>Wuerden Sie mir die Liebe tun und ein Auge darauf werfen?< fragt eine Figur im schwarzen Anzug, mit blassem Schnurrbart und strengem Scheitel, irgendwo zwischen Chaplin und Beerdigung. Sie ist gerade durch die Tuer des eisernen Vorhangs geschluepft und haelt vor sich ein sorgsam zusammengelegtes Kleiderbuendel. Ein sonderbarer Straefling eroeffnet einen Theaterabend zwischen Clownsnummer und Seiltanz, gleich schmatzt, singt, klopft er den beruehmtesten Romanbeginn der deutschsprachigen Literatur ins Mikro:
>Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Boeses getan haette, wurde er eines Morgens verhaftet.< Acht Schauspieler teilen sich in der Dramatisierung von Kafkas >Der Prozess< an den Muenchner Kammerspielen bei Andreas Kriegenburg alle Rollen. Mal ist der Angeklagte ein einzelner und die anderen sind die Richter, meist wird K. siebenfach gespalten, sieben K.s muessen vor dem Gefaengniskaplan im Dom Rechenschaft ablegen, einer nach dem anderen uebernimmt die Rolle des Kaplans. Kriegenburg hat die Gesten sorgsam choreographiert, die Wirkung des Abends steckt im Gegensatz von Genauigkeit und Groessenwahn. Genau wie bei Kafka sind die Figuren hier gefangen in der sonderbaren Logik eines Ganzen, das sie nicht in Frage stellen. Und hinter dem eisernen Vorhang kommt eine von Kriegenburg entworfene Drehbuehne zum Vorschein. Eine zeigerlose Uhr, die fast senkrecht auf den Boden gestellt ist. Wenn sie sich dreht, gehorcht keiner der dort angehefteten Gegenstaende der Schwerkraft - genau wie die Schauspieler, die fast drei Stunden darauf herumturnen. Andreas Kriegenburg bringt Stuecke zum Tanzen, erfindet sie aus dem Geiste des Slapsticks und des Kalauers und laesst sie doch nicht haengen. Seine besten Inszenierungen schweben ein paar Zentimeter ueber dem Buehnenboden, sie gehorchen niemand als ihrer eigenen Zeit. Besonders eindrucksvoll gelang ihm diese Verzauberung mit Stuecken, deren Rezeptions- geschichte sie zu erdruecken drohen wie Borcherts >Draussen vor der Tuer< [1995], Hebbels >Nibelungen< [2005]. Tschechows >Drei Schwestern<, verlieh der Zauberstab des Regisseurs 2006 eine nie gesehene heitere Schwermut. Mit diesem phantastischen >Prozess< hat Kriegenburg jetzt den Germanisten vorgemacht, wie viel Buster Keaton in Franz Kafka steckt und wie intelligent man mit und ueber ihn lachen koennen muss.