Sie sind vielleicht ueberrascht, ich aber habe akzeptiert, dass unser Planet eine Kugel ist. Es macht mir nichts aus zu schlafen oder Liebe zu machen, wenn andere Menschen etwas anderes tun. Dennoch beruecksichtige ich den Zeitfaktor, wenn ich einen Kollegen in Kanada oder Indien online sehe und mit ihm ein ernsthaftes Gespraech beginnen will: Je nach Tageszeit und Biorhythmus gibt es leichte Unterschiede in der Art, wie wir uns ausdruecken.
Rund um die Uhr fliegen Flugzeuge, werden TV-Programme ausgestrahlt und auch das Internet macht nie Feierabend. Die Bombenexpolosion am 29. September dieses Jahres auf den Malediven, bei welcher zwoelf Touristen [Briten, Chinesen und Japaner] verletzt wurden, wurde vom Wecker eines Handys ausgeloest. Jemand hatte sich die Zeit genommen, eine Waschmaschine mit einem Gaszylinder zu verbinden. Gute [oder schlechte] Ortszeiten bremsen einen oder nageln einen fest, sobald man mit seinem Zeitschiff in entfernten Laendern anlegt.
Der Jet-Lag ist beides, eine Dislokationsstoerung und das Bewusstsein der Komplexitaet der Welt. Letzteres kann man auch als Kulturschock verstehen. In jedem Fall versetzt einen der Jet-Lag in einen unbehaglichen Zustand, welcher seine Ursache in der schnellen Befoerderung hat, die in gewissem Sinne fuer den Homo Sapiens >unnatuerlich< ist. Urlaubszentren sind Vergnuegungsghettos ausserhalb der Zeit. Sie stehen in Beziehung zum Mythos von Eden, dem irdischen Paradies. Moeglicherweise noch aelter ist das klassische Goldene Zeitalter [welches der deutsche Maler Lucas Cranach der Aeltere im 16. Jahrhundert als Urlaubsdorf darstellte]. Wir wollen nicht wirklich wissen, was ausserhalb dieser Enklave geschieht ... damit nicht Aufruhr unser gedankenloses Wohlbefinden stoere. Wenn ich meine Arbeit betrachte, so stelle ich fest, dass die Bewegungskontrolle dramatisch zugenommen hat, ermoeglicht durch neue Technologien. An verschiedenen Arten von Grenzen wird ununterbrochen patroulliert: geographische Grenzen, gesetzliche Grenzen, politische Grenzen, psychologische und Freiheitsgrenzen. Tatsache ist, diese Vorgaenge brauchen Zeit. Flughaefen bieten nur den Inhabern besonders teuerer Flugtickets Aufenthaltraeume zum Schlafen. Der Rest der Reisenden ist zu zwanghaftem Einkaufen verdonnert. >Duty free<, aber nicht >free from duty<. Historisch gesprochen hat sich der Bedeutungsumfang von Mobilitaet stark veraendert und veraendert sich noch immer je nach den Umstaenden. Lange Reisen haben vielleicht einmal Ansehen bedeutet [fuer reiche Haendler, Gelehrte, Entdecker, Pilger, Eroberer, Missionare usw.], aber auch Gram und Schande [fuer Ausgestossene, ins Exil Geschickte, verhungernde Fluechtlinge, Bettler, Migranten usw.] . Heutzutage haengt das Sozialprofil eines Immigranten [ein >Alien< im US-amerikanischen Immigrationslexikon] mehr von seiner Zaehlbarkeit ab, als von seiner Zeitnutzung. Natuerlich ist Freizeit ein Luxus, der wahre Reichtum. Ich habe Warten nie als Zeitverschwendung verstanden. Wenn man schon einmal den Tag an einem afrikanischen Busbahnhof damit verbracht hat, auf die Abfahrt eines Buschtaxis zu warten, nachdem es bereits mit Fahrgaesten vollgestopft ist, weiss man, wie man mit dieser alltaegliche Darbietung umzugehen hat: Es ist, als ginge man ins Theater. Gestern habe ich meinen Webmaster angerufen und ihm gesagt, dass ich ein neues Layout fuer meine Internetseite haben will. Noch waehrend wir telefonierten, gestaltete er es [ihn zu bezahlen, hilft!]. Dann bin ich in mein Auto gestiegen und nach sieben Minuten im Stau stecken geblieben. Es gab eine Involution [das Gegenteil von Evolution] seit wir befluegelte Engel waren. Autos, Zuege und Flugzeuge haben eine neue voraussehbare Welt gestaltet. Wir fahren in den Urlaub, auf Englisch >vacation< von Lateinisch >vaccuum< – die Leere, und wissen genau, was uns erwartet, und sind der schnellen Befoerderung dankbar. Leider verursacht Teleportion, basierend auf molekularem Auseinandernehmen, noch immer unerwuenschte Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Unordnung in den Genen. Daher habe ich mich entschlossen, die Reise selbst zu geniessen, in die Welt des alten Roms zurueckzukehren und die Lari Viales, uralte Strassengoetter, welche den Reisenden vom Jet-Lag schuetzen, anzubeten. [Anm.d.Red.: Der Diaphanes Verlag hat Duccio Canestrinis Buch >Schiessen Sie nicht auf den Touristen< veroeffentlicht.]