Wie einige Minuten einer Busfahrt im Koenigreich Thailand zum herausragenden Moment des Jahres 2008 werden konnten: Am 8. September diesen Jahres, einem Montag, sassen meine Frau und ich, in einem so genannten V.I.P.-Bus von Chumphon nach Bangkok.
Militaerisch war die Verteilung der Touristen vonstatten gegangen – farblich abgestufte Aufkleber je nach >disembarkment<, bis hin zum roten Dreieck, das alle trugen, die Bangkok-bound waren. Urber uns liefen grotesk blutruenstige und todessuechtige US-Gewaltorgien auf kaum einer Handvoll kleiner Roehrenbildschirmchen; ueber drei Dutzend Reisende fuhren mit uns, vierkoepfige Familien, StudentInnen, auch die allfaelligen Thai-Westerner-couples.
Meine Frau las auf Englisch Don DeLillos >Underworld< [1997], die ich ihr schon gegen Ende unserer Rundreise im Norden des Landes ans Herz gelegt hatte; ich selbst dagegen las Siri Hustvedts >The Enchantment of Lily Dahl< [1996] auf Deutsch, erworben auf unserer letzten Insel Ko Tao. Anfangs war ich mir noch sehr unsicher, ob ich >Die Verzauberung der Lily Dahl< nicht schon einmal gelesen hatte – hatte ich doch direkt davor auf dieser Reise noch >Travels in the Scriptorium< [2007] von Hustvedts Gatten Paul Auster geniessen duerfen. Noch unsicherer war ich mir aber, ob ich Hustvedts Roman wirklich gelungen oder nur eher brav finden wollte?
Ihre erzaehlerischen Plastiken der Wahrnehmung beruehrten mich wohl immer wieder und fuehrten mich zum hoechst genussvollen Be- und Ueberdenken, zum Widerrufen und auch Neuerfinden, zum Andersausrichten meiner taeglich eigenen Handlungen, Haltungen, Selbstbilder: vorausgreifend meinem Leben in der Stadt. Was war mehr zu erhoffen, von einem Buch? Das schale Gefuehl blieb, dass Hustvedts Spache in Uli Aumuellers Eindeutschung mir leider nicht die eindringliche und lang nachhallende Sammlung und Bedachtheit meines Bewusstseins wuerde schenken koennen, die in den letzten Wochen dieser Reise sowohl DeLillos >Falling Man< [2005] als auch die erwaehnte Erzaehlung Austers von mir gefordert oder mir bereitet hatten. Mein sehnsuechtig gesuchtes >Gebet des Lesens<.
Vielleicht hatte ich >Lily Dahl< wirklich schon einmal gelesen, vermutlich vor zehn bis fuenfzehn Jahren, vermutlich auf Empfehlung und ausgeliehen von der rothaarigen Freundin eines damals guten Freundes? Verwechselte ich etwa Ton und Figurenzeichnung mit den wenigen Baenden John Irvings, die ich damals auch gelesen hatte? Oder erinnerte mich Hustvedts zweiter Roman in Atmosphaere, erzaehlerischer Entfaltung, in Charakteren und Konflikten zu sehr an ihren nachfolgend dritten >What I Loved< [2003], den Welterfolg, den ich Anfang 2004 voller Genuss gelesen hatte?
In diesen Gedanken reiste ich mit meiner Gattin an den Landschaften und Tempeln vorbei, an Garkuechen und rabiaten Neubauskeletten, in Benzin- und Jaucheschwaden; ich ergriff in diesem Moment die letzten drei Wochen und war gluecklich ueber unsere schiere Bewegung durch das Raumzeitgefuege, durch diese Natur- und Architekturskulpturen, durch diese Taenze taeglichen Lebens. Trotz aller Unwaegbarkeiten meines und unseres eigenen Lebens und Denkens, des Schreibens und des Veroeffentlichens, unser beider Berufswege und unseres Familienlebens in den naechsten, kommenden Jahren. Eben diese Volatilitaet, diese Plastizitaet des Lebens erleichterte und beschwingte mich. Glueck. Auf etwa der hundertsten Seite las ich dann eben dieses Wort. Glueck.
Meine Top of the Pops 2008:
Album:
Santogold, Santogold
Vampire Weekend, Vampire Weekend
We Are Scientists, Brain Thrust Mastery
Oxford Collapse, Bits
The Killers, Day & Age
Yo Majesty, Futuristically Speaking…Never Be Afraid
Ausstellung:
Tobias Rehberger, Museum Ludwig Koeln
Susanne Kriemann, Berlin Biennale
Oystein Aasan, PSM Berlin
Bernhard Leitner, Hamburger Bahnhof Berlin
Notation, Akademie der Kuenste Berlin
Film/Serie:
Persepolis, Vincent Paronnaud
Part Of The Weekend Never Dies, Saam Farahmand/Radio Soulwax
Scoop, Woody Allen
Bender’s Big Score, Dwayne Carey-Hill
In Her Shoes, Curtis Hanson
Konzert:
Tocotronic, Waschhaus Potsdam
Sam Auinger & Bruce Odland, St. Elisabeth-Kirche Berlin
Kettcar, Radio Eins Secret Gig Gransee
Podium/Lecture:
Timeline, Twitter Inc. San Francisco
Jonathan Meese, Berliner Lektionen
Barack Obama Grant Park Chicago
Michael Bull, Deutsches Architektur Zentrum Berlin
Barry Blesser, Sound Studies Berlin
Prosa/Lyrik:
Neid, Elfriede Jelinek
Klage, Rainald Goetz
La Comedie Humaine, Honore de Balzac
Die Morawische Nacht, Peter Handke
Falling Man, Don Delillo
Theater/TV/Show:
Jeff Koons, Rainald Goetz/Angela Richter/Steffi Bruhn/Dirk von Lowtzow/Jonathan Meese
The Omid Djalili Show, Michael Cumming
Willkommen Oesterreich, Dirk Stermann & Christoph Grissemann
Lotus Bar, Ko Tao Thailand
Deutschland – Tuerkei, EURO 2008, Elf Freunde Arena Berlin Public Viewing
Theorie:
Philosophisches Buch, Ulrich Pothast
Uebertragung. Gegenuebertragung. Dritter Koerper, Klaus Theweleit
Plastikwoerter, Uwe Poerksen
Was ist ein Dispositiv und Die kommende Gemeinschaft, Giorgio Agamben
Der unerschoepfliche Gegenstand, Hermann Schmitz
zu agamben: das sollte man als kettenbrief lesen, den agamben antwortet auf blanchot, der wiederum nancy antwortet, später wiederum antworten einige agamben: nancy-blanchot-agamben-derrida-ferrari-esposito
ich habe dazu einen text geschrieben ; )
zu santogold (da kann ich leider nicht so differenzieren): für mich hört sich das album wie ein best of der sounds an, die gegenwärtig in der luft sind, ohne wirklich dem a) eine besondere perspektive oder b) eine eigene note, transformation zu verleihen. es hat mich einfach nicht inspiriert… wie vieles in diesem jahr aus prominentem hause wie N.E.R.D. oder Madonna. Ganz nett, aber die Leute scheinen sich nicht genug Zeit genommen zu haben, um Musik zu machen. Zuviel zu tun mit PR Gigs, Werbeaufträgen uae.
Ein absolutes Ja zu Santogold! Aber wo sind Gang Gang Dance, Hercules and Love Affair, Late of the Pier und Crystal Castles?