Ich bin am Meer geboren. Und dieses sowohl in Beziehung zu meinem Land, Italien, das tausende von Kilometern vom Meer umkreist wird, als auch in Beziehung zu meinem genauen Geburtsort – Sorrento, eine in der Bucht von Neapel ausgestreckte und gaenzlich dem Meer zugewandte Kleinstadt. Als ich geboren wurde, lebten in dieser Gegend mindestens achtzig Prozent der Erwachsenen auf verschiedene Weise vom Meer. Entweder als Fischer oder als Touristenfuehrer auf dem Meer zwischen Capri, Ischia und Procida oder schliesslich als Seefahrer auf den Schiffen, die von Neapel in die ganze Welt fuhren.
Ich weiss, dass wasserabweisende Kleidung in einigen Laendern benutzt wird, aber das ist in Neapel weitaus weniger der Fall. Hier nutzen nur wenige den Regenmantel, eben wegen der engen und wesentlichen Beziehung zum Wasser, ueber die ich gesprochen habe. Und dass, obwohl Neapel, entgegen der allgemeinen Annahme, eine eher regnerische Stadt ist. Tatsaechlich symbolisiert der Regenmantel und andere wasserabweisende Kleidung die Verschlossenheit der Identitaet und auch die Verteidigung gegenueber der Durchlaessigkeit der Existenz. Wenn wir dem Meer und ganz allgemein dem Wasser die Bedeutung des gemeinschaftlichen Elements zukommen lassen wollen, in das wir eingetaucht sind, ist es offensichtlich, dass der Regenmantel den Sinn der Immunresistenz unseres Seins in einer gemeinsamen Welt erhaelt.
Das fliessende und fluessige Element Wasser bringt den instabilen und gefaehrlichen zyklischen Charakter der menschlichen Erfahrung zum Ausdruck. Das Meer selbst ist von den grossen Schriftstellern – von Hoelderlin ueber Nietzsche bis zu Bataille – als das rahmenlose Bild, als offener Horizont der Existenz, in den wir, trotz der Gefahr die diese Dimension mit sich bringt, schon immer eingetaucht sind, angesehen worden. In diesem Sinne verweist die Immunitaet sicherlich auf einen Widerstand gegen diese Dimension. Dieser Widerstand drueckt die Verwurzelung der Identitaet in der Erde aus, so zusagen die Grenze, die Mauer, den Schutzwall, den man dem Zyklus der Sinne entgegensetzt. Man darf nicht vergessen, dass die Grenze seit der Antike die Aufgabe hatte, vor den Invasionen zu schuetzen, die haeufig vom Meer kamen. Sie ist das, was die Erde und das eigene Land vor der Alteration oder der Kontamination von etwas Anderem oder sogar Fremden rettet, was die individuelle und territoriale Identitaet zu erdruecken und entstellen droht.
Das Wasser ist an sich ein doppelwertiges Element. Es verweist, wie schon gesagt wurde, auf die offene und ausgesetzte Dimension der Existenz. Auf den Kreislauf der Menschen, die Leidenschaft, die Sehnsucht. Aber gerade deswegen besitzt es auch einen Teil an Risiko – die Moeglichkeit unterzugehen oder wenigstens entlang eines unkontrollierbaren Drifts zu gleiten. Vergessen Sie nicht die Beziehung der Fluessigkeit zum Blut und zur geballten Ladung der Gewalt, die das Blut transportiert, die ich in meinem Werk ueber Gemeinschaft und Gewalt herauszuheben versuche.
Ich bin durch die Philosophen Martin Heidegger und Georg Friedrich Wilhelm Hegel auf den Dichter Friedrich Hoelderlin gestossen. In gewisser Hinsicht zeigt Hoelderlin den Punkt der Distanz zwischen Hegel und Heidegger auf, waehrend er auf der anderen Seite ihre gemeinsamen Eigenschaften darstellt. Wie ich jedoch versucht habe in meinem Buch >Communitas< aufzeige, beruehrt Hoelderlin eine Wahrnehmung des Meeres und des Ozeans, die weniger diesen beiden Philosophen, als vielmehr bei Friedrich Nietzsche gewagter und besitzergreifender Perzeption zu finden ist: Das Meer ist nicht mehr das, was die Laender trennt und identifiziert, sondern das, was sie vereint in einer Gemeinschaft ohne Grenzen. Wenn ich Kindern mit einem Bild vermitteln wollte, dass man im Namen der Gemeinschaft Licht in das Dunkel des von der Finanzkrise verdunkelten Meeres bringen sollte, wuerde ich ein Motiv suchen, welches an das Fruchtwasser der Geburt erinnert - um den urspruenglichen nassen und aquatischen Charakter des Lebens ins Gedaechtnis zu rufen. Die Schwangerschaft als Ort der allgemeinen Umkehrung des Immunsystems ist ein zentrales Motiv in meinen Augen, auf das ich uebrigens schon im zweiten und dritten Teil meiner Trilogie >Communitas<, >Immunitas< und >Bios< verwiesen habe.
Ein Kommentar zu “Leben ohne Regenmantel”