Im Cockpit der Wahrnehmung

Dem Druck der Zeit zu entsprechen – das heisst ja immer konkret: fick mich, ruf mich an, fuell mich aus, rechne, denk nach, kauf mich, fahr mich, nimm mich, mach mich kaputt! Ich begegne diesem Dauerdruck, indem ich einfach morgens total beschleunige und moeglichst schon vor dem Wahnsinn alles erledige. Dann gehe ich an die Isar stundenlang oder in den Englischen Garten- oder beides.

Das sprengt, loescht und erweitert die gaengigen Raum- und Zeitformate. Ich sehe die Enten, die Baeume, den Fluss in souveraener Haltung und richte mich danach. Ich sehe: Es gibt fuer das Wesentliche keinen Zeitdruck. Wenn dann die ersten Jogger kommen, schmerzt es mich zu beobachten, wie sich die Leute in ihre Kopfhoerer und in ihre Koerper verschliessen, wie durchgedreht sie sind und wie sie sich beim angestrengten Laufen in der Natur gegenueber dem Gesang der Sommerboten verschliessen. Ja, Leute weigern sich heute, ihre Umwelt wahrzunehmen. Morgens zwischen fuenf und sechs Uhr auf meinem Landgut aus dem 16. Jahrhundert in der Natur, in den Blumen, in den Tieren, Waeldern, Wiesen, etc., wo ich mich loslassen kann und den Eigenzeiten von Eiche, Buche, Tanne, Pilz, Apfel, Birne, Vergissmeinnicht und Mond hingeben kann – dort habe ich am meisten Weltraum. So viele verschiedene Zeiten und noch unzaehlige viele mehr.

Wie schon Heidegger in >Sein und Zeit< gezeigt hat, sind die Faktoren Raum und Zeit immer sowohl sehr existentiell als auch sehr konkret. Wir koennen heute einsehen, dass alles noch viel existentieller und noch viel konkreter ist, als die Philosophen es je gedacht haben. Meine Forschung zeigt, dass es keinen Sinn mehr macht von einer allgemeinen Zeit und einem allgemeinen Raum zu sprechen. Denn wie wir wissen, hat jedes Lebewesen, jede Pflanze, jede Zelle, jede Handlung eine je eigene Zeit und einen je eigenen Raum, welche sich mit dem Leben entfalten und wieder vergehen. Zeit und Raum gehoeren auch in eine Dynamik, Technik, Epoche. Meine umfangreiche Sammlung von Jahrmillionen alter Ammoniten, antiker Dinge, griechischer und roemischer Vasen und Gemaelde; aber auch eine Sammlung alter Berge erinnert mich mit Reinhold Messner jeden Tag daran wie weitausgedehnt Geschichte gelebt werden koennte. Wir koennten in Aeonen leben [circa 25.000 Jahre], in kosmischen Uhren. Aber wir leben eher wie Eintagsfliegen wo >Jeder Tag eine neue Welt< [Tschibo] sein soll. Meine Forschung zeigt auch wie sehr das Gefuege von Raum und Zeit von unserer persoenlichen Lebensfuehrung und Lebensstruktur abhaengt. Das bedeutet: Fahr ich aufs eher elegische Land? Geh ich in die rastlose Stadt? Nehm ich den schnellen oder den langsamen Wagen, jette ich, jogge ich neben dem Wagen her oder fahr ich auch mal Eisenbahn wieder? Je nach dem verengt oder weitet sich, hebt oder senkt sich, streckt oder rundet sich der persoenliche Weltraum. Wenn ich meinen alten Aston Martin auf 240 beschleunige, wird es etwas eng um mich herum. Enge ist Raum. Schnelligkeit ist Zeit. Beides gehoert zusammen. Wenn ich nun zugleich [nicht gleichzeitig!] - also waehrend der Fahrt - mein Lieblingsgedicht von Friedrich Hoelderlin >Mit gelben Birnen haenget und voll mit wilden Rosen das Land in den See…< bruelle [nicht lese! Nicht ueber Hoerbuch hoere!], wenn ich anschliessend mit der Freundin ganz laut das >Ave Maria< singe im heisser werdenden Hochsommer, dann dehnen sich Zeit und Raum doch wieder insgesamt bis wir glauben - in alle Ewigkeit. Wenn ich aber schwere Kisten mit Buechern, Oekolebensmitteln, oder meine Freundin in die dritte Etage meines Refugiums hoch schleppe, so ist die Wohnung umso weiter entfernt - und es dauert umso laenger, je mehr ich unter der Last stoehne. Das ist natuerlich auch ein Bild dafuer, dass anscheinend unsere raeumliche Ausdehnung abnimmt, je mehr wir unsere Koerper belasten. Deshalb beschweren kluge Leute wie Karl Lagerfeld ihren Koerper moeglichst wenig, um nicht traege zu werden, um nicht plump und stumpfsinnig zu werden und um nicht an irgendeiner Stelle ihres Weltraums wie ein Kaugummi zu kleben oder wie ein Stein zu versinken. Denn es geht um die schwebende Existenz und um das Offenhalten der Welt. Da die Unwissenheit im Umgang mit eigenem Raum und eigener Zeit in der Bevoelkerung heute Krankheiten, Angst, Depression und allerlei Unwohlsein bewirkt, weil die Menschen einfach nicht wissen, wie sie sich selbst und ihren Kindern permanent ihren Lebensraum und ihre Lebenszeit einengen lassen, so verlernen Menschen in groesseren raumzeitlichen Formaten zu leben. Sie verlernen den Langmut, den weiten Atem, die kosmische Erregung, Einklang. Eigentlich muesste das alles schon mal in den Schulen und der persoenlichen Erziehung als Lebensvorbereitung anklingen. Thema: Vom Umgang mit Raum und Zeit. Dank meiner guten Position innerhalb der zeitgenoessischen Gesellschaft kann ich es mir leisten Raumexperimente aller Art durchzufuehren. Ich kann mich zum Beispiel, wie die jungen griechischen Mysten, tagelang in einem dunklen Raum aufhalten, um am dritten Tag das [neue] Licht der Welt [fuer dumme Leser = das alte] zu erblicken in Form einer Kornaehre, eines Korns oder eines frischen Pils. Ich kann schoene Experimente mit meinen Studenten machen. Zum Beispiel empfehle ich einem Studenten, der Hoehenangst hat, morgens einen Melissentee und eventuell [freiwillig] ein Weissbier [auf nuechternen Magen!] zu trinken, bevor wir dann auf den Alten St. Peter steigen mitten in der Stadt, um einen grandiosen Blick in die Umgebung, die Alpen und die Weite der Existenz zu stimulieren. Nachher haben alle viel mehr Zeit.

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