Mich hat schon immer interessiert, wie die Welt so funktioniert. Meine Methode zu verstehen ist, Beispiele zu sammeln, und sie in sinnvolle Beziehungen zueinander zu stellen. Es geht um Geschichten. Viele kleine Geschichten die zusammen ein grosses Bild ergeben. Ich habe eine ganze Reihe von Arbeiten gemacht, die nach diesem Prinzip funktionieren, und dabei eine Software erfunden, die Autoren unterstuetzt, nichtlineare und interaktive Geschichten zu erzählen.
Verhaengnisvoller Weise werden wir von Kindesbeinen an, darauf trainiert, immer lineare Bezuege herzustellen. Soll heissen: eine Geschichte nach der anderen. Wir lernen, dass eins zum anderen fuehrt. Aber das ist natuerlich Quatsch und hat mit der Welt gar nichts zu tun. Weil es in der Welt immer ganz viele Bezuege gleichzeitig gibt.
Im August diesen Jahres habe ich zusammenn mit dem Schriftsteller Kolja Mensing in der Grohner Duehne im Norden Bremens gewohnt. Die Grohner Duehne ist ein Stein gewordener Traum aus den fruehen 1970er Jahren. Man hat damals eine Utopie vom sozialen Wohnen verwirklicht und etwas geschaffen, was zeitweise eher einem Alptraum gleich kam. Leerstand, Drogen und Kriminalitaet, Auslaenderfeindlichkeit und Ghettobildung.
Es blieben nur die, denen nichts anderes uebrig blieb. Die Muelltonnen brannten und man wollte das ganze Ding abreissen. Vor einigen Jahren hat man eine Videoueberwachungsanlage installiert und einen Wachschutz engagiert. Seitdem herrscht Ruhe im Karton. Das spannende fuer uns waren die Menschen, die in der Grohner Duene leben. Deren Geschichten und die Art wie die Menschen dort die Welt sehen.
Wir sind zuerst verhalten, dann aber mit offenen Armen aufgenommen worden. Die Menschen in der Grohner Duehne haben ihre Erfahrung mit Medien-Menschen. Immer wieder kamen Reporter fuer ein paar Stunden und haben hinterher nur das berichtet, was dem Klischee entspricht.
Kolja und ich sassen auch nach drei Wochen noch auf dem Hof rum. Die Leute haben sich an uns gewoehnt. Und einige haben uns, glaube ich, richtig in Herz geschlossen. Und umgekehrt genauso.
>Habt ihr nicht Angst in der Grohner Duehne zu wohnen?< sind wir zu Beginn gefragt worden. Und am Anfang haben wir uns tatsaechlich etwas komisch gefuehlt. Ich bin mir wie ein Fremdkoerper vorgekommen, wenn ich mit meiner dicken, schwarzen Brille ueber den Hof gelaufen bin. Mittlerweile koennte ich mir durchaus vorstellen, in so einem Haus zu wohnen. Wir haben wunderbare Menschen getroffen. Die Bewohner der Grohner Duene machen sich ueber die Welt genauso viele Gedanken, wie meine Freunde in Berlin. Die Weltbilder, die sie entwickelt haben, sind freilich andere. Das spannende daran ist, dass diese Weltbilder genauso gut zu funktionieren scheinen, wie meine eigenen. Ich selbst gehoere nicht zu den Menschen, die versuchen Meinungsverschiedenheiten mit einem Handkantenschlag zu loesen. Aber es ist sehr interessant, die Denkweise mancher schweren Jungs dort kennenzulernen. Deren Logik ist ueberraschend vertraut und allgegenwaertig. Grosse Politik funktioniert oft nicht anders. Die Grohner Duene ist ein provinzieller, internationaler Ort. Eine multikulturelle Dorfgemeinschaft mit 1500 Mitgliedern aus aller Herren Laender. Wie ein Raumschiff, das am Rand von Bremen gelandet ist. Orte wie diese, gibt es ueberall, nicht nur in Europa. Von ihnen geht eine grosse Kraft aus. Der Mix der Kulturen hat ein hohes kreatives Potential fuer die Gesellschaft. Die Gefahr ist allerdings, dass die Kulturen im Verdraengungswettbewerb gegeneinander alle Energien verschwenden. Die Grohner Duene ist kein Ghetto. Ghetto ist Klischee.