Dass sich die Gesellschaften polarisieren, das mag vor allem ein Wahrnehmungsphaenomen sein. Bislang habe ich keine Statistik gesehen, die das zweifellos belegt. Zeugt der Zweifel daran, ob man nun Teilhaber oder Ausgeschlossener ist, nicht davon, dass viele in einer Maximalmischung leben?
Vor 50 Jahren wusste ziemlich jeder genau, wo die Grenzen waren und auf welcher Seite man stand. Die Mehrdeutigkeit – so unangenehm sie auch sein mag – ist ein Zeichen des Erfolges der Systeme. Das Problem scheint eher, dass wir das genauso wenig wollen. Wenigstens moegen wir nicht, wie es sich anfuehlt. Und dass wir immer an der Gesellschaft rumfuschen muessen, ist wohl auch einer der Standards und eine Form der Gemeinsamkeit. Ist es nun eine Frage des Verlusts der lang beklagten langweiligen Mitte? Enzensberger traf einmal sehr ins Schwarze, als er proklamierte, Deutschland sei die Avantgarde der Mittelmaessigkeit. Vielleicht ist das wirklich eine Errungenschaft, deren Zerfall bedauerlich ist – auch wenn es global interessanter wird.
Jeffrey Sachs hat es uns vorgerechnet: Zwar gibt es mehr Reiche als zuvor – es gibt aber auch mehr Menschen ueberhaupt. Und trotz der Bevoelkerungsexplosion gibt es nicht mehr Arme – weder proportional noch absolut. Aber es gibt aufgrund demokratisierter und auch kommerzialisierter Medien mehr Menschen, die sich lautstark und hoerbar beklagen. Das sollte man begruessen – und nicht als einen quantitativen Beweis dafuer nehmen, dass die Welt schlechter geworden ist. Mag sein, dass die Welt zu Grunde geht. Aber es gibt inzwischen mehr, die daran verdienen und davon profitieren, gerade auch die relativ Armen. Eine Firma kann man aufloesen – Familien sind resistenter. Der Erfolg der Globalisierung ist wirklich unheimlich. Das xenophobische Unwohlsein schafft unheilige, unfreiwillige und unbewusste Ueberlappungen zwischen den Sentimenten der Puerto Allegre-Sympathisanten und George Bushs Instinkten.
Die Fragen, Interessessen und Themen, die man so als Leitgedanken und Werteregister mit sich herumtraegt, sind kulturell eingebettet – das merkt man sehr schnell. Zunaechst scheinen die Fragen und Themen im Ausland etwas andere zu sein. Dann entdeckt man viele Gemeinsamkeiten – um dann hinterher zu sehen, dass die Gesellschaftsmythen doch sehr tief verankert sind und selbst bei einem gemeinsamen Dispositionsduktus die Schichten sich doch an den fundamentalen Mantras und Wertekanons trennen. Da kollidiert und konkurriert dann >Freedom of Choice< mit >Qual der Wahl<.
So mag ein amerikanischer Liberaler nur sehr wenig mit einem sozial-liberalen Politiker [oder Buerger] in Europa gemeinsam haben. Interessant wird es da, wenn man in der Sache und der immanenten Logik zustimmen will, es sich einem aber emotional die Haare straueben. Der Kunsthistoriker Armin Zweite deklarierte die Versoehnung von Mythos und Geschichte als eine der wesenseigenen Aufgaben von Kunst. Jenseits der Kollisionen tauchen Oswald Spengler und Any Rand auf, deren Reigen sich nie wirklich takten laesst. >Shoganai< sagen die Japaner: >Da kann man nichts machen.< Dort also faengt die Arbeit an.
Mangel und Armut – das kann heilsam und herausfordernd sein. Einerseits ist es ja ein Zeichen von gewisser Qualitaet, mit wenig viel zu bewirken, und andererseits keine Kunst, mit fettem Budget etwas >Grosses< auf die Beine zu stellen. Fuer mich hat Kunst auch immer etwas damit zu tun, Dinge moeglichst effizient, sparsam, mager und auch elegant zu machen. Einfachheit ist eine Tugend: Reduktion, Abstraktion, Essenz – ultimativ ist sie ja auch die Grundlage von Sprache und Kommunikation. Selbst >das Schoene< ist eher nicht opulent. Und das Oekonomische muesste demnach doch eigentlich immer auch irgendwie aesthetisch sein… Hier gibt es offensichtlich noch eine Menge zu tun.
Das Gemeinsame im Sinne des Suprapersoenlichen, das war immer Ziel und manchmal auch Methode meiner Arbeit – die Flucht vor dem Ich. Die Hoffnung, im grossen Organismus der Menschheit einen Platz und eine Funktion zu finden, die mich vom Ich-Sein erloest. Wahrscheinlich eine zutiefst Anti-Kuenstlerpersoenlichkeits-Position. Eine Erloesung ergab sich nie. Statt eine Funktion zu finden, sah ich mich mit der Notwendigkeit konfrontiert, alles nochmal anzudenken, bevor ich mit der Suche anfangen konnte. Zum Suchen bin ich bisher noch nicht gekommen.
Die Entdeckung gemeinsamer Referenzen und Ueberlappungen bildete eine der Grundlagen der Refugee Republic. Das Aufzeigen der Gemeinsamkeiten – das sind Hilfen und Bruecken, die eigenen Gesellschaften zu sehen und zu verstehen. Besonders die Entdeckung von Gemeinsamkeiten dort, wo sie nicht vermutet werden, schafft eine Identitaetsueberlagerung, die konstruktiv nutzbar wird. Insofern koennte man eine Einbindung/ein Anknuepfen – ein Fortschreiben/Erleben/Weiterentwickeln der grossen Erzaehlungen der Vergangenheit erhoffen und vereinfachen. Koennen wir uns von den ideologischen Erzaehlungen losloesen?
Ich glaube nicht, dass wir es koennen, muessten oder auch nur versuchen sollten. Aber die Weitererzaehlung und -entwicklung ist extrem wichtig. Dem steht natuerlich unsere Schriftkultur entgegen. Gleichzeitig mag eine mediatisierte, vergangenheitsignorante Gesellschaft Offenheit und Beduerfnis dafuer haben. Die Diskrepanz zwischen tief kodierten und vergrabenen Bedeutungsschaetzen und flachschuerfendem Tageabbau einer ernsthaft konsensbemuehten Gesellschaft koennte allerdings kaum drastischer sein.
Was mich wirklich beruehrt hat, ist der Faktor gemeinsamer Geschichte und Erinnerung. Es scheint, als sei da mehr begraben, als man verbalisieren oder gar diskutieren koennte. Wir haben einerseits die taegliche Realitaet von systematisch unwirtlich angelegten Fluechtlingslagern, die ein Wurzelschlagen der Insassen verhindern soll – was offensichtlich sonst fast automatisch passiert. Andererseits sind der Drang und die Sehnsucht extrem, in die alte Heimat zurueckzukehren. Wie gross dieser Drang ist, kann man sich am Beispiel Hiroshima vor Augen fuehren: Eine Stadt ist praktisch ausradiert. Und das Gebiet ist verstrahlt. Anstatt nun in einer neuen Gegend einen neuen Anfang zu machen, gehen die Ueberlebenden zurueck und bauen die Stadt gegen alle Logik wieder dort auf, wo nur Truemmer und Verwesung, Verstrahlung und boese Erinnerungen warten.
Das macht nur als eine ausweglose Verbundenheit mit der Geschichte Sinn. Und als schicksalhafte Sinngebung durch Geschichte. Eigentlich nur Amerika stuetzt sich als Staat nicht auf die Vergangenheit als raison d’etre. >Manifest destiny< und selbstevidentes Recht [natural law] treten an die Stelle von natio [Geburtsrecht] oder Territorium. Von hier aus laesst sich jenseits des elektronischen Spektrums spekulieren und extrapolieren.