Als die Mauer fiel, war ich weit weg, so weit, wie es die Geografie moeglich macht: in Australien. Dennoch habe ich starke Erinnerungen an den Tag und die Tage danach. Nach zwanzig Jahren, in denen ich in New York und Berlin gelebt habe, stellt sich beim Anblick der Bilder vom November 1989 mein australisches Gefuehl von damals ein: eine Erinnerung, als ob ich in Berlin dabei gewesen waere, aber dies Gefuehl von Teilhabe ist vermischt mit Bildern, die nicht dazu passen: australische Sonne, blauer Himmel ueber Sydney und ein Seminarraum, in dem ein Surfbrett in der hinteren Ecke steht. Am Tag nach der Maueroeffnung erschien der >Sydney Morning Herald< mit einer riesigen Ueberschrift: >Towards a Fourth Reich?<. Noch nie war die Zeitung, die ich seit ueber zehn Jahren gelesen hatte, mit einer so grossen Ueberschrift erschienen.
Gar nicht dazu passen wollten die Fotos, die der >Herald< in dieser Ausgabe und an den folgenden Tagen druckte: lachende Menschen am Brandenburger Tor, tanzend oder auf der Mauer, Sektflaschen schwenkend. Dann kamen Bilder der Besucherstroeme von Ost nach West, der Trabbiprozessionen, ueber die Australier staunten und lachten. Diese Bilder ueberlagern sich in meiner Erinnerung zu einem Bild. Es wird begleitet von der Erinnerung an Emotionen, verstaerkt durch Telefonate aus Deutschland, meist erfuellt vom Bewusstsein eines historischen Augenblicks. Meine Gefuehle, ich kann sie leicht zurueckrufen, waren gemischt aus unglaeubigem Staunen und Freude, versetzt mit einem Schuss Zorn ueber Assoziationen, die in vielen Medien und nicht allein in der Zeitungsueberschrift geweckt wurden. Ich hatte damals ueber zehn Jahre in Sydney gelebt und an einer Universitaet deutsche Literatur und Kulturgeschichte unterrichtet. >Deutschland seit 1945< war eine Ueberblicksvorlesung mit Seminar, regelmaessig angeboten und von vielen Studenten belegt. Die Studenten wussten wenig aber waren neugierig und fragten viel. Die Teilung verstanden sie nicht, sie blieb abstraktes Wissen. Eine Mauer mitten durch Sydney konnte sich niemand vorstellen. Ich hatte stets Gastreferenten eingeladen: Journalisten, durchreisende Professoren, mal einen Bundestagsabgeordneten und immer den Generalkonsul der BRD [Sydney] und den Botschafter der DDR [Canberra]. Alle Themen der politischen Gegenwart machten die Atmosphaere gespannt, besonders in Anwesenheit von Politikern und Diplomaten. Mauer und Teilung nahmen in dieser Umgebung etwas Unwirkliches an. Sie konnten nicht behandelt werden ohne den Rueckgriff auf die Zeit vor 1945. Das bedeutete weniger den Zweiten Weltkrieg als das Dritte Reich und den Holocaust. Viele der Studenten waren Kinder oder Enkel juedischer Immigranten aus Deutschland und Oesterreich, von denen einige sich gegen den ausdruecklichen Wunsch ihrer Eltern mit deutscher Geschichte beschaeftigten. Sie waren nicht von purer Liebe zum Gegenstand geleitet, Neugier und Abwehr mischten sich, und ihre Fragen waren oft bohrend. Viele Studenten verbrachten ein Semester in Deutschland und kamen fast ausnahmslos begeistert zurueck. Aber fuer viele war Deutschland nun noch unverstaendlicher als zuvor. Sie fanden es unmoeglich, die Absurditaeten der Teilung, der Mauer, Erlebnisse mit der Volkspolizei und Grenzkontrollen, wenn sie mit deutschen Freunden und Freundinnen nach Berlin gefahren waren, mit den Menschen zusammen zu bringen, die sie in der DDR getroffen hatten, mit ihren Gespraechen und einer grossen Herzlichkeit, die sie etwas altmodisch und sehr liebenswert fanden. So viel Staat, Polizei, Militaer, Autoritaet, Beklemmung und so viel Waerme und Freundlichkeit des Alltagslebens. Fuer Australier, denen weniges so wichtig ist wie Gelassenheit, >relaxed< ist das Lieblingswort, blieb dieser Widerspruch unverstaendlich. Und dann kamen die Bilder vom Mauerfall und den feiernden Deutschen, in den Zeitungen, im Fernsehen, wochenlang, jeden Tag, wenn mich die Erinnerung nicht taeuscht. Friedlich, heiter und zukunftsfroh. Und die Mauer war nun bunt. Zum ersten Mal stellte sich Entspannung ein, wenn vom Deutschland der Gegenwart die Rede war. Gefuehle von Befreiung und Heiterkeit, die sich in Deutschland nur kurze Zeit hielten und vom komplizierten Alltag der Vereinigung bald verschluckt wurden, wie ich selbst aus der Distanz bemerkte, hielten hier an. Fuer die Studenten war aus der Entfernung das Komplizierte des Alltags nicht leicht zu erkennen. Vielleicht wollten sie es nicht sehen, sondern sich endlich ihren positiven Erinnerungen uneingeschraenkt hingeben, die Entspannung spueren, Erwartungen an die friedliche Zukunft ausmalen und den naechsten Besuch in Berlin ohne Mauer planen. Irgendwann kam auch die Frage auf, was das Ende eines Staates und des Kommunismus eigentlich fuer die Zukunft bedeute. Konnte es nur positive Wirkungen haben? Das glaubte keiner der Studenten. Aber vorherrschend war das Gefuehl von Erleichterung. Zum ersten Mal waren Gespraeche ueber Deutschland >relaxed<. Aber eine skeptische Frage entstand nun und wurde haeufig ausgesprochen: Was wird aus den Menschen der untergehenden DDR, aus der Freundlichkeit und der altmodischen Waerme? Werden sie alle so wie die im Westen? Aus dem geographischen und mentalen Abstand stellte sich in Sydney damals die Frage, die nach zwanzig Jahren in Deutschland gestellt wird. Werden alle Unterschiede verschwinden? Sollen alle Unterschiede verschwinden?