Urspruenglich hiess Lesen >einer Spur folgen<. Tatsaechlich ist Lesen so anspruchsvoll wie aktiv: jeder Leser muss die Bedeutung eines Wortes erst entschluesseln - sie steckt nicht schon in den Buchstaben selbst. Denn anders als ein Bild laesst sich Schrift nicht aus sich heraus verstehen. Viermal pro Sekunde huepft unser Blick beim Lesen vor und zurueck, um Zeichen zu einem sinnvollen Satz zu verbinden. Und den versteht man sogar dann, wnen sinee Bthcsauebnrihlngfeoee ddnrinaceeuhr getrean ist. Jahrtausende liegen zwischen den Hieroglyphen der Aegypter und dem Bundesgesetzblatt, ueber alle Kulturen hinweg hat sich die Schrift von den Gegenstaenden emanzipiert. Im Internetzeitalter finden Bild, Ton und Schrift wieder zueinander.
Das multimediale Web-Erlebnis ersetzt das gedruckte Wort allerdings nicht, sondern weist ihm eine besondere Rolle zu. Das Buch ist ein unbestechlicher Zeuge seiner Zeit. Anders als die Wikipedia-Welt kann der Leser es nicht veraendern, kuerzen, manipulieren. Hasst er es, muss er es verbrennen. Lesen kann auch Nachteile haben. Sokrates zum Beispiel war ein grosser Kritiker der Schrift: Lesen hindere am Leben, weil es die lebendige Erinnerung zerstoere. Tatsaechlich ist die Zeichenkette jedes Textes ein Kompromiss: Sie suspendiert die Praesenz des Verfassers wie den Einfluss der Kritiker, laesst die Stimme des Sokrates verstummen wie den Zwischenruf seiner Gegner. In der Schrift ist die Welt eine andere, ganz gleich, wie gut Autoren sie beschreiben.
Doch Lesen hat natuerlich auch viele Vorteile. Wer wuesste von Sokrates – und seiner Kritik an der Schrift – haette Platon nicht seine Worte niedergeschrieben? Erst die Schrift befreite das Wort von der Rede. Nicht auszudenken, der Gedanke stuerbe mit dem Denker. Erst die Entleiblichung des Denkens ermoeglichte die ubiquitaere Fortentwicklung des Wissens: vom tragbaren Buch zum globalen Netz. Die Abstraktion der Schrift ist mehr als aufgezeichnetes Sprechen. Texte geben unserem Denken nicht nur eine ueberdauernde Form, sondern einen neuen Inhalt. In Nietzsches Worten: >Die Schreibwerkzeuge arbeiten an unseren Gedanken mit.<