Audiovisuelles Erbe: Der Weg von der analogen zur digitalen Archivierung


Die Politik nimmt die Notwendigkeit wahr, der Digitalisierung der Bildarchive entgegen zu wirken. Es geht darum, den Zugang zum Bild- und Tonmaterial zu erleichtern und die Archivierung auf langer Zeit zu gewährleisten. Welche Kriterien sind hierfür wichtig? Der Filmwissenschaftler Jürgen Keiper kommentiert.

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Erzählt man Katastrophen vom Ende her, erscheinen sie oft gleichermaßen regelbasiert wie vermeidbar. Sie besitzen – ausgenommen die Naturkatastrophen – eine eigene Logik, kündigen sich an, pflanzen sich fort und eine Verkettung ungünstiger Ereignisse führt schließlich zum Desaster. Erzählt man dieselbe Geschichte von der Mitte her, bietet sich ein differenzierteres Bild. Hier stehen wir:

Zum Stand der Politischen Debatte

Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass das audiovisuelle Erbe zuvorderst unter dem Aspekt der Zugänglichmachung (access) in der politischen Diskussion angekommen ist. Hintergrund sind die zahlreichen Initiativen von der Deutschen Digitalen Bibliothek bis zur Europeana. Dieses Erbe soll transparent und nutzbar sein. Auch die Digitalisierung des analogen Films dient diesem Zweck.

Der zweite zentrale Aspekt, unter dem das audiovisuelle Erbe diskutiert wird, ist der des Verlustes. Der Wechsel zu digitalen Produktionsweisen und die damit einhergehenden Probleme sind der Grund hierfür. Hinzu kommt die unvollständige Erfassung und Archivierung des analogen Filmerbes. Das Auftauchen dieser Probleme auf der politischen Bühne ist sicher die Lobbyarbeit der Archive und ihrer Projekte, aber auch internationaler Initiativen wie der seitens der UNESCO initiierte “World Day for Audiovisual Heritage” zu verdanken.

Immerhin koppeln nun alle Digitalisierungsinitiativen, die von den Bundestagsparteien im Jahre 2012 eingebracht wurden, das politische Ziel der Zugänglichmachung (access) mit der Archivforderung einer Langzeitarchivierung der Digitalisate (long term preservation).

Diese Doppelstrategie, Digitalisierung und Zugänglichmachung auf der einen Seite, digitale Langzeitarchivierung auf der anderen, ist also common sense. Weiterhin offen und äußerst kontrovers diskutiert – und praktiziert – ist allerdings die Frage, ob nach der Digitalisierung eines analogen Materials dieses auch vernichtet werden darf.

Aufstieg und Fall

Dass man sich mit dem Umstieg auf digitale Verfahren auch die der IT-Industrie eigenen kurzen Innovationszyklen, die ständigen Formatwechsel und die starken anbieterspezifischen Abhängigkeiten ins Haus geholt hat, überrascht nicht. Wohl aber, wie schnell dieser Technologiewechsel vollzogen wurde und die analoge Industrie von der Bildfläche verschwand.

Analoge Produktionen sind schon seit Jahren die Ausnahme. Nicht unwahrscheinlich, dass das Jahr 2012 als Sargnagel der analogen Filmwelt gelten wird: Der arrivierte Filmhersteller Kodak eröffnete am 19.Januar 2012 den Reigen mit seinem Bankrott. „You press the button – we do the rest“, der einstige Werbeslogan von Kodak, ist heute nur noch zynisch zu verstehen.

Renommierte Kopierwerke und international etablierte Restaurierungsinstitutionen wie Haghefilm/Cineco in Amsterdam folgten, haben ebenfalls ihre Maschinen ausgeschaltet und Konkurs angemeldet. Damit verschwinden nicht nur herausragende Institutionen, sondern auch die Menschen und mit ihnen ihr Wissen und ihre Erfahrung.

Digitale Langzeitarchivierung

Da die Kosten einer digitalen Archivierung so hoch sind, favorisierte die “Academy of Motion Picture Arts and Sciences” in ihrer oft zitierten Studie “The digital dilemma” den analogen Film als Trägermaterial zur Langzeitarchivierung auch digitaler Produktionen. Doch dieses Konzept ist nun durch den Niedergang der analogen Filmproduktion obsolet. Somit verbleiben zur Zeit ernsthaft nur Lösungen auf digitaler Grundlage.

In ihrer zweiten Studie, die übrigens zeitgleich mit Kodaks Bankrotterklärung erschien, richtet die Academy ihren Fokus nicht mehr auf die amerikanischen Majors, sondern auf AV-Archive und unabhängige Filmemacher. Letztere produzieren 75% aller Filme, die zur Kinoaufführung gelangen, besitzen aber wesentlich weniger Einfluß und verfügen in der Regel weder über die Kompetenz noch die finanziellen Möglichkeiten das digitale AV-Erbe zu sichern.

“The bottom line is we’re running out of time,” meint denn auch Mitautor Milt Shefter, “The time for studies is past. We have to find some solutions or we’re going to lose a lot of material.”

Doch die Frage des Verlustes, des digitalen „gaps“ ist bei genauerer Betrachtung zunächst gar keine Frage der Technologie, denn es existieren sehr wohl professionelle Archivierungsinstitutionen wie etwa bei der Library of Congress. Zentral sind vielmehr Fragen der politischen Archivorganisation und der Finanzierung. Auch darauf macht die Studie aufmerksam.

Wie gravierend diese durch Technologie bewirkten organisationspolitischen Verwerfungen sein können, konnte man schon bei der Umstellung der deutschen Kinos auf digitale Distributions- und Projektionstechnik beobachten. Verteilungskämpfe zwischen den involvierten Interessensverbänden waren die Folge, aber auch bemerkenswerte Einsichten in die Machtpolitiken der digitalen Ära.

Peter Dinges, Vorstand der FFA (Filmförderungsanstalt), forderte in einer Anhörung des Kulturausschusses für die Zukunft demokratischere Standards auf technologischer Ebene: „Es soll ein Format geben, und das heißt nicht etwa DCI und ist von den Majors vorgegeben. Das wird in Zukunft ein internationaler ISO-Standard sein, an dem Deutschland und die Europäer in einer ISO-Mitbestimmung demokratisch mitgewirkt haben.“ Das „Code Is Law“-Paradigma, das Lawrence Lessig vor über einem Jahrzehnt formulierte, gilt eben auch für die digitale Kinobranche – und auch für den Archivbereich.

Initiativen in Deutschland

In Deutschland beschloss das Kabinett im Oktober 2012 die Pflichtregistrierung für deutsche Filme. Damit ist zumindest organisationspolitisch die Grundlage für eine umfassende Pflichthinterlegung geschaffen worden, da die existierende Hinterlegungspraxis nicht alle deutschen Kinoproduktionen erfasst.

Rechtliche Impulse kamen seitens der EU: Im Oktober 2012 erließ das EU-Parlament eine Direktive zu den verwaisten Werken, also audiovisuellen Werken deren rechtlicher Status unklar ist und die daher praktisch der Nutzung entzogen sind. Die Mitgliedstaaten haben nun 2 Jahre Zeit, diese in nationales Recht zu überführen. Damit ist dieser prekäre Teil des audiovisuellen Erbes – unter Auflagen – endlich besser zugänglich. Während also die Frage nach der Finanzierung der digitalen Archivierung nach wie vor unbeantwortet ist – und nur zynische Gemüter auf einen Fukushima-Effekt hoffen – entstehen im Bereich der Zugänglichmachung bemerkenswerte Initiativen.

Das von Hans W. Geißendörfer, Joachim von Vietinghoff und Andreas Vogel forcierte Projekt „Schätze des deutschen Films“ schreitet voran und soll nun im Frühjahr 2013 online gehen. Ziel soll ein „Video-on-demand-Portal sein, das nach und nach Zugriff auf alle verfügbaren deutschen Kinofilme bieten will“. Auch die Bestände der wichtigsten deutschen Archive sollen über einen Bestandskatalog transparenter und recherchierbar gemacht werden. Ebenso erhalten die Murnau-, die DEFA-Stiftung sowie das Bundesarchiv nun erstmals eine Digitalisierungsförderung zur „Bewahrung des nationalen Filmerbes“.

Lost & not found: das audiovisuelle Erbe

Was allerdings nicht geleistet wurde, ist eine inhaltliche Diskussion zur Definition des audiovisuelle Erbes. Denn es wäre vermessen, das audiovisuelle Erbe auf den Bereich der nationalen Kinofilmproduktion zu beschränken. Neben der professionellen Filmproduktion für Kino und Fernsehen rücken zunächst die Home Movies und Amateurfilme ins Blickfeld. Zeithistorische Dokumente, die systematisch nur von einigen Archiven wie dem Národní filmový archiv in Prag oder von lokalen Initiativen wie Home Movies Bologna gepflegt werden. Weltweit gibt es immerhin den 2002 eingeführten „Home Movie day“, der zumeist von den AV-Archiven organisiert wird.

Auf der anderen Seite stehen die unzähligen audiovisuellen Netzpublikationen, die in Blogs, auf Vimeo oder YouTube publiziert werden und die sich nationalen oder gar föderalen Betrachtungsweisen entziehen. Die schiere Menge an Bildern verweist unmittelbar auf die Frage, was denn warum und von wem gespeichert werden sollte. Zumindest das von Brewster Kahle gegründete Internet Archive sichert einen Teil dieser Netzkultur. Allerdings bleibt vieles davon aus rechtlichen Gründen auf absehbare Zeit nicht für Nutzer zugänglich.

Diese Frage, was denn überhaupt unser audiovisuelles Erbe sein soll und die unbequeme Diskussion darüber, welche Mechanismen zur Auswahl greifen könnten, richtet sich gleichermaßen an die Öffentlichkeit, die Gedächtnisorganisationen und die Politik. Sie hat noch nicht einmal begonnen.

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema Kulturpolitik in unserem Dossier Illegale Fans. Das Foto oben stammt von a_kep/subtext und steht unter einer Creative Commons Lizenz. Der Text erschien in gedruckter Fassung in dem Magazin Das Netz herausgegeben von iRighsMedia; er steht ebenfalls unter einer Creative Commons Lizenz.

2 Kommentare zu “Audiovisuelles Erbe: Der Weg von der analogen zur digitalen Archivierung

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