Auf den ersten Blick scheinen soziale Netzwerke einfach eine weitere Plattform für den Plausch unter Freunden und dergleichen mehr zu bieten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sie ästhetische und politische Praxis mit strategischen Fragen konfrontieren. Sie reichen von Kampagnenentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu Organisationsfragen. Die moralinsaure Kulturkritik sieht in Web 2.0 nur einen Hype, den es zu entlarven gälte. Argwöhnisch beäugt sie die Masse, die den neuesten Gadgets und Killer-Apps hinterher rennt. Das Gehirn werde verändert und Karrieren ruiniert, wenn der Chef bei Facebook mitlese – so die Monotasking-Fraktion. Solche Fünfminutenkritik sollte eine genauere Betrachtung hinter sich lassen.
Soziale Netzwerke dringen unterdessen in alle Lebensaspekte ein. Auch aus traditioneller Underground-Perspektive werden sie beargwöhnt: Der Partisan, so das heroische Selbstbild, kommuniziert von Angesicht zu Angesicht – Brust an Brust, wie es bei Hakim Bey heißt. Die Realität sieht natürlich anders aus: jeder, der mal eine Woche Google-Abstinenz probiert hat, kann ein Lied davon singen.
Kontroll- und Überwachungsprozeduren durchziehen heute Mehrheitsgesellschaft und Underground gleichermaßen. Der Underground-Traum von einem Status der Unsichtbarkeit stößt hier an seine Grenze. Moderate Subkulturen reagieren darauf auf ihre Weise: munter werden Websites aufgesetzt, Gruppen und Channels erstellt. Wohl in der Hoffnung, nun in Ruhe gelassen zu werden. Am Ende des Long Tail kann es wirklich ruhig sein, doch Hipnesspunkte gibt es dort kaum noch zu gewinnen. Es gibt keine Avantgarde, die außerhalb des Reichs des Marketing steht. Die Laws of Cool haben wir verstanden – jetzt würden wir nur gern die ganze Logik dahinter loswerden. Kannst du die iProdukte ignorieren?
Informationsflüsse
Soziale Netzwerke versprechen unmittelbare Kommunikation, Direktverbindungen von Mensch zu Mensch – doch genau dieser utopische Überschuss ist es, der uns immer tiefer in die technologischen Arrangements der Medienindustrie treibt. Verweigerung aber ist keine Antwort, was also tun? Für die Frage, wie eine Gesellschaft ihren Informationsfluss organisiert, werden soziale Netzwerke immer wichtiger. Millionen nutzen sie bereits als Hauptinformationsquelle. Dadurch ändert sich auch, wie aus einzelnen Nachrichten “Issues” werden, an denen sich politisches Handeln ausrichtet.
Wie entsteht dann Dringlichkeit? Wenn die Krise des Journalismus sich immer weiter verschärft – werden wir unser tägliches Weltbild an eine Wolke aus Blogs, Tweets und Mails delegieren? Vorerst wohl kaum – in dieser Hinsicht hat Jürgen Habermas durchaus recht. Soziale Netzwerke bleiben bis auf weiteres zusätzliche, sekundäre Quellen, die Nachrichten mit interpersonalem Kontext anreichern. Aufmerksamkeitsökonomisch betrachtet, fragmentieren sie die zentralisierte Öffentlichkeit der klassischen Medien. Erweitert man die Perspektive, stellen sich jedoch andere Fragen. Wichtiger als das aktuelle mediale Framing des Themas sind die tatsächlichen Nutzungen. Was wir gegenwärtig erleben, ist die Folge eines gesellschaftlichen Strukturwandels, einer Neukonfiguration: hin zu informellen Sphären und hin zu einer Medienökologie, in der wir ständig checken, was passiert.
Underground und Aktivismus
Die klassischen Medien erodieren – und infolge dessen wissen wir kaum noch zu sagen, was wirklich underground wäre. Normalitätsfassaden sind seit dem Ende von Pop kaum mehr reizvoll – und die Normalität selbst verwaist. Die Ruinen des Industriezeitalters wurden rekolonisiert und geben hochpreisige Immobilien ab. Leerstehender Büroraum dagegen – Symbol der postindustriellen Ära – harrt noch immer seiner Besetzung; angesichts von Überwachungstechnologie und harscher Gesetze vielleicht für immer. Verwaister städtischer Raum wird rar. Übrig bleibt die Wüste. Der Mangel an öffentlichem Raum treibt uns weiter ins Netz – schon das wirft die Frage nach Web 2.0 auf.
Aktivisten sollten dabei einige Punkte beachten: Angesichts ausgreifender Überwachung können Protestbewegungen kaum mehr auf elektronische Kommunikation vertrauen, auch wenn es verführerisch ist, sich etwa auf der Straße per Handy zu koordinieren. Die Kunst liegt vielmehr darin, im richtigen Moment vom Netz zu gehen. Politischer Aktivismus muss sich womöglich wieder hyperlokal und offline organisieren, um seine Ziele zu erreichen – selbst, wenn es sich um größere NGO-Strukturen handelt.
Auch die Ökowerber haben Offline schon entdeckt. Nach Slow Food bekommen wir jetzt Slow Communication und demnächst womöglich WLAN-freie Lounges als besonderen Service unserer Freizeitindustrie. Das sollten wir nicht mitmachen: Offline gehen ist kein Glaube und Kommunikation keine Religion. Als Strategie kann es erfolgreich sein, wenn es kollektiv praktiziert und vom individuellen Lifestyledesign abgelöst wird. Mary Joyce von DigiActive rät Aktivisten dazu, für Onlineproteste separate und anonyme Profile anzulegen. Für heikle Aktionen empfiehlt sie, zusätzliche Einweg-Accounts einzurichten und über öffentliche Rechner aufzurufen, damit IPs nicht mit Aktivisten-Accounts verbunden werden können.
Massen und Kristalle
Evgeny Morozov bemerkte kürzlich in einer Diskussion mit Clay Shirky, dass es im Twitter-Zeitalter womöglich keinen charismatischen Führer, keinen Sacharow oder Solschenyzin mehr geben könne. Neue Medien dekonstruieren, zerlegen, fragmentieren und dekomponieren. Seinerzeit bildeten sich Massen auf der Straße und der charismatische Führer als ihre Projektionsfläche. Heute wartet man vergeblich auf sie. Was Morozov hier andeutet, geht genau anders herum: Es wird keine Massen geben, solange die Produktion von Führern von vornherein sabotiert wird. Statt Gegenmacht aufzubauen, hätte die Macht sich aufgelöst, das Foucauldianische Zeitalter erreicht.
Ein Schlüsselmoment für soziale Bewegungen ist der Erstkontakt zwischen vormals scheinbar selbstständigen Einheiten, wenn schwache Verbindungen sich in revolutionäre verwandeln. Man könnte es die Erotik der Berührung nennen. Kaum vorstellbar, dass dieses Moment in der digitalen Gleichung fehlt. Neue Verbindungen herzustellen und mit neuen Organisationsweisen zu experimentieren, ist für politische und künstlerische Prozesse zentral. Was die Lektüre von akademischen Revolutionären wie Žižek und Badiou unbefriedigend macht, ist ihre retro-leninistische Rhetorik, die eine Neugier für zeitgenössische Organisationsformen vermissen lässt.
Web 2.0 wirft die Frage auf, wie sich Dissens im Digitalzeitalter artikulieren lässt. Wie entstehen heute soziale Bewegungen? Wenn es keinen Ort zum Verstecken gibt, sollten wir das Modell der offenen Verschwörung aufgreifen? Entstehen Bewegungen aus den “Massenkristallen”, von denen Elias Canetti in “Masse und Macht” schrieb – aus kleinen, rigiden Gruppen, die dazu dienen, Massen auszulösen? Sind wir deshalb so an “viraler Kommunikation” interessiert? Aber wessen Content verbreitet sich viral? Werden organisierte Netzwerke die Kristalle des 21. Jahrhunderts sein?
2 Kommentare zu “Kristalle im Netz-Underground, oder: Wie lässt sich Widerstand im Digitalzeitalter organisieren?”