Lokaljournalismus gilt im Zeitalter des Internet als Goldgrube: Weil das Produkt maßgeschneidert werden kann – von lokalen Gemeinschaften für lokale Gemeinschaften. Aber das Problem besteht darin, dass der Aufwand meistens viel zu groß ist: die Recherche ist langwierig und anstrengend. Katrin Krauß, Diplom-Journalistin und Dozentin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, zeigt Auswege aus diesem Dilemma.
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Recherche wird großgeschrieben. Sie gilt als unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass Zeitungsverleger die Seiten Ihres Lokalteils füllen können. Dabei wissen wir doch alle: Recherche kostet Zeit. – Zeit ist Geld. – Geld haben Verleger nicht.
Also hören wir auf, das mit der Recherche so furchtbar wichtig zu nehmen! Glauben Sie mir liebe Journalistinnen und Journalisten: Es geht auch ohne. Ich zeige Ihnen die Maschen, die Sie brauchen, um mit einem Minimum an Recherche Ihren Lokalteil zu häkeln. Damit das funktioniert, müssen freilich ein paar Grundvoraussetzungen erfüllt sein.
Grundvoraussetzung 1: Mit dem Verleger motiviert wirken
Sie brauchen einen Verleger, der Sie motiviert, am besten, indem er das kleine fröhliche Lied „Wer einspart, steigert Qualität“ anstimmt. Singen Sie mit und fallen Sie ins Fortissimo, sobald der Refrain beginnt: „Wir werden immer besser, jeden Tag ein Stück, wir werden immer besser – das ist verrückt.“ Achten Sie darauf, dass wirklich alle mitsingen – womit wir schon bei der zweiten Grundvoraussetzung sind.
Grundvoraussetzung 2: Kein Idealismus, kein Zweifel
Bekehren Sie Idealisten und Zweifler, also all jene Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die glauben, man könne – ja, mehr noch, man müsse das Lokale besser machen und mehr recherchieren. Machen Sie diesen Zweiflern und Idealisten unmissverständlich klar:
1) Wer recherchiert, hält den Betrieb auf.
2) Von wegen „Wer nicht mehr an sich zweifelt, hört auf, ein guter Journalist zu sein“, wie es einst Herbert Riehl-Heyse uns Journalistenschülern eingeimpft hat – das war einmal. Die Zeit der Zweifel ist vorbei. Basta.
Grundvoraussetzung 3: Die Abonnenten nicht irritieren
Nehmen Sie unbedingt Rücksicht auf Ihre masochistisch veranlagten Abonnenten! Diese Leute bezahlen viel Geld dafür, dass sie sich jeden Tag aufs Neue über ihr Kaasblattl und die Zeitungsschmierer aufregen können. Sie wollen alles besser machen und das zack zack? Vorsicht! Der Schuss kann ganz schnell nach hinten losgehen! Spürbare und allzu plötzliche Änderungen des Gewohnten irritieren masochistisch veranlagte Abonnenten und drücken die Auflage Ihrer Zeitung nach unten!
Grundvoraussetzung 4: Resignieren…
Machen Sie sich klar, wo Sie sich eigentlich befinden! Sie sitzen dort, wo keiner Karriere macht, denn die führt ja bekanntlich über das Lokale.Selbstverständlich wissen wir auch alle, dass das Lokale der Ort ist, an dem Journalisten ihre ersten Schritte tun. Und wie heißt der Ort der ersten Schritte? – Richtig, das ist der Laufstall. Dort sitzen Sie und – Hand aufs Herz – es geht Ihnen doch gut dort.
Sie haben doch jetzt viel mehr Platz als früher, als Sie sich den Laufstall Lokalredaktion noch mit sieben oder acht Kolleginnen und Kollegen teilen mussten. Jetzt sind es nur noch vier oder fünf, aber dafür haben Sie ja jede Menge Spielkameraden auf Zeit; die haben auch Namen, aber weil es so viele und ständig neue sind, heißen die einfach immer nur „die Praktikantin“ oder „der Praktikant“. Die dürfen Sie betreuen. Dafür werden Sie von anderen betreut: Sie sind umzingelt von Erziehungsberechtigten und Erziehungsberatern, die alle dafür sorgen, dass es Ihnen nicht langweilig wird im Laufstall.
All diese Leute, die sich da rund um den Laufstall Lokalredaktion postieren, sorgen natürlich auch für die richtige Wohlfühlatmosphäre, für dieses Klima von Hypernervosität, in dem Aktionismus Ratlosigkeit kaschiert, für dieses Klima ständiger Verunsicherung – werden nun Stellen gestrichen oder nicht? – vermengt mit Resignation, für diese Atmosphäre der Unruhe, in der der Journalismus alle drei Monate neu erfunden wird.
Glauben Sie mir: Sie brauchen das alles, um sich wohl zu fühlen und nicht träge zu werden. Sie brauchen es genauso wie all die Konferenzen – unter drei täglich geht gar nix – in denen Bosse und Halbbosse und Möchtegern-wenigstens-Halbbosse ihre Kreativität wie in einem Blutrausch austoben. Wer all das umsetzen soll, was da so beschlossen wird? – Na Sie natürlich! Und zwar pronto!
So kommt Bewegung in den Laufstall. Wunderbar. Gut, zugegeben: Der Breiteller, den man Ihnen jeweils am Ende des Monats über die Gitter reicht, ist vielleicht nicht mehr ganz so gut gefüllt wie früher, aber doch nicht deshalb, weil der Verleger sich auf Ihre Kosten noch mehr Hummer auf den Teller schaufelt, sondern nur deshalb, weil er es so gut mit Ihnen meint; Sie kennen ja sein Lied: „Wer einspart, steigert Qualität“.
…Und nicht vergessen, dass Experten alles immer besser als wir wissen
Vergessen Sie bitte auch nicht, dass der Verleger viel Geld für Ihre Erziehungsberater bezahlt, also für all die Experten, die Ihnen sagen, was Sie tun müssen, damit Sie den Lesern gefallen.
Wie? Was heißt hier „Bauchgefühl“ und „ich weiß selber, was die Leser wollen“? – Aber hallo! Vergessen Sie das mal ganz schnell! Wir sind doch hier nicht bei der „Landlust”! – Nein, Sie wissen gar nichts.
Die einzigen, die hier was wissen, sind die Experten. Also die, die meist noch nie Journalismus gemacht haben, aber dafür wissen, wie man über Journalismus spricht. Wenn die auftauchen, wird ’s brandgefährlich, denn dann ist der nächste Relaunch nicht weit. Aber bitte: Halten Sie an sich! Verkneifen Sie sich die Frage an Experte X, ob er es nicht war, der den Relaunch der Zeitung Y zu verantworten hat, also jener Zeitung, deren Auflage nach dem Relaunch ins Bodenlose gestürzt ist.
Sparen Sie sich auch Bemerkungen wie: „Wie war das nochmal mit dem Tabloid-Format, ohne das angeblich gar nichts geht?“ oder „War da nicht mal was von wegen: kein Artikel länger als hundert Zeilen – und waren es nicht dieselben Experten, die kurz darauf schon wieder durch die Redaktionen gezogen sind und diesmal so richtig lange Lesegeschichten gefordert haben?“
Wie gesagt: Man kann und darf von Ihnen erwarten, dass Sie den Experten gegenüber auf derlei despektierliche Bemerkungen verzichten. Zeigen Sie sich also bei jedem Relaunch aufs Neue freudig erregt, auch wenn es schon der siebzehnte ist, den Sie mitmachen. Es ist Ihnen ja wohl klar, dass man sich im Laufstall Lokalredaktion anständig zu benehmen hat. – Ist es? Gut. Dann kommen wir nun zu Grundvoraussetzung fünf:
Grundvoraussetzung 5: Content ist hip
Verinnerlichen Sie die Zeitgeistformel „Journalismus minus Recherche ist gleich Content – und Content ist hip“. Er kommt zwar meist ein bisschen zerbrechlich daher, aber schließlich beherrschen Sie ja die Kunst des Layoutens und wissen deshalb, wie man dieses zarte Nichts geschickt verpackt. Und Sie wissen auch: Wer Content gut verkaufen will, der braucht Content-Manager und Redaktions-Manager und Fachleute für „Innovations in Journalism“ und überhaupt ganz viele, ganz wichtige, ganz teuer bezahlte „Business“-Leute.
Das ist ein Arbeitsfeld mit Zukunft und deshalb ist es auch gut, dass Hochschulen sich darum kümmern, den journalistischen Nachwuchs möglichst früh an dieses Feld heranzuführen, also möglichst schon, bevor die jungen Leute verbildet sind und womöglich schon richtige Artikel recherchieren und schreiben können – aber das ist ein Kapitel für sich. . .
Okay, lassen wir es gut sein. Ich gehe jedenfalls mal davon aus, dass all die Grundvoraussetzungen, die ich genannt habe, in Ihrer Redaktion zu großen Teilen erfüllt sind. Sind sie? Schön! Dann zeige ich Ihnen nun – wie versprochen – die Maschen, die Sie brauchen, wenn Sie Ihren Lokalteil ohne großen Rechercheaufwand häkeln wollen.
Masche 1: Fotos sind die halbe Miete – und manchmal auch die ganze.
Je mehr Fotos und je größer – desto besser. Aber bitte: Verkünsteln Sie sich nicht! Schnell-mal-draufgedrückt-Fotos reichen – wozu gibt es denn Bildunterschriften, in denen Sie wortreich beschreiben können, was auf dem Bild leider nicht zu sehen ist.
Sicherer ist natürlich, Sie bestellen gestellte Fotos: Da tummeln sich dann plötzlich zwei Dutzend Kinder in wildem Spiel auf einer sonst stets öde daliegenden Straße, weil Sie dem Leser eindrücklich verklickern wollen, wie gefährlich der Ausbau dieser Straße wäre. Das sieht zwar nur noch leidlich authentisch aus, dient aber Ihrem Anliegen ungemein … Wenn Ihnen all das zu aufwendig ist, dann greifen Sie doch einfach hemmungslos auf Symbolfotos, Archivfotos und Agenturfotos zurück. Wie gesagt: Hauptsache viel und Hauptsache groß.
Masche 2: Terminjournalismus
oder: Wir nehmen, was wir kriegen – und wie wir es kriegen. Eine altbekannte Masche, die immer häufiger angeschlagen wird, weil immer mehr PR-Leute und ähnliche Gesellen nicht nur extra für Sie Events kreieren, sondern Ihnen freundlicherweise auch gleich noch die fertigen Texte dazu liefern.
Masche 3: Ober-schlägt-Unter-Journalismus.
Egal, wohin Sie kommen: Irgendeinen Kommunalpolitiker, Verbandssprecher, Organisator oder sonstigen Wichtigtuer gibt es immer – lassen Sie stets ihn Auskunft geben und sparen Sie sich so die Zeit und Mühe, mit den eigentlichen Akteuren ins Gespräch zu kommen. Das gilt besonders für Reportagen aller Art und für Themen, bei denen Alte, Behinderte, Suchtkranke oder Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt stehen – Sie wissen doch: Die können sich alle eh nicht artikulieren.
Masche 4: Grinsrübenjournalismus.
Wie der funktioniert? Ganz einfach: Umfragen, Umfragen, Umfragen. Von „Mögen Sie Kiwi-Eis?“ und „Wie finden Sie Markus Lanz?“ über „Worauf freuen Sie sich heute?“ bis hin zu „Wie beurteilen Sie Obamas Nahost-Politik?“ geht grundsätzlich jedes Thema. Dazu stellen Sie Porträtfotos, die jede Falte zeigen – mehr Lesernähe geht nicht.
Beliebte, wenn auch nicht mehr ganz taufrische Variante dieser Masche: Sie ersetzen Interviews durch minimalistische Formen, die keinen Rechercheaufwand erfordern und bitten die Befragten zum Beispiel: „Vollenden Sie den Satz: In den letzten zehn Jahren hat der Oberbürgermeister…“ Die Befragten antworten per Mail – Grinsrübenfoto dazu – fertig.
Masche 5: Tamtam-Journalismus.
Verkaufen sie Selbstverständlichkeiten als Ereignis und setzen Sie dieses Ereignis richtig – also am besten in Form einer Serie – in Szene. Besonders beliebte Form: Die Stadtteilserie. Stellen Sie sich dazu circa zwei Stunden lang im jeweiligen Stadtteil vor irgendeinen Supermarkt und warten Sie darauf, dass ein paar Rentner vorbeikommen, die sich beschweren, weil in ihrem Viertel immer überall so viele Autos rumfahren und/oder so viel Müll rumliegt.
Kündigen Sie diesen Recherche-Großeinsatz („Wir sind vor Ort!“) mit mindestens zwei Mehrspaltern pro Viertel an – ein bisschen Statistik vermengt mit ein paar Plattitüden über das jeweilige Viertel reichen – und berichten Sie dann ausführlich und mehrfach über das Ereignis selbst.
Masche 6: Beabsichtigungs- und Ankündigungsjournalismus
oder: Der gute Wille ersetzt die Tat. Wo immer wer ankündigt, in naher oder ferner Zukunft etwas tun, respektive bauen oder gründen zu wollen: Schreiben Sie darüber ausführlich, egal wie unausgegoren die Sache auch immer sein mag. Motto: Spekulieren ersetzt recherchieren. Und fragen Sie besser nie nach, ob das Vorhaben jemals realisiert worden ist! Ersetzen Sie Vor-Ort-Recherche durch aufgepeppte Ankündigungen.
Das geht zum Beispiel so: Kündigen Sie auf einer halben Seite wortreich die Sonderfahrt für Fans des örtlichen Fußballvereins an, fahren Sie aber nicht mit, denn das könnte in Recherche ausarten und am Ende käme womöglich noch eine Geschichte dabei raus.
Masche 7: Setzen Sie Themen – und treten Sie sie breit.
Schreiben Sie über Gefahrenstellen für Radler, am besten als Serie, in der Sie jede Gefahrenstelle einzeln würdigen. Das funktioniert auch mit leer stehenden Läden und ähnlichem, ja sogar mit Pflastersteinen, die zu Stolperfallen werden. Glauben Sie es mir, ich habe es erst gestern gelesen.
Andere Möglichkeit: Suchen Sie ein Thema, das keinen großen Rechercheaufwand erfordert und gut zu bebildern ist und häkeln Sie daraus – Luftmasche an Luftmasche – die Never-Ending-Story. Das funktioniert zum Beispiel wunderbar, wenn in Ihrer Gemeinde neue Parkbänke angeschafft werden – ob drei oder dreißig, lassen Sie sich die Chance nicht entgehen, damit wochenlang die Seiten zu füllen.
Lassen Sie die Leute auf den Bänken Probe sitzen, erst allgemein, dann spezielle Besuchergruppen, Rentner, Einzelhändler, blonde 29-jährige Mütter mit dreijährigen Töchtern und so weiter. Wenn die Wahl auf ein Parkbank-Modell gefallen ist, dann verleihen Sie dem Thema neue Brisanz, indem Sie dezent erwähnen – aber bitte erst jetzt – dass die Bänke aus Tropenholz sind und Ihre Leser fragen, was sie denn davon halten.…
In Ihrer Gemeinde sind gerade keine neuen Parkbänke in Sicht? – Kein Problem, dann greifen Sie doch auf die Masche mit den Wut-, Mut- und Gutbürgern zurück.
Und so geht’s: Bringen Sie drei bis vier Leute dazu, gemeinsam darüber zu plaudern, wie die Stadt schöner werden könnte, erklären Sie die Beteiligten unverzüglich zu wahlweise Wut-, Mut- oder Gut-Bürgern, widmen Sie ihnen mindestens einen Aufmacher, gerne auch mehr. Keine Sorge, das Vorbild macht Schule, die nächsten vier Gut-, Wut- oder Mutbürger sind schnell gefunden!
Masche 8: Pappnasenjournalismus
oder: Wenn wir schon keine jungen Leser haben, sorgen wir wenigstens dafür, dass unsere alten Leser sich ihr kindliches Gemüt bewahren. Pappnasenjournalismus geht irgendwie wie Kindergeburtstagsparty. Schnappen Sie sich zum Beispiel das Maskottchen des Fußballvereins und lassen Sie es „Sagen Sie jetzt nichts“ spielen. Veranstalten Sie – zu Zeiten von Fußball EMs oder WMs – ein Tischkickerturnier.
Kündigen Sie dieses wunderbare Spiel in Form von drei Mehrspaltern an, schreiben Sie dann ausführlich über den Spielverlauf (Fotos nicht vergessen!) Veranstalten Sie ein Kneipenquiz, lassen Sie Eier anmalen, machen Sie einen Tanzkurs mit Kollegen und und und…
Masche 9: Nutzwertjournalismus für Dummies
oder: Wir halten unsere Leser für einigermaßen intelligent und lebenstüchtig und deshalb erklären wir ihnen in Wort und Bild …
…wie man küsst,
…was man an einem Frühlingswochenende machen kann (Radeln, Spielplatz, Grillen),
…was man braucht, wenn man zu einem Open-Air-Klassikkonzert geht (Schal, Bonbons, Operngucker).
Stellen Sie bitte unbedingt entsprechende Symbolfotos dazu (Rad, Spielplatz, Grill bzw. Schal, Bonbon, Operngucker), damit der Leser auch wirklich versteht, worum es geht.
Masche 10: Tagebuchjournalismus
oder: Der Leser interessiert mich nicht, aber ich interessiere den Leser. Also zum Beispiel: Ich und meine Kollegen unterhalten uns darüber, wie wir den Weihnachtsmarkt finden. Das füllt locker eine dreiviertel Seite und erspart lästige Recherche. Wer quatscht schon gerne Fremde an. Oder: mein schönstes Weihnachtsfest – Kollegen erzählen.
Oder: Vor der Jahrespressekonferenz eines großen Automobilherstellers – was mich mit dem Automobilhersteller verbindet. Und wie wäre es damit: Ich und mein Zwilling. Sie finden einen Menschen, der wie Sie selber einen Pferdeschwanz trägt, eine Brille und ungefähr gleich alt ist. Zack, schon haben Sie Ihren Zwilling, schon haben Sie wieder eine halbe Seite in der Wochenendausgabe des Lokalen gefüllt.
Masche 11: Fortsetzungsjournalismus.
Wieso alles Pulver auf einmal verschießen? Halten Sie Informationen zurück, das macht die Sache spannender und erleichtert Ihnen die Arbeit, weil Sie ein- und denselben Artikel, jeweils um eine Information ergänzt, drei bis vier Mal bringen können.
Masche 12: Filialistenjournalismus inklusive Reißbrett- und Teflonjournalismus
oder: Das Lokale global denken und glatt bügeln. Entlokalisieren Sie das Lokale, machen Sie es zum beliebigen Ort – und schon ist jedes beliebige Thema möglich. Also: Denken Sie global, entrümpeln Sie die Fußgängerzone. Raus mit dem provinziellen Mief, den all die kleinen Einzelhändler verbreiten.
Machen Sie Platz für die Filialisten: Greifen Sie zu Themen, die alle haben. Überlassen Sie das Lokalkolorit den Heimatkrimis und der Werbung – die entdecken es nämlich gerade für sich. Handeln Sie stattdessen beim Runterbrechen der Themen nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Themenanregungen liefert zum Beispiel der Newsletter der „Drehscheibe“ – da lernen Sie, was echter Reißbrettjournalismus ist.
Übrigens: Was immer geht, ist der Tag-der-Socke-Journalismus, denn jeder Tag ist ein besonderer Tag: Tag der Putzfrau, Tag des Kusses, Tag des dreieinhalb blättrigen Kleeblattes und so weiter und so fort. Falls Ihnen das alles noch nicht glatt und verwechselbar, synthetisch und steril genug ist, dann greifen Sie zusätzlich zum Teflonjournalismus: gecastet, gedreht, getrimmt, genormt, gepeppt – völlig wurscht wie. Hauptsache, es fühlt sich
1. nicht echt an,
2. es ist mittellang und mittelmäßig und lässt sich bebildern,
3. es bleibt nichts hängen in den Köpfen der Leser und
4. es funktioniert ohne Recherche.
Nur zu!
Na dann, probieren Sie es aus, reihen Sie Luftmasche an Luftmasche.– Wie? Was soll das heißen? Sie haben keinen Bock auf Filialisten, Pappnasen und Grinsrüben? Sie wollen ein guter Journalist sein, einer, der alle, die behaupten, Lokaljournalismus sei langweilig, Lügen straft, „einer der weiß, dass auf einem Quadratmeter Schrebergarten mehr Wunder zu finden sind, als mancher Reporter auf einem Kontinent findet“, wie Henry Nannen mal über Günter Dahl gesagt hat?
Sie schreiben lange Geschichten, weil Sie wissen, dass lang relativ ist und eine gut recherchierte und geschriebene sechsspaltige Geschichte kürzer ist als ein schlecht recherchierter und formulierter zweispaltiger Bericht? Sie sind wild entschlossen, zu beweisen, dass mit ein bisschen sinnvoller Planung des Redaktionsalltags Langzeitrecherche auch im Lokalen möglich ist?
Sie haben sich womöglich entschieden, extrem zu werden? Also nix mehr mit mittellang und mittelmäßig und Schluss mit reportagig statt Reportage? Sie beharren stur darauf, dass die Zukunft des Journalismus Journalismus ist? Sie wollen deshalb Ihren Lokalteil nicht mit Content, sondern mit Journalismus füllen?
Sie wollen recherchieren? Sind Sie sich sicher? – Na bitte, dann tun Sie ’s doch; Sie werden schon sehen, wohin Sie damit kommen: Am Ende macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß!Das haben Sie dann davon. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!
Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt aus den State Library and Archives of Florida. Der Text basiert auf der Eröffnungsrede der Fachtagung von Netzwerk Recherche “Dicht dran- oder mittendrin? Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz” die am 9./10. November 2012 im Hause der Süddeutschen Zeitung stattfand.
Sehr schöner Text. Es ist wirklich schade, dass die Verlage und auch Redaktionen das Lokale so verkümmern lassen. Dabei ist die lokale Kompetenz im Kern die einzige USP, die ein Zeitungsverlag in diesen Zeiten noch hat.
Mich beispielsweise interessiert der Mantel unserer Zeitung hier nicht, denn alles, was darin steht, erfahre ich schon am Vortag aus Fernsehen und Radio. Die Informationen im Lokalen allerdings sind wirklich neu. Kein Radio berichtet hier auf dem Land über das Geschehen im Dorf. Und in der Stadt, Beispiel Berlin, berichtet so gut wie niemand über das Geschehen in den Bezirken. Die meisten Tageszeitungen ignorieren das Lokale oder bereiten es nur stiefmütterlich auf und werden dadurch uninteressant.
Weil dieser Zusammenhang im Grunde offensichtlich ist, werde ich nie verstehen, wieso so viele Verlage genau diese Kompetenz zusammenkürzen:
http://www.thilo-baum.de/lounge/die-wunderbare-welt-der-medien/print-besinnung-aufs-lokale/
Die Kollegin Krauß hat satirisch den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich erlebe die Verluderung des Lokaljournalismus sehr intensiv. Doch es gibt für mich ein außergewöhnliches und sehr kreatives Beispiel wie der Lokalteil lebt in den verschiedenen Lokalausgaben der Neuss-Grevenbroicher-Zeitung (Teil der Rheinische Post-Gruppe). Hier werden die Krauß’schen Thesen praktisch widerlegt – was nichts Schlechtes zu sein scheint.
Diesen Thesen kann man nur zustimmen – leider.
die sprache, die sprache!
danke!
@Thilo Baum: die Thesen von Frau Krauß stimmen ja, aber was Großstädte angeht bin ich nicht komplett mit dir einverstanden. Gestern wurde ich zum Beispiel von 2 Journalisten vom Tagesspiegel Online hier in Berlin in Prenzlauer Berg über die Politik in diesem Bezirk befragt. Aber das ist ja eine Umfrage, was nicht immer für Qualität sorgt …
Reden wir nun vom Tod des Lokaljournalismus oder von seiner Wiedergeburt? Stichwort Hyperlocal Journalism.
http://www.guardian.co.uk/media/greenslade/2012/may/17/hyperlocal-media-digital-media
Hmm, ich finde den Text nicht so wirklich inspirierend, eher etwas zu lang und zu klischeelastig. Ich finde, es gibt soviele tolle Beispiele von neuem und mutigem Lokaljournalismus. Wer immer nur alles schlecht reden will, findet dafür auch viele Beispiele.
Sehr interessant ist übrigens auch der Kommentar von Joachim Braun dazu: https://www.facebook.com/joachim.braun.714/posts/116248531891451
Unerträglich dieser Text: Da schreibt eine übers Recherchieren, ohne recherchiert zu haben. Verbreitet Stammtisch-Propaganda, bedient jedes gängige Vorurteil über Lokaljournalismus – und das aus dem warmen Büro einer gut dotierten “Lehrkraft für besondere Aufgaben” am Journalistikstudiengang in Eichstätt.
Liebe Frau Krauß, ist Ihnen womöglich gar nicht klar, das gerade die Journalistik-Forschung nichts zerreißt und die Praktiker im Stich lässt? Was bringen Sie mit Ihrem Journalistenbild eigentlich Journalistik-Studenten bei? Dass sie besser Taxi-Fahren sollen?
@#10: ich glaube nicht, dass das problem die einseitige sichtweise ist. ich glaube, die autorin bezieht ihre kritik und analyse einfach nur auf eine ganz bestimmte ära des journalismus: das ist die zeit, in der der printjournalismus im niedergang begriffen ist und neben geld, auch qualität nud integrität und ethik des journalismus mangelware werden.
dass in dieser phase auch neue ideen geboren werden, steht auf einem anderen blatt geschrieben. der text müsste dann heißen: thesen über den neuen lokaljournalismus. so bleibt dieser text ein thesen apparat über den alten, aussterbenden lokaljournalismus.
für mich steckt da auch wahrheit drin!
Auch wenn es dem einen oder anderen zu klischeelastig sein mag: Genau dieses Vorgehen (Content, egal woher – am besten noch von anderen Zeitungen und ganz ohne Redakteure) wird doch seit Jahren von der WAZ-Gruppe vehement umgesetzt und damit die noch verbliebenen Leser für dumm verkauft. Bestes und neuestes Beispiel hierfür ist doch die Westfälische Rundschau: Zeitung ohne Redaktion, aber dafür mit “Content”.
@#8: Na ja, sicher kommt es mal vor, dass sich Journalisten fürs Lokale interessieren. Umfragen sind dabei eine ziemlich oberflächliche Art der Berichterstattung.
Ich spreche über die Tendenz. Und die ist: BVV-Berichterstattung in Berliner Tageszeitungen kommt absolut zu kurz, weil die Redaktionen sich zu fein dafür sind. Dass die „Berliner Zeitung“ mal die Berliner „Washington Post“ werden sollte, war ein Meilenstein dieser Ignoranz. Ist eine Weile her, aber der Geist hat sich gehalten. Diese weltfremden Typen wollen alle weltgewandt sein, und vor lauter Arroganz ignorieren sie das Konkrete.
Welche Berliner Tageszeitung schickt denn jedes Mal jemanden in die BVVen? Ich kenne keine. Ich kenne nur Redakteure, die sagen: Aber unsere Zielgruppe ist doch die ganze Stadt! Und so bringen sie das, was die RBB-Abendschau eben auch bringt, nur einen Tag zu spät. Statt zu regionalisieren und im Innenteil eben Bezirke-Ausgaben zu bringen. So wie das jede Regionalzeitung auf dem platten Land eben auch seit 1950 macht.
Pardon:
BVV = Bezirksverordnetenversammlung = Berliner Bezirksparlament
@#12: YES. Aber warum wird der Journalismus Mangelware? Weil Verlagsmanager denken, man könnte Nachrichten so verkaufen wie Katzenfutter. Die Katze frisst gefälligst nur, was man ihr vorsetzt. So denken Zeitungsmanager: Sie würdigen das Lokale nicht, obwohl die Leute genau das lesen wollen. Und wundern sich dann, dass die Auflagen sinken.
Dabei ist das Lokale nirgendwo präsent (bis auf ganz wenige Ausnahmen im Internet) und deswegen genau das knappe Gut, aus dem man ökonomisch etwas machen könnte. Die Lokalkompetenz in Wittstock hat bisher *nur* die MAZ, um mal unsere Gegend hier zu nennen. Hier berichtet sonst keiner aus den Dörfern.
Insofern ist es Unsinn, Lokalredaktionen zusammenzustreichen und den Mantel zu verstärken.
the search is indispensable …. qualquno if I had committed to do research perhaps I would not have … researchers often are not paid have the pleasure of discovery ..
goodbye
@#14: Vielleicht hast du Recht, was den Zeitungen und den BVVen angeht. Ehrlich gesagt kenne ich mich in diesem Bereich nicht gut aus… Aber es gibt in Berlin auch lokale Zeitungen, die nur über einen bestimmten Bezirk berichten…
Wer mit Steinen schmeißt, sollte das letzte Mal nicht vor einer Dekade im Glashaus gesessen haben. Falsch ist es nicht, neu allerdings auch nicht. Eigentlich sogar schon ziemlich alt.
Darf ich für diesen Text bezahlen? Bitte, bitte!
Sagen Sie mal, woher wissen Sie denn wie es bei uns in der Redaktion zugeht? Ich finde es einen Skandal, dass hier so unverblümt Interna breitgetreten werden. Die ganze Welt ist voller Ersatz und Lightprodukte, warum soll das vor der Zeitung halt machen. Es geht auch ganz ohne Recherche. Wozu den Leser mit unnötigen schweren Inhalten belasten? Er hat es doch schwer genug. Dafür bieten wir das auf immer mehr Seiten, von wegen mehr Content.