Paradoxien der „Freiheit 2.0“: Wie lässt sich ästhetischer Widerstand aus Big Data formen?

Wie können Vorgänge wie das Sammeln, Speichern und Vernetzen von Daten, die sich unserer sinnlichen Erfahrung entziehen, künstlerisch aufbereitet werden? Die Installation “Freiheit 2.0” versucht, darauf eine Antwort zu geben und das schier Unmögliche, möglich zu machen: Big Data wird sinnlich erfahrbar und politisch zur Disposition gestellt. In zweiten Teil ihres Texts analysiert die Literaturwissenschaftlerin Christa Karpenstein-Eßbach Paradoxien des ästhetischen Widerstands.

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Die Arbeit Freiheit 2.0 des Medienkünstlers Florian Mehnert besteht aus insgesamt vier Teilen. Die ersten beiden Teile “Bewegung im Raum” und “Geschäft, Daten, Werte” habe ich hier eingehend beschrieben. Das dritte Element ist die “Tracking App”.

Daten-Sendung: Smartphone und Tracking-App

Die Beteiligung, die auch hier dazugehört, hat einen anderen Charakter als im Fall der beiden vorigen Elemente. Die Partizipanten konnten eine von Florian Mehnert entwickelte App auf ihren Smartphones installieren. Dieses Zusatzprogramm zeichnet die Bewegungen der Smartphoneträger auf und sendet alle dreißig Sekunden eine Standortmeldung an die zentrale Sammelstelle aller Bewegungsdaten.

Mit der Smartphone-Applikation wird die Grenze zwischen Bewegungen im öffentlichen und solchen im privaten Bereich überschritten, genauer: sie ist gegenüber dem Unterschied zwischen beiden völlig indifferent. Ob ich mich in Küche und Schlafzimmer oder auf dem Sportplatz, in einer Bar oder im Finanzamt aufhalte, mag für mich ein Unterschied sein, ist aber vom Programm des technischen Gerätes her gesehen gleich wichtig oder unwichtig, d. h. im wahrsten Sinne des Wortes gleich gültig. Was aber nicht gleichbedeutend mit wertlos ist.

Es ist nötig, die Wertformen zu unterscheiden. Während ich den Besuch auf dem Sportplatz als Fußballfan außerordentlich wertschätzen, aber auch allein nur deshalb dort sein kann, weil ich jemanden zu seiner Freude begleite, kennt die Applikation kein solch spezifisches Quale des Wertes. Hier geht es um das bloße Registrieren, um das positivistische Sammeln von allen möglichen Daten, so dass mein Alltagsverhalten, wie es in Gestalt meiner Bewegungen erfasst wird, digital verdoppelt wird. Der Wert dieser Daten liegt nicht in einer je besonderen Qualität, sondern in ihrer Quantität, weil sich erst auf ihrer Basis eine Statistik von Vorlieben oder Gewohnheiten erstellen läßt. Warum aber benötige ich eine solche technische Datensammlung, wenn ich auch ohne sie weiß, was meine Vorlieben sind?

Utopie einer freien Technopolitik?

Nun ist diese Frage zu egozentrisch oder, wenn man den Ausdruck bevorzugt, zu individualistisch. Das Smartphone, auf dem ich die Applikation installiert habe, ist zwar mein überaus persönliches Gerät, mir an- und zugehörig und geradezu intim mit meinem Körper verbunden, aber die Installation weist mich darauf hin, dass es einen Ausgang hat, der von mir wegführt zur Zentrale. Vermittels meines Gerätes werde ich vom Datensammler zum Datensender. An dieser Stelle ist an eine alte Medientheorie mit revolutionärem Impuls zu erinnern, die anlässlich des Radios formuliert wurde. Bekanntlich sendet das Radio von einer Zentrale, die in alle Richtungen ausstrahlt und Kollektive zu Empfängern macht.

Dagegen haben Bertolt Brecht und später Hans Magnus Enzensberger eingefordert, dass die Empfänger auch sollten senden können, so dass das Radio demokratischen Absichten zur Verfügung gestellt und das Prinzip der Partizipation verwirklicht wird. Sollte sich mit dem Smartphone die alte Utopie einer anderen, freien medialen Technopolitik realisiert haben? Als Partizipant mit meiner Tracking-App bin ich in der Tat ein Sender, aber das Material, das ich sende, wird in einer Zentrale zu einem Datenkonglomerat verrechnet, das als solches nicht gesendet wird und allein in der Verfügungsgewalt der Verrechner liegt, für die meine Stimme, anders als im Fall des projektierten Radios, nicht zählt; ich bin Sender ohne Mitsprache.

Die App als magischer Kanal?

An eine zweite Medientheorie ist zu erinnern, um dem App-Element der Installation auf die Spur zu kommen. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat Medien, technische Mittel überhaupt, als Verlängerungen und Ausweitungen unserer natürlichen Organe aufgefaßt: das Rad verlängert den Fuß, das Telefon Ohr und Mund, das Fernsehen das Auge und, natürlich, der Computer das Hirn.Man kann darüber streiten, ob es sich so verhält. Wichtig ist etwas anderes. Im Vergleich zu jenen Medien fehlt bei der Smartphone-App die spezifische Referenz auf ein Organ oder einen Einzelsinn, die mit ihr irgendwie transformiert werden könnten.

Relevant sind der Körper überhaupt und die Bewegungen im Raum schlechthin als Informationsträger und -lieferanten, so dass wir von einer medialen Unsinnlichkeit auf App-Basis sprechen können, zumal mich dieses Gerät begleitet, ohne weitere sinnliche Aufmerksamkeit von mir zu fordern. Dieses Smartphone mit seiner App hat mit den alten technischen Medien wenig zu tun, und ob wir überhaupt den Terminus Medium dafür verwenden sollten, wäre der Diskussion wert. Hier fehlt noch ein angemessener Begriff.

Ein Blick auf den Bedeutungsgehalt des Wortes „Applikation“ könnte weiterhelfen. Im Lexikon ist folgendes zu finden: „Applikation: 1) veraltet für Anwendung, Bewerbung, Fleiß, Hinwendung. 2) Verabreichung (von Heilmitteln), medizinisch. 3) Darbringung eines katholischen Messopfers für bestimmte Personen oder Anliegen. 4) Aufnäharbeit.“ Lässt man die Aufnäharbeit beiseite, dann geht es beim Applizieren weniger um einen besonderen, individualisierten Handlungsakt, sondern darum, von etwas, das zur Verfügung steht, nach bestimmten Regeln Gebrauch zu machen, also um Verfahrensweisen. Das trifft auch für ein Messopfer zu, bei dem um des hoffentlich eintretenden Erfolges willen Verfahrensweisen, Rituale einzuhalten sind – sonst funktioniert es nicht.

Auf jeden Fall hat „Applikation“ hier etwas mit einem Opfer zu tun. Schließlich: „Applikation“ in der Bedeutung von Verabreichung verweist darauf, dass nicht ich etwas tue, sondern etwas mit mir gemacht wird, wobei ich davon ausgehen soll, dass dies in meinem Interesse geschieht. Medizinisch gesehen, sollen die Medikamente genau zu meinen Beschwerden passen. Datenmäßig gesehen, soll das, was mir verabreicht wird, genau zu den Daten passen, in denen sich meine Gewohnheiten und Vorlieben niedergeschlagen haben.

Ich darf also hoffen, dass ich aufgrund meiner digitalen Werte auch auf der Basis dieser Daten bedient und behandelt werde. Die App sollte so funktionieren wie die Applikation eines Arztes und das Datensammeln so wie die Erhebung eines Befundes. Anstatt den Begriff des Mediums zu benutzen, wäre wohl besser davon zu sprechen, dass es sich hier um einen technisch-digital implementierten Kurator handelt und bei der zentralen Datensammelstelle um ein Kuratorium. Wozu das Daten-curare gut ist, darauf ist zurückzukommen.

Daten-Sammlung und Aufsicht im „Büro der Freiheit“

Man könnte deshalb das vierte Element dieser Kunstinstallation, das „Büro der Freiheit 2.0“, versuchsweise als Kuratorium bezeichnen. Ein Kuratorium ist eine Aufsichtsbehörde von öffentlichen Körperschaften oder privaten Institutionen. In dem Kuratorium dieser Kunstinstallation finden die einzelnen Elemente von „Freiheit 2.0“ zusammen. Die Laufbahnen auf der Straße bzw. von den Geschäften führen hierher. Die Daten der App-Nutzer werden hier gebündelt und ausgewertet, vor allem aber auch sichtbar gemacht. Die Visualisierung in Computer-Diagrammen mit ihren seltsamen Mustern aus Linien verzeichnet kollektives Bewegungsverhalten, das sich an bestimmten Stellen überschneidet, bündelt oder deutliche Knoten wie bei einem Netz bildet, so dass sich die Orte markieren lassen, die von vielen Leuten aufgesucht werden. Zugleich kann jedes Verhalten auch individuell zugeordnet werden.

Während ich früher davon ausgehen konnte, mich in einer Masse verstecken zu können, sorgt hier die Kombination von Massenerfassung und Personalisierbarkeit dafür, dass ich ein Einzelner bleiben oder werden kann. Man kann dies auch Überwachung nennen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat gezeigt, wie innig Praktiken der Überwachung und der Macht mit der Herstellung dessen, was wir Individuum nennen, verschränkt sind. Dabei ist ein wichtiger Unterschied zu machen. Die Praktiken der Macht, die Foucault in Überwachen und Strafen untersucht hat, zielen auf die Körper der Subjekte, um sie der Disziplinierung zu unterwerfen und ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen. In den Studien zur „Geschichte der Gouvernementalität“ hingegen geht es nicht um Disziplin, sondern darum, dass eine ganze Bevölkerung als Informationsquelle für Steuerungsprozesse zur Optimierung des Einzelnen und der Gesellschaft dient, um das „Leben“ durch seine Erfassung zu steigern, so dass sich die politische und soziale Informationsgewalt der Marktwirtschaft möglichst unbegrenzt erstrecken kann.

Die Überwachung, um die es hier geht, hat sich weit entfernt von Praktiken der Unterdrückung, der Disziplin oder des gewaltförmigen Verhinderns von etwas, weil ihre ganze Sorge darauf gerichtet ist, die Gewohnheiten des alltäglichen Lebens in ihrer ganzen Positivität registrativ zu verdoppeln. Die grundlegende Orientierung von Big Data als einer Machttechnik der Gouvernementalität liegt nicht im Gebiet des Negativen, sondern ist durchweg positiv. Gemeinhin wird mit dem Wort „positiv“ assoziiert, dass etwas gut ist, wie etwa bei dem geläufigen Rat, man solle positiv denken. Die andere, hier wichtige Bedeutung liegt darin, dass aus der Welt der Daten nichts ausgeschlossen, sondern alles in diese Welt eingeschlossen ist.

Dem Kuratorium im „Büro der Freiheit 2.0“ liegt hier ein Problem vor, bei dem es letztlich um das Verständnis von Freiheit geht. Bei der grundsätzlichen Positivität des Datensammelns zählt nichts als Faktizität, das rohe Gegebensein von Tatsachen. Allein diese feststellbare Wirklichkeit hat hier einen Wert, alles andere fällt in das Nichts und zählt nicht. Alle Datenwerte sind Wirklichkeitswerte und haften am So-Sein. Aber bekanntlich gehen Menschen in der Orientierung am bloßen So-Sein nicht auf, sondern darüber hinaus, denn sie können eine Kluft zwischen sich und dem So-Sein eröffnen, sie kennen ein Wollen und ein Sollen. (Wie bei Plessner beschrieben)

In der Welt von Big Data gibt es einen solchen Abstand nicht, er kann nicht einmal gedacht werden, weil es hier nur den Gegensatz zwischen einem Sein als Faktizität und dem Nichts gibt, so dass Faktizität und Wert zusammenfallen, identisch werden.

Zur Freiheit gehört es aber, nicht allein in der Welt der ganz und gar feststellbaren Tatsächlichkeiten angesiedelt zu sein. Freiheit ist nicht in Datenwirklichkeiten gegeben, die kein Geheimnis kennen. Freiheit ist das Recht, versteckt zu sein, sie existiert in der Verborgenheit, im Entzug der Sichtbarkeit. Dem Datensammeln, dessen digitale Unsichtbarkeit mit der Registratur des Faktischen verschwistert ist, steht mit der verborgenen Freiheit eine andere Unsichtbarkeit gegenüber.

Mit dem vierten Element dieser Installation befinden wir uns an einem unsicheren Ort, der dazu provoziert, nach den Beziehungen zwischen Freiheit 1.0 und Freiheit 2.0 und deren jeweiligem Wert zu fragen. Insofern hat dieses Kuratorium eine doppelte Funktion als Aufsichtsbehörde: es ist die Zentrale, in der die 2.0-Datenwelt technisch-materiell zusammenläuft und ansichtig gemacht wird, und zugleich derjenige Ort, an dem die ideelle Dimension in Gestalt der Frage nach Freiheitswerten ins Spiel gebracht wird: Welcher Freiheit gilt die Aufsicht?

Macht – Daten – Leben

Was ist die Logik, die das Datensammeln motiviert und die die massenhafte Bereitschaft erzeugen soll, hier mitzumachen? Die Verschaltung unserer analogen Lebenswelt mit der digitalen der Daten dient – ganz frei von Repression – dem guten Leben, dient der Lebenssteigerung und -optimierung, dem Konsum und Komfort. Ihr Prinzip ist die Durchsetzung des Lebens als Regulativ und oberstem Wert der Verwaltung der Körper und der rechnerischen Planung dieses Lebens. Hier verschränken sich Leben, Technologie und Macht. Foucault hat für diese Durchsetzung des Lebens als Prinzip der Regulation von Bevölkerungen den Begriff der Bio-Politik bzw. der Bio-Macht geprägt.

Er schreibt: „Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung.“ Dass das Leben zum umfassenden Gegenstand des Wissens und der Sorge gemacht wird, ist ein Prozess, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt. Die zitierten Sätze wurden vor vierzig Jahren geschrieben. Bio-Politik gibt es lange vor Big Data.

Mit der universellen Maschine des Computers und dem ebenso universellen 0/1-Code, der alles einlesen, auslesen und verrechnen kann, hat sich aber die materielle Basis der Bio-Macht verändert. Es ist nicht mehr nötig, dass Datenerheber wie im analogen Leben zu den Leuten kommen, um sie zu befragen. Wir sind selbst im Besitz der Geräte, die es, wenn wir sie benutzen, ermöglichen, alles zu erkunden, anzuzeigen und zu entschleiern. Bei Foucault heißt es weiter: „Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann“; einer solchen Politik geht es „um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens“, darum, „das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren“.

Mit unseren allseitig rechnenden Geräten sind wir zu Mitarbeitern dieser Bio-Politik geworden, und dass wir das bereitwillig in Kauf nehmen, hat eben damit zu tun, dass es um unser Leben geht. Wollte man die Frage nach einem möglichen Widerstand gegen eine solche Bio-Politik ins Spiel bringen, so dürfte die erste Erkenntnis darin bestehen, dass es schwierig ist, sich auf das Leben zu berufen, wenn eben dies zum regulativen Prinzip dessen geworden ist, wogegen man sich wendet.

Die Kunst ist von solchen aporetischen Lagen tangiert, aber sie geht darin nicht auf, weil sie Potentiale eines ästhetischen Widerstands entwickeln und mit ihren Mitteln die Erfahrung einer Reibung oder Dissonanz erzeugen kann. Mit der Installation „Freiheit 2.0“ wird uns eine inszenierte Verdopplung von Big Data dort vorgeführt, wo wir sie gemeinhin nicht finden: im öffentlichen Raum. Sie macht das, was wir alltäglich nicht sehen, aber tun, sichtbar, setzt uns auf Spuren des Erkundens und provoziert ein Bewusstsein davon, was unser analoges Leben – zum Datenträger gemacht – mit seiner digitalen Verdopplung zu tun hat.

Diese inszenierte Verdopplung hat darüber hinaus ein ästhetisches Surplus, denn es handelt sich um eine entwendende Verwendung der Elemente, die zur Welt des digitalisierten Datensammelns gehören. Anders gesagt: es gibt hier eine Verfremdung, die genau mit dem arbeitet, was ihr problematischer Gegenstand ist. Wenn es hier einen ästhetischen Widerstand gibt, dann dürfte er darin liegen, dass wir als alltägliche Mitarbeiter der Bio-Politik durch die Beteiligung an dieser interaktiven Installation in dieser unserer Mitarbeiter-Position ein Stück weit ver-rückt oder deplaziert werden. Womit vielleicht jener Abstand von der Faktizität des So-Seins entsteht, der mit zur Freiheit gehört.

Anm. d. Red.: Den ersten Teil des Texts können Sie hier lesen. Der Beitrag liegt in gedruckter Form in der Zeitschrift des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung vor. Das Foto oben stammt von Marc Dalmulder und steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

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