Eine junge Frau, Anfang 20, sitzt auf ihrem Fahrrad und tritt in die Pedale – eine ziellose Fahrt durch die huegelige Landschaft. Die Farben ihrer Kleidung heben sich kaum von der trueben, herbstlichen Umgebung ab. Um ihre Schultern schlingt sich eine beigefarbene Strickjacke, darunter lugt eine helle Bluse hervor. Ihr Fahrrad ist eines dieser Old-school Damenraeder. Ihr Gesicht ist blass, die Haare sind zu einem Zopf gebunden, die Haarfarbe geht ins Braune. Sie sieht sehr muede aus und wirkt gleichzeitig erleichtert. Sie atmet die frische Luft tief ein.
Es scheint nicht gerade warm zu sein an diesem Tag, trotzdem friert sie nicht. Hinter ihr tut sich eine weite, bergige Landschaft auf. Felder, Weiden, Wiesen und vereinzelt ein paar Baeume. Die Strasse ist schmal und kurvig. Die Gegend ist nicht stark bewohnt. Keine Menschen, keine Autos, keine Strommasten. Keine Moderne. Nur sie und die Natur. Die junge Frau faehrt durch das Baden-Wuerttemberg der 1970er.
Szenenwechsel: Die Ostseekueste in den 1990er Jahren. Eine andere junge Frau, auch um die 20 Jahre alt, sitzt auf ihrem Rad und faehrt beschwingt eine Allee entlang. Eine dieser Alleen wie sie zuhauf durch norddeutsche Waelder fuehren. Sie traegt knappe Sommerkleidung und ihr schwarzes Haar kurz. Ein roter Kleinwagen ueberholt sie. Ansonsten ist die Gegend menschenleer. Der Wald wird immer lichter, sie naehert sich der Ostsee. Sie gelangt pfeifend an einen schmalen Strandweg, der von Duenenhafer gesaeumt wird. Ein paar Buesche hier und dort. Der Boden jenseits des Weges besteht aus weissem, etwas dreckigem Ostseesand. Man hoert die See in der Ferne rauschen.
Die soeben beschriebenen Bilder stammen aus zwei aktuellen deutschen Filmen: >Requiem< von Hans Christian Schmid und >Der freie Wille< von Mathias Glasner. Die Landschaften und Menschen, die in den Filmen dargestellt werden, erscheinen nur auf den ersten Blick unschuldig. Denn wie bei so vielen deutschen Filmen, ist der Ort der Handlung die Provinz. Und mit der Provinz verbinden wir Vorstellungen, die irgendwo zwischen unschuldiger Milka-Idylle und der >langweiligsten Gegend der Welt< [Tocotronic] angesiedelt sind. Diese Vorstellungen von der Provinz sind ueberholt. Seit dem zweiten Weltkrieg stellt sie fuer viele Menschen einen Zufluchtsort dar, denn die Staedte sind unsicher und chaotisch. Die Provinz wird in dieser Zeit im so genannten Heimatfilm idealisiert: Dort geht es noch mit rechten Dingen zu; das Madel und der Bub necken sich ganz stubenrein und am Ende wird in der Dorfkneipe einer gezwitschert. Die Weiden sind gruen, der Himmel blau und die Herzen rein. Doch nun gibt es so etwas wie den >neuen deutschen Heimatfilm< [Spiegel], der klar macht, dass die raue Realitaet auch auf dem Land angekommen ist. Wenn sich das deutsche Kino heute seinen Weg ins Hinterland sucht - dann laesst es zwar die Grossstadt hinter sich, aber nicht ihre Probleme. Auch auf dem Land ist das Leben wie in Detlef Bucks Film >Knallhart<, der explizit damit wirbt, ein >Grossstadtfilm< zu sein. Seine Haerte unterscheidet ihn von >blossen< Stadtfilmen. Und von Provinzfilmen sowieso. Doch diese Annahme ist falsch. Denn auch im Provinzfilm ist die Wirklichkeit knallhart. >Requiem< und >Der freie Wille< sind dafuer im Grunde die besten Beispiele. In Hans Christian Schmids Film erlebt die eingangs beschriebene Frau nur in wenigen Momenten die Provinz als befreiende Naturlandschaft. Die Luft der Radtour-Bilder - sie wird im Verlauf der Geschichte immer duenner. Statt Weite, macht sich eine bedrueckende Enge breit. Eltern, Kirche und Dorfgemeinschaft lassen keinen Platz fuer die persoenliche Entfaltung. Die Frau kommt damit nicht klar, weicht vom vorgeschriebenen Weg ab. Bald glauben alle, sogar sie selbst, dass der Teufel sich ihrer bemaechtigt habe. Dann beginnt der Exorzismus. Heftig, gnadenlos, brutal. Es ist fast so, als haette die Protagonistin die ganze Zeit unter Wasser geschrieen. Jetzt hoert man sie. Doch es ist zu spaet. Sie stirbt. Der perfekte Postkarten-Einstieg von >Der Freie Wille< fuehrt uns ebenfalls auf die falsche Faehrte. Die junge Frau in Urlaubsstimmung, die auf ihrem Fahrrad eine Allee entlang saust, wird nur wenige Sekunden spaeter von einem Unbekannten vom Rad gerissen, verschleppt und schliesslich am Strand vergewaltigt. Aus der Perspektive des Peinigers sehen wir: Er schlaegt und bespuckt die Frau, irgendwann wird das Geraeusch seines Atems unertraeglich laut. Noch mal zur Erinnerung: wir sind hier nicht in einer dunklen Gasse, oder auf einem unbewachten Parkdeck. Die Szene spielt am Strand. Die Sonne scheint, die Wellen rauschen und der weisse Sand glitzert. An den Strand kehrt der Film am Ende zurueck. Der Vergewaltiger haelt es in seiner Haut nicht mehr aus und schneidet sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf. Ganz langsam verblutet er, waehrend am Horizont die Sonne aufgeht. All diese Orte sind Deutschland. Die Filme haben nicht den Anspruch zu zeigen, wie unser Land wirklich ist. Aber sie zeigen auf besondere Weise eine Seite Deutschlands, die immer noch auf wenige Eigenschaften reduziert wird. Die Provinz ist in den Imageclips von Staat und Wirtschaft auch heute ein Heimatfilm: Gute Luft, gesunde Menschen, schoene Landschaft. Doch genauso wie die Grossstadt nicht nur Ghetto ist, ist auch die Provinz nicht nur heile Welt. Im grossen Selbstbebauchpinselungsjahr 2006 will vermutlich niemand etwas von den Grautoenen unseres Landes wissen. Zum Glueck gibt es Menschen, die diese Nuancen sehen und darstellen.