Ist Komplizenschaft tatsächlich eine ‚neue‘ Form von kollektivem Agieren, die sich in signifikanter Weise von der herkömmlichen Teamarbeit, Korporation, Kollaboration und ebenfalls von der Freundschaft unterscheidet? Die Philosophin Janina Sombetzki ist sich nicht sicher und artikuliert ihre Zweifel. Ein Essay.
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Um direkt zum Punkt zu kommen: Ich muss zugeben, dass ich nicht der Ansicht bin, dass es sich bei der Komplizenschaft um die in jeder Hinsicht fruchtbarste und produktivste Form von Kollektivität handelt. Wir können sie nicht kontrollieren. Sie verheißt Kreativität, Innovation und in den Augen Mancher vielleicht sogar etwas Mystisches, das im Aufeinanderprallen der komplizitären Parteien regelrecht explodiert – ob negativ oder positiv sei dahingestellt. Doch um was handelt es sich dabei?
Ich und komme weiter unten darauf zurück. Und schließlich lassen sich Komplizenschaften nicht bewerten. Wann immer wir einen Akt wahrgenommener Komplizenschaft beurteilen, ist es bereits etwas anderes als Komplizenschaft im eigentlichen Sinne – eine ‚stabilisierte‘ oder hypostasierte Form der Komplizenschaft, ein Produkt oder Resultat von Komplizenschaft vielleicht. Genuine Komplizenschaft liegt verborgen außerhalb des Suchscheinwerfers des ‚Lichts der Öffentlichkeit‘.
Von unwissenden und eben ungewollten Komplizen
Gesa Ziemer zufolge handelt es sich bei Komplizenschaft um eine „konstruktiv-kreative“ „Grenzüberschreitung“, woraus die Entwicklung „alternative[r] Strukturen“ und „Innovationen“ resultieren. Sie changiert zwischen „Kalkül und Unberechenbarkeit“. Komplizenschaft ist spontan und manchmal (zumindest teilweise) ungewollt.
Ziemer beschreibt den Fall eines ungewollten Bankraubs, in dem ein Mann eine ältere Dame zur Bank fährt, damit diese dort ihre Miete zahlen kann. Kurz darauf wird das Auto allerdings von der Polizei gestoppt und es stellt sich heraus, dass besagte Dame mitnichten ihre Miete gezahlt, sondern die Bank überfallen und ausgeraubt hat. Ihr freundlicher Fahrer wird zum unwissenden und eben ungewollten Komplizen.
Wenn wir Ziemers Überlegung, dass es sich bei der Komplizenschaft um einen Fall von Grenzüberschreitung handelt, folgen, mag man sich unwillkürlich fragen, welche Grenzen das sind, die hier überschritten werden. Was für einen Bereich, oder gar Sphäre verlassen wir, wenn von Komplizenschaft die Rede ist? Denn schließlich impliziert der Begriff der Grenzüberschreitung, dass wir etwas, nämlich einen Ort, hinter uns lassen und Ziemer würde wohl sagen, dass dieses Grenzüberschreiten herkömmlichen Kollektiven wie Teamarbeit und Korporationen gerade nicht eigen ist.
Diesem Charakteristikum der Grenzüberschreitung in der Komplizenschaft nähere ich mich im Folgenden über zwei Aspekte, nämlich erstens der Aspekt der „Spannung und Fragilität“ und zweitens der Aspekt der „Verantwortungslosigkeit“.
„Pushing“ und „Pulling“
Ich beginne mit dem Aspekt der „Spannung und Fragilität“. Bei der Komplizenschaft handelt es sich um einen Balanceakt, indem sich per se kontradiktorische und konfligierende Elemente vereinen. Man kann sich das bildhaft etwa wie folgt vorstellen: Zwei Menschen, bspw. ich und eine andere Person x, stehen einander gegenüber – die beiden Komplizen. Eine meiner Hände schiebt mein Gegenüber von mir weg, während meine andere Hand ihn näher zu mir heranzieht. Ein komplizitäres Verhältnis hat genau diese widersprüchliche Natur in Form der beschriebenen zwei Bewegungen (das „Pushing“ und „Pulling“). Komplizenschaft, so wie ich Ziemer verstehe, bildet eine Spannung, stellt eine antagonistische Beziehung dar.
Komplizenschaft kreiert eine Spannung zwischen zwei modi operandi, wenn man so sagen kann, nämlich auf der einen Seite Kreativität, Innovation, individuelle Autonomie, Naivität und Risiko(bereitschaft); die Bewegung des „Pushing“, wie ich sie oben genannt habe. Dieser Bewegung stehen auf der anderen Seite Konservatismus, Sicherheit und Vertrauen gegenüber; die Bewegung des „Pulling“.
Komplizenschaft baut zwischen Kreativität und Konservatismus eine Spannung auf, da die involvierten Parteien dieser Beziehung einerseits innovativ sind und alternative Arbeitsstrukturen entwickeln, andererseits jedoch gerade hierfür zumindest dieselbe Sprache sprechen und auf ein rudimentäres Set geteilter Regeln zurückgreifen können müssen. Stellen wir uns bspw. eine Liebesaffäre vor (ein weiteres Beispiel aus Ziemers Buch).
Das Paar wird über sein Verhältnis zumindest irgendeine Vereinbarung haben, die Beteiligten finden sich anziehend, mögen oder lieben sich vielleicht sogar, sie vertrauen sich wohl auch in gewisser Weise. Dies alles stellen konservative Elemente einer Beziehung dar. Doch letztlich kann niemand der Beteiligten der Affäre tatsächlich darüber sicher sein, was der andere denken und tun mag. Vielleicht ist sie mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge zufrieden, vielleicht sucht er in der Affäre eigentlich auf Dauer eine neue Beziehung.
In einem komplizitären Verhältnis bilden diese beiden Bewegungen des „Pushing“ und „Pulling“ eine Spannung. Komplizenschaft gründet auf der Fragilität, die aus dieser Spannung resultiert. Sie ist nicht mehr länger Komplizenschaft, wenn diese Fragilität, diese Unberechenbarkeit wie Ziemer auch sagt, verschwindet.
Balanceakt zwischen Kreativität und Konservatismus
Auf einer zweiten Ebene kreiert Komplizenschaft eine Spannung nicht nur zwischen zwei modi operandi, sondern ebenfalls zwischen den Komplizen selbst. Eine komplizitäre Beziehung wird durch entgegengesetzte Konzepte wie bspw. Piraten und Kapitalisten, Amateure und Profis, Programmierer und Journalisten, konstituiert – selbst dann, wenn wir eigentlich der Ansicht sind, dass diese Kategorien nicht besonders tragfähig sind. Das Konzept der Komplizenschaft bedarf dieser Dichotomien einander gegenüberstehender Identifikationscluster.
Sollten wir sie verwerfen wollen, verschwindet das Konzept der Komplizenschaft mit ihnen. Da es sich bei der Komplizenschaft um einen Balanceakt zwischen Kreativität und Konservatismus einerseits, sowie den Komplizen selbst andererseits handelt, stellt sie in Ziemers Worten häufig nur eine kurze erste (erste) Phase in einer längeren Beziehung dar.
Ich komme zum zweiten Aspekt der Komplizenschaft, dem der „Verantwortungslosigkeit“. In einem komplizitären Verhältnis verlassen wir unsere ‚ethische comfort zone‘ und in dieser Hinsicht handelt es sich dabei um eine Grenzüberschreitung. Das besagt nun gerade nicht, dass es eine spezifische Ethik der Komplizenschaft gibt – gerade das Gegenteil ist der Fall. Komplizenschaft bildet sich und beruht auf der Spannung zwischen den involvierten Parteien, die über divergierende Moralprinzipien, Werte und Verhaltensweisen verfügen; so z. B. die Maßstäbe des Kapitalisten – Konsum und Profit – gegenüber den idealistischen Vorstellungen des Piraten (nur, um hier ein sehr auf das Wesentliche heruntergebrochenes Beispiel zu nennen).
Teamarbeit oder Kooperation
Es existiert kein stabiles Set ethischer Regeln, Normen oder Praktiken in der Komplizenschaft, denn wann immer die Fragilität, die aus der zuvor besprochenen Spannung resultiert, verlorengeht, verlassen wir das komplizitäre Verhältnis und treten in eine neue Phase kollektiven Agierens ein – vielleicht Kooperation, Teamwork etc. Komplizenschaft taucht dort auf, wo wir unsere ‚ethische comfort zone‘ verlassen haben, wo wir nicht mehr durch Gesetze und Regeln gebunden sind. Komplizenschaft gedeiht verborgen in den Ritzen, Spalten und Löchern unseres ‚Sicherheitsnetzes‘ sozialer Konventionen und Praktiken.
Sie ist durch Unberechenbarkeit geprägt und spricht gewissermaßen mit vielen Zungen, d. h., sie beruht auf den und ist bedingt durch die Ethiken (Plural) der involvierten Parteien. Sobald diese beginnen, ihre Beziehung zu reflektieren, Normen und Praktiken ausbilden – ganz so, wie ein großer Chor, in dem die individuellen und unterschiedlichen Stimmen irgendwann vollständig harmonieren –, handelt es sich nicht mehr um eine Form der Komplizenschaft.
Nebenbei würde ich deshalb im Gegensatz zu Ziemer einen Bankraub kein Beispiel für Komplizenschaft nennen, sondern für Teamarbeit oder Kooperation. Nun – was hat Komplizenschaft mit Verantwortung zu tun? Ich bin der Ansicht, dass die Komplizen nur dafür verantwortlich sind, die Spannung und Fragilität ihres Verhältnisses aufrecht zu erhalten, als ihre Quelle für Kreativität und Innovationskraft. Es gibt schlicht keine Regeln für Komplizenschaft, da sie per definitionem unberechenbar ist.
Worauf auch immer wir versuchen, ‚den Finger zu legen‘ – es kann nicht Komplizenschaft sein. Zumindest aus einer internen Perspektive heraus tragen die Komplizen keine andere Verantwortung als die, ihre Komplizenschaft zu bewahren und zu fördern. Aus einer externen Perspektive scheint die Frage nach Verantwortung falsch gestellt zu sein, denn wann immer eine fragliche Kollektivität als Komplizenschaft (von außen) identifiziert und ihre Handlungen gut oder schlecht bewertet wurden, handelt es sich damit nicht mehr um Beispiel für Komplizenschaft.
Segen und Last der Komplizenschaft
Sie ist nicht mehr länger verborgen, sondern wurde ans ‚Tageslicht‘ stabiler Normen und Konventionen gebracht. Schließlich – vielleicht muss zugegeben werden, dass Komplizenschaft regelrecht die Verantwortung flieht, denn bei Verantwortung handelt es sich um ein konservatives Konzept, das Vertrauen, Verlässlichkeit und Transparenz garantieren soll. Dies sind alles Modi, die in einer Komplizenschaft nur bedingt bestehen.
Denken wir wieder an die Liebesaffäre – sicherlich sind die involvierten Parteien zumindest in geringer Hinsicht verantwortlich für einander, denn keine menschliche Beziehung existiert gänzlich ohne Verantwortung. Doch je stärker die Verantwortung der Komplizen wird, desto weniger ist von Komplizenschaft zu sprechen, sondern von Freundschaft oder Kooperation. Um es kurz zu fassen: Je mehr Verlässlichkeit und Verantwortung, desto weniger Komplizenschaft. Diese Tatsache ist sowohl Segen als auch Last der Komplizenschaft.
Segen, da wir uns in einem komplizitären Verhältnis spontan und mutig ausprobieren, Grenzen überschreiten und so an Orte gelangen können, von deren Existenz wir zuvor nichts hätten wissen können. Fluch, da eine Komplizenschaft in desaströsen und fatalen Konsequenzen resultieren kann – sowohl für die Komplizen selbst als auch für die Gesellschaft, die die fragliche Komplizenschaft beherbergt.
Anm. d. Red.: Janina Sombetzki war eine von rund 50 internationalen Gästen der COMPLICITY-Konferenz der Berliner Gazette. Der Text ist eine überarbeitete Fassung des Vortrags, den sie auf der Konferenz hielt – oben im Video-Player in der Live-Aufzeichnung zu sehen (ab Min 26:00). Die umfangreiche Dokumentation der Konferenz (Live-Videos, Graphic Recordings, etc.) findet sich hier: berlinergazette.de/complicity. Die Fotos im Text stammen von Noritoshi Hirakawa.
Servirebbe Coerenza eppure questa società si muove per complicità è un antropologia sociale del comportamento che mi dice” le tribù “sono complici che sia giusto o sbagliato
non importa- importa la complicità nel significato più comune del termine questa complicità genera flussi di economia la “coerenza “provate ad esaminare il significato…
das ist eine sehr gelungene intellektuelle provokation und wunderbar gegen den strich gelesen, was im kanon auf gemeinplatz und harmonie ruht.
Chissà se nel significato “palissiano” è incluso il coraggio
probabilmente la morale lo prevede siamo complici di una comunicazione…