Abschied von Sex, Drogen und Fäkalien? VICE-Magazin will seriösen Journalismus bieten

Sex, Drogen und Fäkalien – damit kriegt man die Leser immer. Sogar Hipster und Linke. VICE-Magazin hat gezeigt, wie es geht und sich damit von der Underground-Marke zum Mini-Medien-Imperium gemausert. Warum gibt’s in dieser Erfolgsgeschichte nun eine plötzliche Wendung? Die Zeitschrift will seriösen Journalismus bieten und die Kulturwissenschaftlerin sowie Berliner Gazette-Autorin Hannah Schraven untersucht, ob das gut gehen kann.

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Vor einigen Monaten bin ich für einige Zeit in das Universum des Vice-Magazins abgetaucht, um dort umgeben von Pornografie, Hedonismus, Drogen und Krieg, der derzeit offensichtlich einflussreichsten Informationsquelle Digital Native-Generation auf den Zahn zu fühlen. Ich muss zugeben, dass ich mich bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht wieder vollends von dem kontroversen Medium loseisen konnte – ein Like über meinen Facebook Account und schon ist der private Newsfeed tagtäglich gespickt mit den neusten Nachrichten des Magazins, die ich zwar nicht mit Herzblut verfolgt, aber dennoch des Öfteren überflogen habe. In den vergangenen Monaten hat sich ein Wandel bemerkbar gemacht.

Die Bilder von nackten Menschen sind seltener. Ebenso fallen die ersten drei Magazincover des Jahres ungewohnt unbescholten aus. Im März dann scheinen die Veränderungen in dem Launch einer vollkommend neuen Vice-News-Webseite zu gipfeln, über die das Magazin seinen Lesern fortan politisch sowie gesellschaftlich relevante Aktualitäten zu Gemüte führen möchte. Was ist passiert? Hat Vice genug von seinem hippen Rüpel-Image? Entflieht dem Magazin die Leserschaft? Oder handelt es sich möglicherweise nur um den nächsten, wohl durchdachten Schachzug von Vice-Gründer Shane Smith und seiner treuseligen Gefolgschaft, den Korpus des digitalen Mediums weiter expandieren zu lassen?

Die zweite der drei Fragen kann sogleich mit einem entschiedenen Nein beantwortet werden. Um seine Leserschaft muss sich das Magazin nicht im Geringsten sorgen – der Vice-Youtube-Channel, fortwährend pochendes Herzstück des Informationsübermittlers, hat unter den Youtube Original Channels die meisten Aufrufe. Darüber hinaus hat das große gesellschaftliche Interesse bewirkt, dass Vice die beiden Social Media-Hünen Twitter und Facebook als Medienpartner gewonnen hat. Vertraut man den Angaben des Mediakits 2014, so ist die Zielgruppe dabei weitgehend gleich geblieben: Noch immer sind es junge, internetaffine Menschen zwischen achtzehn und fünfunddreißig, die Vice mit seinen mannigfaltig durchmischten Beiträgen versorgt.

Ebenso wenig wie der Imagewandel von Vice folglich in einem Mangel an Lesern begründet sein kann, ebenso wenig hat das Medium seine Werbepartner mit seiner zweifelhaften Schlagfertigkeit vergrault. Die Marketingplattform Advice, über die Vice verschiedenste Onlinemagazine mit Anzeigen bespielt, verfügt allein in Deutschland inzwischen über mehr als 70 Partner, darunter Lifestlye- und Kunstblogs wie Ignant, Facehunter und Freunde von Freunden, die zu den momentan wohl gehyptesten Webpages der Digital Native-Sphäre zählen.

Die Vice-Macher sind auf ein neues Terrain vorgerückt

Ohne eine erhebliche, positive Reputation wäre es weiterhin kaum möglich gewesen, die internen Strukturen des Magazins derart auszuweiten: Waren Vice 2013 neben der Hauptwebseite noch fünf andere, hauptsächlich im kulturellen Bereich angesiedelte Plattformen zueigen, so haben sich diese nun verdoppelt und unter anderem sind das i-D Fashion Magazin sowie der Kampfsportsender Fightland unter die Fittiche des Mediums gewandert.

Es ist der Launch der neuen Vice-News-Webseite im März diesen Jahres, der den Dreh- und Angelpunkt des Umbruchs zu bilden scheint. Denn so sehr Vice es in den vergangenen Jahren auch gelungen sein mag, seine Tentakeln in sämtliche Sphären der Informationskultur zu strecken, so konnte es doch auch eine Vielzahl hartnäckiger Skeptiker nicht von sich überzeugen. Die Peripherie des seriösen, investigativen Journalismus war dem Magazin bis dato weitgehend vorbehalten und wer abseits seiner Sensationsgelüste seinen Durst nach Informationen stillen wollte, dem erschienen zumeist prestigereiche Print- und Onlinemedien als verlässlicher.

Nun jedoch sind die Vice-Macher auf ein neues Terrain vorgerückt, indem sie einen Nachrichten-Kanal präsentieren, dessen Content sich ausschließlich auf politisch sowie gesellschaftlich relevante Themen beschränkt und abseits des diffusen, kaum ernstnehmbaren Mischmasch popkultureller, pornografischer und ethnischer Inhalte ausschließlich die fünf Rubriken „Meinungen und Analysen“, „Krieg und Konflikt“, „Verteidigung und Sicherheit“, „Umwelt“ sowie „Kriminalität und Drogen“ abdeckt.

Eingebettet sind diese Themen zumeist in fünf- bis achtminütige Beiträge, deren effekthascherische Komponente sich nunmehr nicht auf den ersten Blick offenbart. Zwar sind es noch immer die selben jungen und meist gut aussehenden Reporter, die sich mit Kamera bewaffnet in die Krisengebiete der Welt aufmachen, jedoch werden ihre Reisen kaum mehr als Abenteuertrip, denn vielmehr als investigative Exkursion inszeniert und sowohl makabere Witze wie auch Drogen und Bier wurden von der Bildfläche verbannt. Wer nun den Überlauf des Magazins zum einst so verabscheuten Spießertum fürchtet (immerhin bewegt sich Shane Smith längst außerhalb der Altersgrenze seiner Leserschaft), täuscht sich. Drei Eigenschaften zeigen: Vice bleibt einmalig vorlaut.

YouTube lautet die Devise

Erstens mag Vice zwar seinen Content in andere Richtungen strömen lassen, jedoch ist dieser noch immer bis in die Tiefen von den Grundprinzipien des Mediums durchdrungen. Der im Gonzo-Journalismus verhafteten, subjektiven Erzählweise ihrer Berichte sind die Macher treu geblieben und noch immer gelingt es, sich als Leser bestens mit den gleich gesinnten und gleichaltrigen Reportern zu identifizieren. Nun wird dieses Prinzip mit politischen und gesellschaftlichen Aktualitäten ausstaffiert. Das Ergebnis sind Nachrichten, denen trotz ihres seriösen Inhaltes eine hochgradig unterhaltsame Komponente innewohnt. Logisch, dass derartige Beiträge nicht nur greifbarer sind, sondern sich auch spannender ansehen lassen.

Zweitens beruht der Vice-News-Channel, so wie nahezu alle Auswüchse des Magazins, wesentlich auf der Verbreitung von Video-Content. YouTube lautet die Devise – und was sich schon bei Popkultur und Pornografie als fruchtbar entpuppt hat, das lässt die Macher auch bei Politik und Ethik nicht im Stich. Jederzeit mit nur einem Klick sind die Nachrichten verfügbar, zumal sich der Digital Native ohnehin den halben Tag lang im Internetuniversum herumtreibt. Daran schließt auch die dritte Komponente des neuartigen Nimbus an: Nicht nur kann der News Channel in Windeseile abgerufen werden, auch lässt er sich durch sämtliche soziale Netzwerke jagen, weshalb sich seine Omnipräsenz im virtuellen Raum mit spielender Leichtigkeit ins Unermessliche steigern lässt.

Nicht nur Stirnrunzeln, sondern Protestgeschrei auslösen

Was daran innovativ sein soll? Die Antwort lautet: tatsächlich nicht viel. Im Grunde genommen hält das Magazin an seinen Faustregeln fest – was jedoch zählt, ist, dass Vice aus seiner langjährigen Erfahrung als subkulturelles Magazin gelernt hat, wie sich junge Leser locken lassen. In einem Interview, das der Sender CBS kurz nach dem Launch der neuen Webseite mit Shane Smith führte, widerlegt dieser die Behauptung, die hiesige Generation würde sich nicht für politische Themen interessieren. Auf die Aufmachung käme es an, behauptet Shane Smith. Und damit behält er Recht. Die fesselnden Kräfte der Beiträge des News Channels rühren nicht mehr wie zuvor von dem Content her, denn die aktuellen Ereignisse sind ohnehin schon in aller Munde. Es ist die Tatsache, dass die Reporter selbst Einblick in ihren persönlichen Erfahrungshorizont in den Krisengebieten gewähren. Und wer könnte besser als Unterhalter und politisches Sprachrohr einer Generation zugleich dienen, als deren eigene Mitglieder?

Genau an dieser Stelle liegt jedoch meiner Meinung nach die zutiefst problematische Komponente des Vice-News-Channels begraben. Denn ein Magazin, das sich rühmt, fortan seriösen, investigativen Journalismus zu betreiben, die Mehrheit seiner Reporter aber aus unerfahrenen sowie unausgebildeten Laien gewinnt, sollte nicht nur Stirnrunzeln, sondern Protestgeschrei auslösen. Auf eigene Faust begeben sich die Amateurjournalisten in oftmals lebensbedrohliche Krisengebiete und beim Durchstöbern der Beiträge stößt man auf so manche Gestalt, die sich im Klamottenladen besser machen würde als von Rauchschwaden umgeben auf Kiews siedenden Straßen. Als am 21. April 2014 der Vice-Reporter Simon Ostrovski während der Produktion der Vice-News-Serie „Russian Roulette“ von prorussischen Milizen entführt und für drei Tage festgehalten wird, hätte dies der längst überfällige Weckruf sein können, um Medium wie Leserschaft aus dem deliriösen Zustand des Faszinierens und Faszinierenlassens zu befreien. Ostrovski selbst war in der Vergangenheit unter anderem schon für die BBC in Nordkorea unterwegs und besitzt demzufolge einen weitaus reicher bestückten Erfahrungshorizont als der Großteil der übrigen Berichterstatter.

Vice befindet sich auf dem Siegeszug

Wenn demnach kein noch so versierter Journalist gegen Übergriffe gefeit ist, wie hoch muss dann erst das Risiko für einen unbedachten Laien sein? Es scheint, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste mediale Schlagzeile aus dem Schlund des Vice-Molochs selbst stammt und es ist verwunderlich, dass die Reaktionen auf diese offensichtlichen Tatsachen so seltsam kleinlaut ausfallen. Während ich bei meinem letzten Artikel noch der festen Überzeugung gewesen bin, die journalistische Revolution durch ein gewissenloses Medium wie Vice werde ausbleiben, bin ich mir dessen nun nämlich nicht mehr sicher. Die Reputation des News Channels macht es schlussendlich unmöglich den kleinen, aber durchaus wirkungsvollen Geniestreich von Shane Smith und seinem Clan zu leugnen. Das Konzept von Vice zieht. Und dieser Sog kommt auch deshalb zustande, weil es momentan eine Einzigartigkeit innerhalb der journalistischen Gefilde darstellt.

Trotz der nicht zu verachtenden Onlinepräsenz, mit der nahezu jedes Medium inzwischen aufwartet, verblassen deren Inhalte im Angesicht der immensen Flut an filmischen Reportagen, von der sich die Vice-Leserschaft derzeit mitgerissen sieht. Darüber hinaus scheint allzu viel Subjektivität noch immer als schandhaftes Manko einer Vielzahl investigativer, politischer Reportagen zu gelten. Vice hat diese Faustregel ohne langes Zögern gebrochen und befindet sich auf dem Siegeszug. So positiv die Abgrenzung anderer Nachrichtensender von Shane Smiths kontroversen Prinzipien auf der einen Seite auch sein mag, so offensichtlich vollzieht sich dadurch anderseits auch ihre Abgrenzung von der aktuellen Generation, deren Bedürfnisse sich in dem Medium widerspiegeln zu scheinen. Und in diesen Händen liegt letzten Endes die Zukunft des Journalismus. Möglicherweise ist deshalb die Zeit, dass sich die übrigen Informationsträger endlich zum Handeln durchdringen und die Notwendigkeit einer Reaktion auf den sichtbar gewordenen Wandel anerkennen. Vice ist längst kein unbedeutendes Spartenmedium mehr und ebenso wichtig wie die Informationsübertragung ist auch die gegenseitige Kontrolle der Sender untereinander.

Lernen von Vice?

Die Frage ist nun: Wie könnte ein angemessenes Handeln aussehen? Um den Vice-Einfluss zukünftig einzudämmen, bedarf es Alternativen, die der beinahe totalen Konkurrenzlosigkeit des Senders den Garaus machen und gleichzeitig die Interessen der aktuellen Generation auf eine ähnlich durchdachte Art und Weise repräsentieren. Selbstverständlich wäre es fatal, würden sich etablierte Nachrichtenagenturen das Vice-Konzept zu diesem Zwecke vollends überstülpen. Sich jedoch eines Teiles von ihm zu bemächtigen und auf diese Weise die weltweite Informationsverbreitung einer heranwachsenden Gesellschaft anzupassen, die sich maßgeblich durch ihre Verwurzelung im Digitalen definiert sowie subjektiv angehauchte Erzählweisen neutralen, lediglich informativen Beiträgen vorzieht, scheint als Lösung durchaus angemessen. Denn eines haben die übrigen Medien Vice voraus: Sie verfügen über professionelle und erfahrene Journalisten. Und genau diesen bedarf es, um eine gleichermaßen interessante wie auch seriöse Reportage zu produzieren. Ganz gleich, ob diese nun einen objektiven oder eine subjektiven Blickwinkel widerspiegelt.

Aufhalten lassen wird sich der Umbruch innerhalb des Journalismus letzten Endes nicht. Die Frage ist jedoch, in welche Richtungen diese Veränderung ihre Triebe entfalten wird. Und momentan sieht es so aus, als bedürfen diese dringend einer Umlenkung oder gar Stutzung. Einen ersten Schritt der Anpassung hat nun kürzlich die Bild Zeitung getätigt: Anfang Mai holte sie sich den ehemaligen Vice-Reporter Robert King ins Boot, der sich künftig der Pflege der Videoinhalte der Zeitung widmen wird. Es mag unbefriedigend sein, dass ausgerechnet ein ähnlich rigoroses Medium wie Vice selbst eine erste zaghafte Reaktion verlauten lässt. Sollte sich der eingeleitete Personalwechsel jedoch als fruchtbar entpuppen, würde dies den Beweis erbringen, dass sich aus Vice nicht nur lesen, sondern doch auch etwas lernen lässt.

Anm.d.Red.: Das Foto stammt von Mario Sixtus und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

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