083

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