Heteronormativität herausfordern: Was bedeutet es, ein queerer Hetero zu sein?

Heteronormativität ist eine Weltanschauung, die Heterosexualität als soziale Norm setzt. Die Queer-Bewegung setzt dieser vermeintlichen Norm alle erdenklichen Abweichungen entgegen. Können Männer, die nicht schwul, Frauen, die nicht lesbisch sind, auch Teil dieser widerständischen Bewegung sein? Queere Heteros also? Der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Kilian Jörg unternimmt eine Bestandsaufnahme.

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Larissa Kunert hat in ihrer sehr einfühlsamen und pointierten Kritik unserer (Jorinde Schulz und ich) Clubmaschine (Textem 2018) die darin befindliche begriffliche Neuschöpfung der „queeren Heteros“ als „irritierend“ bezeichnet. Ehrlich gesagt, ist dieser Begriff eher intuitiv als überlegt entstanden und so begann ich erst in den Tagen danach zu reflektieren und geistig auszuformulieren, was mir (und uns) vielleicht am Begriff „queere Heteros“ gelegen ist.

So sensibilisiert, ist mir in Tischgesprächen und anderen Diskussionen eine seltsame Spannung zwischen den Kategorien hetero und queer aufgefallen. Wo manchmal instinktiv unüberbrückbare Differenzen angenommen werden, möchte ich diese energetisch in Bewegung und Dialog setzen – Irritation als Treibkraft des Denkens nützen! Diese Antwort ist inspiriert von einer sehr gelungenen Kritik und möchte einen fragenden Dialog starten.

Ich neige dazu, mich selbst als queeren Hetero zu bezeichnen: ich trage gerne Nagellack und Schminke und finde nichts abturnender als Heteronormativität. Meine prägenden Jahre und sozialen Kontakte kommen vielfach aus Schwulenszenen. Auch viele der Paare, die ich am inspirierendsten finde, sind queer. Zwar verstehe (und lebe) ich mich als bisexuell, finde aber mehr und mehr über mich heraus, dass ich tendenziell eher heterosexuell gepolt bin: also, dass ich mich öfters vom anderen Geschlecht angezogen fühle, als von meinem eigenen (ich bleibe mal in dieser Binarität).

Was es bedeutet ein queerer Hetero zu sein

In den progressiven Blasen, in denen ich mich bewege und die mich nähren, kommt es mir fast verstohlen vor, mich als Hetero zu erkennen. Wie vereine ich die Einsicht, als weißer, privilegierter Mann eher auf Frauen zu stehen, mit dem tiefen Wunsch die heteronormativen, binären Pfeiler, auf denen sich unsere marode, zerstörerische Kultur errichtet hat, weiter abzutragen? Bin ich unwillens zum Feind übergelaufen? Mir scheint es fast peinlich, aber doch: ich bin heterosexuell (großteils).

Ein queerer Hetero zu sein bedeutet für mich also folgendes: zu affirmieren, dass das ganze Universum (wie es Karen Barad anhand der Bohr‘schen Quantenphysik zeigt) queer ist und jeder Mensch zumindest bi (wie es Butler klar unter Rekursion auf Freud‘sche Psychoanalyse demonstriert). Die sexuelle Orientierung, in die man dann im Laufe der Jahre findet (und die sich freilich immer weiter entfalten und verändern kann), ist also immer kontingent, also ein bisschen zufällig gewachsen: egal ob ich mich als homo-, trans-, inter- oder eben heterosexuell finde, ist das immer queer und nie einer Essenz oder Notwendigkeit entsprechend.

Queere Heteros wissen das von sich und bejahen es. Sie setzen die eigene sexuelle Orientierung nicht mehr explizit (durch Gesetze, Forderungen, etc.) oder implizit (Sprachgebrauch, Konventionen, Körperhaltung, etc.) als richtige Norm, von der alles andere eine Abweichung wäre, sondern erkennen das ihre eigene Sexualität eine von vielen gleichwertigen Umgängen mit einem wunderbar queeren Universum ist.

Staunen über die queerness der Welt

Auch wenn in Zeiten der clubkulturellen und neoliberalen Verwertungsmaschinen auch queer zu einer Art Kategorie wurde (Nike hat z.B. eine Reihe für queers), behält queer immer auch den originalen Impetus der Unterwanderung und Resistenz gegenüber jeglicher Kategorisierung in sich. In dieser Spannung zwischen Kategorie und Nicht-Kategorie liegt seine Kraft.

Wenn wir queer als Kategorie von hetero unterscheiden, riskieren wir dabei, eine Norm zu reproduzieren, die queer eigentlich unterlaufen und auflösen will: dann wären auf der einen Seite die queeren und auf der anderen Seite eben die majoritären Heteros. Queer wäre dann immer noch eine Abweichung von der Norm. Wenn aber auch Heteros queer sein können (und nicht Queere hetero, wie es die Forderung eines jeden Konservativen Umerziehungspfarrer wäre), dann wird queerness zur eigentlichen Hauptkategorie.

So wie die Erde und das Universum sind dann auch wir alle queer. Sich von dieser universal queerness in eine heteronormative Heterosexualität zu flüchten, ist das Hauptcharakteristikum unserer christlich geprägten, kapitalistischen Gesellschaft, welche die Erde mit ihren starren Kategorien aussaugt und auslaugt. Queere Heterosexualität wäre dazu entgegen gestellt, mit seiner sich als eher hetero herausstellenden sexuellen Orientierung umzugehen, ohne dieses furchtbare kulturelle Erbe weiter zu reproduzieren.

Queer heißt in seiner ursprünglichen, englischen Wortbedeutung: „seltsam, komisch, sonderbar, verrückt“. Wenn wir uns das Universum mal außerhalb der normierten Autostraßen ansehen, ist es ziemlich genau das: verrückt, seltsam, komisch, sonderbar. Das Staunen über die queerness der Welt muss gar nicht bei der Sexualität beginnen, kann diese aber auch beinhalten – egal was einen dann anzieht.

Shaming und weirde Blicke

Ich bin mir dessen bewusst, dass ich mich hier auf einem sehr schwierigen diskursiven Feld bewege. Leicht kann man mir cultural appropriation und ästhetisches Handpflücken aus der Position eines extrem Privilegierten vorwerfen: „For someone who is homosexual and queer, a straight person identifying as queer can feel like choosing to appropriate the good bits, the cultural and political cache, the clothes and the sound of gay culture, without the laugh riot of gay-bashing, teen shame, adult shame, shame-shame, and the internalized homophobia of lived gay experience.” (Dora Mortimer)

Ich verstehe diese problematische Lage der queer Heterosexuality und habe nicht im geringsten die Absicht, die Diskriminierungen, die queeren Personen widerfahren, zu schmälern oder zu leugnen. Ehrlich gesagt kommen mir die oben angeführten negativen Seiten der queerness alle auch vom eigenen Leib aus bekannt vor. Als geschminkter Mann in der Ubahn begegnen einem Shaming und weirde Blicke, die Leute folgen einem nicht ins Bett oder den Darkroom und begnügen sich mit den ersten Eindruck, der bei mir sehr oft jener eines „queers“ ist.

Die internalisierte Homophobie ist auch für straight leaning queers ein Problem, so lange sie sich nicht hinter der verlogenen Heteronormativität verstecken. Ich fühle mich auch zu Männern hingezogen und möchte diesem nachgehen, diesen essenziell bisexuellen Teil in mir bejahen können. Dagegen stellt sich so einiges in meiner Erziehung, die man langsam abbauen muss.

Empathie als notwendige Bedingung eines Wandels

Wenn man Sexualität nicht heteronormativ als reproduktive Aktivität mit klaren Ziel (Baby) zwischen zwei binären Parts begreift, dann ist sie immer ein Prozess: sie kann über die Jahre (in meinem Fall) von mehr gay leaning, über asexuelle Phasen hin zu bi- oder gar Heterosexualität führen, ohne jemals ihren definitiven Charakter erreicht zu haben. Queer verstandene Sexualität folgt dem sich stets auf der Erde wandelnden, multiplen Begehren ohne je eine straighte Form einzunehmen!

Mit Sicherheit sind diese negativen Affekte, die mir als weißem Mann puncto queerness entgegen kommen, geringer als für viele andere. Doch ich kann sie auch nachvollziehen. Und aus der Fähigkeit des Mitfühlens entsteht Empathie als notwendige Bedingung eines Wandels zu einer nicht mehr so verdammt heteronormativen Welt.

Sogar noch viel mehr: das eigentliche Wesen [ich spreche hier in einem strategischen Essentialismus] der Welt ist queerness in seiner ursprünglichen wie gegenwärtigen Wortbedeutung. Wenn man gerade eine heterosexuelle Phase durchmacht läuft man – aufgrund der großen Heteronormativität, zu der uns die majoritäre Welt allernorts verführen möchte – Gefahr, diese Wesentlichkeit zu verlieren: sich von der queerness der Welt zu entfremden und damit ein öko-soziales Problem zu werden. Queers lead the way!

Nicht verwechseln: Heterosexualität und Heteronormativität

Heterosexualität wird oftmals verwechselt oder synonymisiert mit Heteronormativität. Hierin sehe ich eine Gefahr, denn die beiden sind grundverschieden. Heterosexualität heißt, dass man in diesem queeren Universum jetzt gerade mehr mit Wesen des anderen „biologischen Geschlechts“ derselben Spezies sexuell ist. Heteronormativität bedeutet zu behaupten, dass dies alles andere als queer ist, sondern die Norm, die für alle (implizit oder explizit gefordert) gelten soll.

Wenn wir die beiden synonymisieren, laufen wir durch diese Verwechslung Gefahr, Heteronormativität negativ zu bestätigen. Dann ist queerness tatsächlich leicht die Abweichung von der Norm (und die Norm bleibt die Norm). Wenn wir diese Norm aus ökologischer, sozialer, kultureller wie gender-studies Perspektive allerdings als schädlich und katastrophal erkennen, ist die Norm eine Abweichung vom Universum, die wir heilen können und müssen.

Wenn wir uns also wieder mit dem Universum und der Erde verschwestern und -söhnen wollen, dann können uns die queers den Weg weisen – denn sie kennen die wunderbare weirde Wirklichkeit und wissen mit ihr umzugehen.

Anm. d. Red.: Das Foto oben stammt von Hiroyuki Takeda und steht unter einer CC-Lizenz (CC BY-ND 2.0).

2 Kommentare zu “Heteronormativität herausfordern: Was bedeutet es, ein queerer Hetero zu sein?

  1. Die Frage wäre die nach der sozialen Funktion von Heteronormativität. Warum entwickeln verschiedenste Gesellschaften, die allesamt 15% queer sind, eine mehr oder weniger aggressive heteronormative Leitkultur.

    Kultur existiert ja nicht grundlos sondern hat immer auch eine Genese, Bedingungen von Produktivkräften, Raum und Zeit etc.

  2. Hey ich schreib trotzdem mal obwohl 4 Jahre später:
    Danke auf jeden Fall für diese Auseinandersetzung die mir einige
    neue Worte gibt um zu beschreiben, wie und wo ich mich verorte und
    auf sehr flexible Weise.
    Finde deine Fragestellung, Andre, irritierend, da du 15% Queerness a Gesellschaft benennst, womit du ja per se schon wieder vom heteronormativen Standpunkt aus in die Fragestellung gehst – und außen vor lässt, dass der Autor eben genau diesen Standpunkt infrage stellt mit seinem Entwurf, Heterosexualtität als bloß eine Facette von “Queerness als eigentlich der Natur innewohnendem Prinzip” zu definieren – wonach es deine 15% queer halt nicht geben kann.

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