Kein deutscher Erzaehler des 20. Jahrhunderts hat so genau beobachtet wie Thomas Mann. Am besten konnte er drei Dinge beschreiben: Menschen, die essen, Menschen, die reden und Menschen, die lesen. Am schoensten sind seine Beobachtungen zu den denen, die lesen. Ein zweifaches Vergnuegen ist die Lektuere, weil man sich als Leser dabei selbst begegnet.
>Er liebte zu lesen< heisst es in >Waelsungenblut< ueber den jungen Siegmund Aarenhold, der immer Appetit hat und niemals Hunger: >Er trachtete nach dem Wort und dem Geist als nach einem Ruestzeug, auf das ein tiefer Trieb ihn verwies. Aber niemals hatte er sich an ein Buch hingegeben und verloren, wie es geschieht, wenn einem dies eine Buch als das wichtigste, einzige gilt, als die kleine Welt, ueber die man nicht hinausblickt.< Und der bon vivant Siegmund Aarenhold ist nicht der einzige junge Leser in den fruehen Erzaehlungen Thomas Manns, der im Lesen keine Erfuellung findet. Es gibt Figuren bei diesem Erzaehler, die aus Gewohnheit lesen, und es gibt solche, die aus Wollust lesen. In der kurzen Erzaehlung >Beim Propheten< geraet [Vor-]Lesen zur boesen Karikatur eines Menschen, der von sich und seiner Lektuere zu sehr ueberzeugt ist: >Der Juenger las eine Stunde; Schweiss perlte auf seiner niedrigen Stirn, seine wulstigen Lippen bebten, und zwischen den Worten stiess er bestaendig mit einem kurz fauchenden Geraeusch die Luft durch die Nase aus, erschoepft und bruellend. Das einsame Ich sang, raste und kommandierte.< Tonio Kroeger ist vielleicht die einzige Figur des jungen Thomas Mann, der Lesen und Leben vereinen kann. Trotz seiner Lebensuntuechtigkeit versucht er dem Leben mit einem >Heroismus der Schwaeche< zu trotzen: zunaechst durch das Lesen, dann durch das Schreiben. Tonio gelingt, was dem reizueberfluteten Siegmund Aarenhold versagt bleibt, naemlich >Nahrung noch aus der letzten Silbe zu saugen<. Zwei der schoensten Saetze ueber das Lesen sind ihm in den Mund gelegt. >Ich las viel, las alles, was mir erreichbar war, und meine Eindrucksfaehigkeit war gross. Jede dichterische Persoenlichkeit verstand ich mit dem Gefuehl, glaubte in ihr mich selbst zu erkennen.< Und ploetzlich ahnt man, woher Thomas Mann selbst seine eigene Beobachtungsgabe nahm: aus Buechern.
Deinem ersten Satz kann man eigentlich nur zustimmen. Keiner hat so genau beobachtet und so ausladend beschrieben wie T.Mann. Fragt sich nur: Was würde Mann heute machen? WÜrde man ihm 20 Seiten über eine Krokodilsledertasche noch verzeihen, wo doch alles am besten auf SMS-Kürze angelegt ist?
Interessant, was Du über Lesende bei Mann beobachtest hast, da habe ich Lust, gleich mal wieder ein bisschen zu schmökern…