Kann man fuer Abstraktes offen sein? Das Bild will mir nicht in den Kopf. Mein aeltester Freund ist mein aelterer Bruder. Wir haben zusammen Schach gespielt. Neben dem Schachbrett lag Marx’ Manifest der Kommunistischen Partei. Das las mein Bruder zu der Zeit. Er hat mir erklaert, was ein Gambit ist. Gambit nennt man eine Eroeffnung, bei der man einen Bauer opfert, um einen Stellungsvorteil zu erlangen. Es kann recht gefaehrlich werden, das Opfer anzunehmen. Das zu verstehen, war fuer mich damals anfangs eine recht abstrakte Angelegenheit. Und was hatte es mit dem Manifest auf sich? Das wollte mein Bruder mir ebenfalls erklaeren. Seine fortgesetzten Erklaerungsversuche hatten den Effekt, dass ich Marx ueber Jahre hinweg immer sehr skeptisch gegenueberstand und lange nicht lesen wollte.
Eine Garage, in die eine Gitterkonstruktion hineingestopft werden soll. So stelle ich es mir vor, fuer Abstraktes offen zu sein. Freunde, die ich in diesem Bild unterbringen kann, gab es wenige. Die Mehrzahl meiner Bekannten in der Kleinstadt, in der ich aufwuchs, war an dem nicht sehr abstrakten Thema Bier interessiert, das sich gern zu konkreter Musik hin erweiterte. Anderen lag mehr an Freundinnnen, was gelegentlich sehr abstrakt werden konnte, besonders als Kompensationsleistung. [Es gibt eine Theorie, die besagt, dass ein Grossteil der Kultur – und damit das meiste, was man als abstrakt bezeichnet – eigentlich nur Kompensationsleistung ist.] Das Gemeinsame unserer Interessen bestand darin, dass ich mich ihnen anpasste, erst beim Bier, bis es langweilig wurde, dann mehr in der Kompensation.
Ansonsten hatte ich eigene Interessen. Eine mir lange verborgen gebliebene bestand darin, Listen zu schreiben. Listen von allem moeglichen, Auswertungen von Quartett-Spielkarten, die hoechsten Berggipfel verschiedener Laender, Fussball-Ligen erfundener Staedte. Dann interessierte ich mich dafuer, Kugeln und Rohre und verworrene Kugel-und Rohrkonstruktionen mit Bleistift schraffiert zu zeichnen. Irgendwann fand ich die Erzaehlungen von Kafka unter einer Schulbank und begann, mich dafuer zu interessieren. Alles Interessen, die ohne Gemeinsamkeit auskommen, aber abstrakt genug sind, um ueberall aehnliche Anknuepfungen zu bieten.
Ich wuerde einen sozialen Zusammenhang nie vom Gemeinsamen oder dem Wunsch nach Gemeinsamkeit her beschreiben. Denn dabei handelt es sich um anthropologische Faktoren, die mehr oder weniger stabil bleiben. Was sich dagegen aendert, sind die Wege und Techniken, die Institutionen und Dispositive, in denen sie zustande kommen. Was als Gemeinsames entsteht, nistet sich in einer Struktur von Kommunikation ein. Dabei treten meistens zwei Effekte mehr oder weniger parallel auf: Einmal werden alle moeglichen Inhalte und Gemeinschaften aus alten Zusammenhaengen in das neue Medium uebertragen. Andererseits entwickeln sich dort aber auch neue, eigene Gesetze. Wir koennen also beispielsweise auf Youtube jede Menge Videokunst finden. Aber muessen dann feststellen, dass damit ein ganz eigener Umgang getrieben wird. Sie wird verschnitten, kommentiert, imitiert und variiert.
Dabei zwingt Youtube zu einigen formalen Entscheidungen, die das Material strukturieren. Wir haben beispielweise immer einen Autor, im Gegensatz zu einem Wiki, das die Figur das Autors beinahe verbirgt. Jedes Video hat einen Zeitpunkt, so dass sich Sequenzen von Einschreibungen bilden koennen. Strukturen wie Kanaele oder Links werden angeboten. All das bestimmt bis zu einem gewissen Grad, entlang welcher Linien Gemeinsamkeiten ueberhaupt erwachsen, wo Singularitaeten und Aufmerksamkeitspunkte entstehen. Wir befinden uns aesthetisch in Youtube an einem Punkt, der dem fruehen Kino um 1905 vergleichbar ist. Viele kleine Formate werden parallel getestet. Ich bin sehr neugierig, ob und wie sich groessere Formate herausbilden, die etwa dem Kinofilm entsprechen koennten. Das wird sich nur in einer Gemeinsamkeit herstellen lassen, an die sich wiederum Interessen knuepfen.