Muss lesen: Unstillbarer Hunger auf Geschriebenes

Was passiert, wenn der Hunger auf Geschriebenes sich von gedruckten Erzeugnissen wie Büchern, Zeitungen, Magazinen und Comics löst? Und im Zuge dessen unstillbar wird? Susanne Lederle weiß davon zu berichten.

Ich habe eine Zwangsneurose – und zwar Lesen. Nicht dass nun eine dieser Tiraden folgen soll, die eigentlich nur sagen wollen, wie begeistert man von sich selbst ist, dass man bei hochgeistigen belletristischen Genuessen in Entzueckungen und Entrueckungen zu geraten in der Lage ist, aber stattdessen lieber kokett behaupten, derartiges niveaubetref- fliches Abheben von der gemeinen Masse koenne ja nicht gesund sein, um die schnoede Eigenschulterklopferei zu vermeiden. Nein, ich rede von nichts als reinem Zwang. Nicht davon, gerne und viel zu lesen, Buecher, Zeitungen, Magazine, Comics oder was es naechste Woche billig bei Aldi gibt. Denn ob nun sinnvoll oder nicht, hier handelt es sich immerhin um Informationsaneignung.

Ich spreche vom Zwang, alles und jedes, was irgendwie lesbar ist, lesen zu muessen. Sitze ich alleine vor einer Tasse Kaffee und ich habe jede Zeitung in Umkreis von hundert Quadratmetern schon gelesen und kein Buch dabei, fange ich an, die Inhaltsstoffe der Milchpackung zu lesen. Nicht weil es mich interessierte, die Information findet auch nicht wirklich Eingang in mein Gehirn. Die Raucher-muessen-nur-was-in-den- Haenden-haben-Theorie ist eins zu eins auf meine Sucht uebertragbar: Mein Hirn muss Buchstaben zusammenfuegen koennen. Selbst wenn ich in der U-Bahn sitze, ein Buch oder eine Zeitung dabei habe, aber keine Lust zu lesen, lasse ich Buch und Zeitung in der Tasche, fange aber unverzueglich an, Plakate zu lesen, welche Senioren mit welcher Art von Guertelrose nun wieder als Probanden gesucht werden. Und zwar das ganze Plakat, ohne hinterher irgendetwas darueber zu wissen.

Mein erster selbstgelesener Satz mit gerade vier Jahren stand an der Tiefgaragenwand des oertlichen Rewe: >Das Laufenlassen der Motoren ist untersagt.< Meine Mutter fand schnell heraus, dass dieses Wunderkind zwar tatsaechlich lesen konnte, aber weder die kognitive Faehigkeit besass, zu verstehen, was es da las, noch auch nur Interesse daran zeigte. Was heute auch immer diesem selbstzweckdienlichen Lesen zum Opfer faellt, Haarwuchsmittelwerbung, Wohnungsanzeigen in Stuttgart oder Hausordnungen in fremden Mietshausfluren, ich rede mir ein, dass ein gewisses Interesse an den mich umgebenden Zeichen doch ganz gesund ist und die ein oder andere dabei gewonnene Information bestimmt doch in meinem Unterbewusstsein schlummert, bis sie mir einmal das Leben rettet oder den Nobelpreis einbringt.

4 Kommentare zu “Muss lesen: Unstillbarer Hunger auf Geschriebenes

  1. .. von mir, liebe Susanne, bekommst Du jetzt schon einen Preis für deine Satzlängen verliehen, welche Kafka rot vor Neid hätten werden lassen und mir ein grinsendes Schmunzeln entlocken. :D
    Ich kenne aber, was Du schreibst – leider nur bleibt bei mir manchmal auch dann beim Lesen nichts hängen, wenn es sollte.. .

  2. Ich weiß ganz genau wovon du redest, ähh schreibst, Susanne! Wir könnten eine Betroffenengruppe einrichten. Es gibt aber noch eine Steigerung: Ein Freund von mir muß auf Autobahnfahrten nahezu jede Aufschrift, jedes Schild, jeden zu erheischenden Buchstaben laut vorlesen. Das nervt ganz schön und stört mich vor allem empfindlich bei meinem eigenen, Gottseidank stummen Mitlesen und buchstabieren….

  3. @Sebastian: Na, was Kafka neidisch gemacht hätte und dich immerhin noch schmunzeln lässt, muss ja eine Leistung sein;)
    Und von der Eingangsquote gewollten Lesestoffes in mein Hirn habe ich ja vorsichtshalber gar nichts geschrieben…

    @Joerg: Betrachte die Selbsthilfegruppe als so gut wie gegründet, aber nur, wenn dein Freund nicht mitmachen darf! Das ist ja mal nervig, wenn der das auch noch alles laut lesen muss. Was ist das, Lese-Tourette?!:)

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