BRAVO-Sexualität: Erinnerungen an Dr. Sommer

Die Jugendzeitschrift BRAVO ist nicht nur beliebt wegen der Poster von Boygroups und Popsternchen. Seit mehr als 40 Jahren kommt darin auch ein Mann und sein Team in Sachen Sexualität zu Wort, dem Mädchen und Jungen gleichermaßen vertrauen: Dr. Sommer. Hinter dem Pseudonym steckte bis 1984 tatsächlich ein Mann – Dr. Martin Goldstein. Kürzlich verstarb der progressive Arzt und Psychotherapeut. Die Bloggerin und Kulturforscherin Naomi-Valerie Hergueta Geyer besuchte ihn vor seinem Tod. Eine Erinnerung.

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“Heute gilt Dr. Sommer als der Sexualaufklärer. Das ist überhaupt nicht wahr.” Mit diesem Satz ist mir Dr. Martin Goldstein im Gedächtnis geblieben. Wir hatten uns fast genau vor einem Jahr für zwei Tage bei ihm zu Hause verabredet. Ich wollte ihn für meine Magisterarbeit zu seiner Tätigkeit für die BRAVO befragen. Sein Haus kannte keine verschlossenen Türen. Er wohnte dort zusammen mit seiner Lebensgefährtin und einer anderen Familie. Dr. Martin Goldstein war ein weißhaariger Mann, der noch immer sprudelte vor seinem Willen, etwas zu bewirken und zu verbessern: „Ich bin immer am Lernen und ich bin jetzt 84 und entdecke immer noch Sachen, die mir nie klar geworden sind. Das hört nie auf und darüber bin ich froh.“

Natürlich, wenn wir heute an die Sexualaufklärung in der BRAVO denken, fällt uns sofort “Dr. Sommer” ein. Dieses Pseudonym blieb auch nach Martin Goldsteins Weggang 1984 Synonym für die BRAVO-Aufklärung. Danach durfte es aus rechtlichen Gründen nur Dr.-Sommer-Team heißen. Sexualaufklärung – das ist seither Dr. Sommer. Doch gleichzeitig und schon zuvor erschienen in der BRAVO auch andere Aufklärer wie Dr. Vollmer, Pseudonym von Schriftstellerin Marie Louise Fischer, die in den 60ern für die BRAVO schrieb, oder Dr. Korff, dessen Aufklärungs-Kolumne ebenfalls von Martin Goldstein ins Leben gerufen wurde.

Briefkastenonkel für Emanzipation

Goldstein ließ in unserem Gespräch verlauten, dass der wahre “Aufklärer der Nation” Dr. Korff gewesen sei. Denn Dr. Sommer war der Briefkastenonkel, der zwar Fragen zur Sexualität beantwortete, doch vor allem Emanzipation betreiben wollte. Martin Goldstein war es sehr wichtig, dass er als Dr. Sommer nicht nur über Liebe und Sex informierte, sondern die Jugendlichen auch über ihre Rechte gegenüber den Eltern aufklärte und ihnen dabei half, erwachsen zu werden und sich vom Elternhaus zu lösen. „Etwas Neues anzufangen und sich von dem Ererbten zu befreien“, das war sein Ziel für die jungen LeserInnen. Als Dr. Korff hingegen schrieb er – immer in Zusammenarbeit mit einem Team – seitenlange ausführliche Artikel über einzelne Themen der Sexualität wie das erste Mal, Verhütung oder Homosexualität.

Dr. Goldstein selbst war ein aufgeweckter Mann mit einer enormen Lebensweisheit, der kein Blatt vor den Mund nahm., “Als frommer evangelischer Jugendlicher” erlebte er eine Aufklärung ohne Worte, die vielen Verbote waren fest verinnerlicht, teilweise noch bis in die Gegenwart. Die Hochpubertät habe er im KZ verbracht, nachdem er als “Mischling” deportiert wurde. Das Aufbegehren gegen die Eltern, welches die meisten Jugendlichen erleben, habe er somit nicht durchgemacht. Erst sehr spät in seinem Leben habe er das Meiste über sich selbst, den weiblichen Körper und die Bedeutung von Berührung und Emotionen gelernt. Das, was weder Psychologie, noch Therapeutik oder Medizin ihm beibringen konnten, habe er von Frauen gelernt. “Bis 50 war ich eigentlich verklemmt”, so Martin Goldstein.

Zuhören statt Belehren

An seine Arbeit für die BRAVO schien er sich sehr gerne zu erinnern und erzählte genüsslich davon, obwohl er auch darauf hinwies, dass diese Art von Aufklärung nicht genüge und keinesfalls geeignet sei: “Für jedes Problem gibt es eine einfache Lösung. Punkt. Und die ist falsch. Und ein echtes Problem hat keine Lösung, sondern es hat eine Geschichte.”

Mit diesen Grundsätzen und dem gewissen “beraterischen Feuer” bearbeitete er im Team die Leserbriefe der Jugendlichen, die zwischen 1969 und 1984 an Dr. Sommer schrieben. Für ihn waren immer die kleinen Schritte und nicht das Endziel von Bedeutung. Seine Popularität verdankte er wahrscheinlich seinem ermutigenden, angstlosen und einfühlsamen Stil. Interessiertes Zuhören war für ihn das Zauberwort und Belehren Gift für eine angemessene Aufklärung Jugendlicher.

Zweifelsohne hat Martin Goldstein als Dr. Sommer dazu beigetragen, dass BRAVO Marktführer unter den Jugendzeitschriften blieb und ihre Reichweite ausdehnte. Doch als Psychotherapeut und Berater war er sein ganzes Leben, auch vor und nach der Tätigkeit für BRAVO, auf der Suche nach einer passenden Art der Aufklärung von Kindern und Jugendlichen, um sie auf das Erwachsenenleben vorzubereiten. Er verlor nie die Hoffnung, dass eines Tages das perfekte Modell gefunden sein wird und zumindest einige Kinder davon profitieren. Goldstein war stets ein kritischer Beobachter und sagte zu seinen eigenen Veröffentlichungen: “Auch meine Bücher sind nichts weiter als Zeitbilder.”

Mit Stolz statt Angst aufklären

Dr. Goldstein plädierte gegen eine Aufklärung durch Experten, von denen Allwissen verlangt wird. Stattdessen glaubte er an ein erfolgreiches Heranführen von Jugendlichen an das Erwachsensein durch Erlebnispädagogik und den lebensnahen Austausch zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, die weder Eltern, Lehrer noch Experten sind. Er kritisierte, dass Eltern auf Fragen ihrer Kinder oft mit Angst reagierten, anstatt mit Stolz über deren sexuelle Entwicklung, und sich deshalb kaum zur Aufklärung eigneten.

In den letzten Jahren hatte ihn besonders das von der Diplompädagogin Kathrin Raunitschka entwickelte Modell der Wildnisschule Potsdam angetan, einer rituellen Initiation Jugendlicher ins Erwachsenenleben. Für ihn war es das, was er 80 Jahre lang gesucht hatte: “Und da hab ich gedacht: Jetzt ist es gefunden und es hat schon praktischen Wert. Jetzt kann ich sterben.”

Als mich Martin Goldstein nach unseren gemeinsamen Tagen in seinem Auto zum Bahnhof brachte, verabschiedete ich mich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich habe selten einen so offenen und gleichzeitig verständnisvollen Mann in seinem Alter kennengelernt, der sehr viel Wissen weiterzugeben hatte, jedoch stets selbst auf der Suche nach mehr davon war.

Anm.d.Red.: Die Fotos hat Noritoshi Hirakawa an der Tagata Shrine in Japan beim “Festival of Fertility” aufgenommen.

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