Das Abstrakte wird gerne kulturkritisch verdaechtigt, die sozialen Bande zu durchtrennen und alle Beziehungsverhaeltnisse der Logik des Tauschwerts zu unterwerfen. So als ob die sozialen Bande von Familien und feudalen Ordnungen nicht selbst schon abstrakt genug waeren und die Konkretheit von abhaengigen Nahverhaeltnissen etwas irgendwie Besseres darstellen wuerden als die Tauschwerte. An ihnen weiss man wenigstens, was man hat. Insofern hat Dietmar Dath zweifellos Recht, dass es auf genau die Bande[n] ankommt, die solche Konkretheit ueberschreiten helfen.
Fuer eine Politik der Freundschaft also? Die besondere Freundschaft als Rettung des Abstrakten vor den Niederungen des Konkreten, des Brauchens und Gebraucht-Werdens? Irgendwie erscheint mir dann doch jeder Rueckblick auf die eigene Jugend als zu verdaechtig, um daran das Abstrakte und Konkrete mit dem Gemeinsamen und Eigenen, mit Tausch- und Gebrauchswerten in eine einheitliche und logische Verbindungslinie zu stellen. Das mythisierte Narrativ der eigenen Entwicklung, die sich am Abstand, den man zu jenen primitiven Wurzeln zurueckgelegt hat, ebenso bemisst wie an der Abstraktionsleistung, die diesen begruendet, liegt allzu nah am rebellischen Kitsch.
Die Idee einer solchen Abstraktionsleistung bestimmt nach wie vor die symbolische Form metropolitaner Intellektualitaet, sich wie Muenchhausen aus eigener Kraft – und auch die Wahl des richtigen Milieus ist bereits ein Zeichen solcher Kraft – aus dem symbiotischen Sumpf der familialen Zwaenge, dem Urbild jeder Knechtschaft, herausziehen zu koennen. Was waere daran antioedipal? Ich kann es nicht erkennen. Das Schweigen der Kiffer und die Geschwaetzigkeit der Saeufer waren jedenfalls nie weniger abstrakt und ritualisiert als die rigiden Normen des Familienlebens, die Anforderungen des Clans mit ihren exklusiven Ethiken von Zugehoerigkeit und Anpassung.
Vielmehr gingen die Bruchlinien mitten durch die Milieus und stets war es ein Kampf um ein wenig Individualisierung, ein wenig Autonomie, ein wenig Abweichung, bei dem es darum ging, der gnadenlos reproduktiven Konsequenz jedes dieser Milieus zu entkommen und sie, wenn moeglich, gegeneinander auszuspielen. Der Familienclan bot zum Teil sogar bessere Moeglichkeiten der Differenzierung, akzeptierte und unterstuetzte diese teilweise eher als die allzu gleichfoermigen jugendkulturellen Milieus. Und selbst die in einzelnen Lehrern verkoerperte Autoritaet ermoeglichte Identifizierung oder Konflikt, die auf unterschiedliche Weise den Vorgang der Abstraktion befluegeln konnten.
Natuerlich gab es da die besonderen Freunde, doch die lange gehaetschelte Front >Wir gegen die, wir von Grund auf rebellischen Subjekte gegen alle stumpfsinnigen Autoritaeten< verliert in der Rueckschau nahezu alles an Ueberzeugungskraft. Vor allem waren es nicht einzelne Themen, an die sich spaeter konkret anknuepfen liess, sondern sehr spezifische Erfahrungen: naemlich das Aushalten von Konflikten und das Akzeptieren von Andersheit als Ausgangspunkt, gelegentlich auch selbst anders sein zu koennen.
Zweifellos konnten die Saeufer- und die Kiffermilieus mit all dem verquasten Unsinn, der hier verzapft wurde, im Familienkontext dissident und abstrahierend wirken, obwohl sie in sich konkret und elend genug waren. Das heisst im Wesentlichen, dass die Abstraktionsleistungen stets kontextabhaengig waren und erst in ihrer Wechselseitigkeit Perspektiven aufwiesen. Aehnliches gilt fuer die Erfahrung von Armut. Nicht das jugendkulturelle Milieu, etwa die hippieske Idealisierung franziskanischer Gemeinschaft liess einen aus den vermeintlichen Sicherheiten familaeren Alltags aufschrecken, sondern das Gewahrwerden konkreter sozialer, gleichzeitig ethnisierter Differenz, insbesondere durch die Konfrontation mit jenen Formen von Arbeitsmigration, wie ich sie innerhalb des weiteren Familienkontexts erlebte. Armut wurde dabei als reines Stigma sichtbar, als ein Bild, das untrennbar als gewissen Personen und Laendern zugehoerig erschien.
So erschreckend dieses Bild nun war, so war es doch als Bild eben mit den anderen verknuepft, so dass sich daraus immer auch eine Bestaetigung der eigenen Existenz, wenn auch irgendwie schuldbeladen, ableiten liess. Kontextabhaengig erscheint mir die Erfahrung von Armut bis heute, vor allem jene relative, der westlichen Welt inhaerente Armut, wie sie einerseits als mehr oder weniger phantasmatische Bedrohung jeder prekaeren Existenz spuerbar ist – dabei ebenso abschreckend wie stets auch motivierend wirkt, doch an den Erfolgsversprechen dieser Welt teilzuhaben – und andererseits als ein Wissen um jene >absolute< Armut, jenen realen Formen des Leidens an Hunger und Verelendung, an der sich mit Recht immer wieder die Frage entzuendet, ob sie der westlichen Welt wirklich aeusserlich anhaften oder als Ausbeutungs- bzw. Ausschlussverfahren nicht eben doch inhaerent sind. Allein der Blick auf diese Armut reproduziert das Privileg, durch die Moeglichkeiten des Reisens etwa, von ihr nicht betroffen zu sein.
Deswegen liegt das Problem, Armut aus kulturwissenschaftlicher Sicht adaequat zu adressieren, darin, dass sie dort, wo sie sichtbar wird, immer schon als medial oder performativ inszenierte Armut erscheint. Das heisst, sie wirkt nicht nur erschreckend und bemitleidenswert, sondern gleichzeitig verdaechtig manipulativ, im Dienste bestimmter Interessen stehend. Insbesondere der Gestus des Fuersprechens laesst die Armut leicht als substanziell anders, naemlich unartikuliert, hilflos oder kindlich erscheinen – jenem stigmatisierenden Bild vergleichbar, dass sich mir als Jugendlichem als so naheliegend aufgedraengt hatte. Die Konvergenz des medialen und des inneren Bildes der Armut ist tatsaechlich unheimlich. Nicht selten reproduziert sich dieses stigmatisierende Bild dabei gerade in dem Bemuehen, die Armut auch in Zukunft auf Distanz halten zu koennen. Deshalb ist es auch so schwierig, sich zu Armut konkret und politisch zu verhalten, und deshalb bietet die schuldbewusste Existenz ein offenes Einfallstor fuer das Marketing des schlechten Gewissens. Dieses Bild zu bekaempfen setzt voraus, das anzuerkennen, was es hinsichtlich des Gefuehls der eigenen Privilegiertheit, wenn schon nicht an oekonomischem, dann doch an kulturellem oder sozialem Kapital leistet, und die damit in die je eigene Geschichte eingeschriebenen Widersprueche zwischen konkret sozialen und abstrakt theoretischen oder aesthetischen Aspekten auszuhalten.
Dementsprechend kann auch das Gemeinsame nicht im emphatischen Sinne einer kollektiven Schliessung eines bestimmten Milieus verstanden werden, an der sich alle politischen und psychischen Beduerfnisse saettigen liessen. Ganz im Gegenteil, das Gemeinsame setzt die Anerkennung von Differenz immer schon voraus. Sichtbar werden kann es ueberhaupt erst als Problem der Zuordnung von Unterschieden. Welche Ueberschneidungen von welchen Mengen definieren das Gemeinsame und was bleibt dabei aussen vor? Was waere dieses Nicht-Gemeinsame, das Andere und Nicht-Zugehoerige? Welchen Platz kann es innerhalb politischer Repraesentation einnehmen? In jedem Fall erscheint das Gemeinsame als Prozess der Herstellung von Gleichheit und Zugehoerigkeit und als solches ist es nur ueber die Definition des Nicht-Zugehoerigen zu haben.
Es reicht also nicht, das Gemeinsame nur >positiv< definieren zu wollen. Das war etwa das Problem des Kommunitarismus in den 1990er Jahren. Es erscheint mir jedoch genauso abwegig, die Ausschlussfunktion derart zu essentialisieren, dass das Gemeinsame gar nicht mehr gedacht werden kann. Vielmehr kommt es daher darauf an, konkret Gemeinschaftliches und abstrakt Gesellschaftliches, wie schon Max Weber betont hat, nicht als Gegensaetze, sondern als durchaus unterschiedliche, jedoch stets miteinander verknuepfte Formen der Herstellung von Gemeinsamkeiten zu denken. Gerade der Spielraum zwischen dem abstrakt-universellen Anspruch auf Zugehoerigkeit und den konkret-kulturellen Formen von deren Aushandlung definieren das Gemeinsame als politische Arena, als letztlich nicht versoehnbare Streitkultur.
Eine noch so differenzierte Vorstellung von Freundschaft reicht allerdings nicht aus, um hierbei auch das Andere, Fremde oder Feindliche als letztlich integralen Bestandteil des Gemeinsamen zu verhandeln. Die Frage ist vielmehr, wie Differenzierungen, Abgrenzungen und Ausschluesse reflektiert werden koennen als notwendige Bestandteile eines >komplexen Gemeinsamen<, und in welchen Operationen sich eine >Kunst der Trennung< [Michael Walzer] entwickeln laesst, die einem solchen Anspruch gerecht werden koennte. Voraussetzung hierfuer waere zweifellos erst einmal die Anerkennung der Funktion des Ausgegrenzten fuer die Herstellung des Gemeinsamen. Mit anderen Worten: Nicht wie sich Gemeinsamkeit als abstrakte oder konkrete Utopie gegenueber einem rein atomisierten und konkurrenten Individualismus beschwoeren laesst, ist von Interesse, sondern was wir als vielfaeltig sozialisierte Akteure immer schon mit ihr anstellen, nach welchen Kriterien wir sie gleichermassen exklusiv wie inklusiv organisieren und wie wir, inmitten zunehmend instabiler Gemeinschaften weiterhin mit ihr umgehen wollen.
Denn die Flexibilisierung des Gemeinsamen in den online communities, patchwork Familien, ebenso freundschafts- wie arbeitsbasierten Szenen und Milieus mit all ihren vielfaeltigen interkulturellen Bezugnahmen schafft zwar keineswegs die grundlegenden polaren Strukturen von Eigenem und Anderem, Individuellem und Kollektivem ab, sie laesst sich gleichzeitig jedoch als Chance begreifen, dass die Auseinandersetzungen um die Strukturen und Formen des Gemeinsamen nicht mehr aufgeschoben werden koennen.