Zeiten der Völlerei: Wofür lohnt es sich zu leben?

Armut und Reichtum stehen sich in unserer Welt auf perverse Art und Weise gegenüber. Haben wir unseren Konsum überhaupt noch im Griff? Der Journalist Tobias Lentzler geht der Völlerei in unserer Zeit nach. Und fragt: Wofür lohnt es sich zu leben? Ein Plädoyer für das richtige Maß der Dinge und die Rückkehr zu uns selbst.

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Klein und fast unscheinbar, so stellt sich der Philosoph Robert Pfaller einen “lohnenswerten Lebensmoment” vor. Die gesellschaftliche Individualisierung habe uns des Genusses eines Moments beraubt, so Pfaller. Dabei seien Momente wichtig, in “denen das Abenteuer Leben Pause macht”. Nur wenn wir solchen Momenten eine eigene Bedeutung beimessen, können wir das Leben genießen.

Maßvoll, aber mit gedoppelter Vernunft sollen wir nach Pfaller genießen. Die einfache Vernunft, in der wir heute leben, sei gar keine wirkliche Vernunft, so der Philosoph. “Momente kindlicher Unvernunft” nennt Pfaller hingegen die gedoppelte Vernunft und verzeiht einem Menschen selbige. Auch Epikur beschreibt eine Art der gedoppelten Vernunft: “Es gibt auch im kargen Leben ein Maßhalten. Wer dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie derjenige, der in Maßlosigkeit verfällt.” Nach Pfaller ist das “Ab-und-zu-maßlos-werden” also notwendig, um zu fühlen, wofür es sich zu leben lohnt. 

Epikurs Philosophie

Epikur allerdings war der Meinung, dass sich das Leben in zwei grundsätzliche Sinneswahrnehmungen einteilen ließe – den Schmerz und die Freude. Ziel des Lebens sei es den Schmerz zu tilgen und die Freude – im Wissen um die Einmaligkeit und Endlichkeit seines eigenen Lebens – zum Ziel aller Empfindungen zu machen. Dies ist nach Epikur allerdings nur möglich, wenn man sein Leben maßvoll und genügsam führt. Prasserei und Völlerei, Trinkgelage und überbordenden Luxus verachtete und verurteile er. Trotzdem legten viele Anhänger seine Philosophie nach seinem Tode dergestalt aus.

Ein bisschen Epikureismus könnte unseren überschnellen Zeiten, in denen sich Armut und Reichtum auf das Perverseste gegenüberstehen, gut tun. Epikurs Philosophie entstand in einer Zeit, als Athen seine Macht als Stadtstaat verlor und die freien Athener Bürger ihre Rechte einbüßten. Die ständige Angst vor neuer Schikane und göttlichem Zorn veranlasste Epikur dazu seine Theorien von Göttern unabhängig zu machen (diese verlebten ihr Leben in völliger Glückseligkeit in der Zwischenwelt ohne die Menschen zu beeinflussen oder zu strafen) und nur das eigene Wohl eines jeden Einzelnen in den Mittelpunkt zu rücken.

Das „Sich-von-der-Angst-losmachen“, das Streben nach Freude durch die Erkenntnis der Welt und die Loslösung aus gesellschaftlichen Zwängen, bildeten das Zentrum von Epikurs Philosophie der Freude. Heute könnte sie wichtiger sein denn je. Über uns allen schweben Ängste – Verlustängste. Wir befürchten Krisen, Kriege, Katastrophen, die Entwertung unseres Geldes und den Verlust unserer hart erarbeiteten Lebensqualität.

„Wir sind uns nichts!“

Unsere zornigen Götter mischen noch immer unsere Gemüter auf; nur ihre Gestalt hat sich gewandelt. Komfort und Entertainment sind uns alles – wir sind uns nichts. Eine zunehmende „Über-Medialisierung“ unserer Gesellschaft führt uns in eine gewisse Ahnungslosigkeit über unseren aktuellen Zustand. Horaz berühmt gewordenes „Carpe diem“ (lat. „Pflücke den Tag!“) ist heute nicht mehr als ein Kalenderspruch.

Das alleinige Denken in Wirtschafts- und Gesellschaftskategorien macht uns unempfänglich für Momente lohnenswerter Lebensäußerungen. Seien dies das Beieinandersitzen bei einer Tasse Kaffee, ein drittklassiger (und in verschiedener Menschen Augen erstklassiger) Sonnenuntergang oder das Lesen eines guten Buches. Hier treffen Epikur und Pfaller wieder zusammen: Mit ein bisschen Anstrengung lohnt sich das Leben.

Inspiration für das lohneswerte Leben

Ob nun Epikur recht hat, der die geistige Freude als eine individuelle definiert, oder Pfaller, der unsere Geselligkeit und damit die Empfänglichkeit für authentisch Lohnenswertes wieder erstarkt sehen will, bleibt in meinen Augen einem jeden Leser überlassen. Philosophien sind nie ein Zwang und müssen sich auch nicht immer einem Masseninteresse beugen – sie sollen uns nur inspirieren. Und in diesem Falle inspiriert uns die Philosophie zu einem freudvolleren, lohnenswerten Leben mit Maß und Genügsamkeit!

Vielleicht ist gerade die Fähigkeit zwischen Schmerz und Freude unterscheiden zu können die Schnittstelle, an der ein Mensch über sein Glück oder Unglück entscheidet. Denn auch ein Gefühl des Schmerzes kann von uns in ein Gefühl von Glück verwandelt werden. Dafür allerdings bedarf es Einfühlungsvermögen in einen selbst, Ruhe und Zeit. 

Mit der Verquickung und dem Verständnis von Epikur und Robert Pfaller könnte aus einem Kalenderspruch wie „Carpe diem“ wieder eine ernstzunehmende Lebensäußerung und innerliche Ausrichtung werden.

Anm.d.Red.: Anfang des Jahres 2012 erschien in der Tageszeitung “Der Standard” ein Essay mit dem Titel “Wofür es sich zu leben lohnt”. Angelehnt war er an Robert Pfallers im März desselben Jahres erschienenes, gleichnamiges Buch (S. Fischer Verlag). Die Fotos stammen von Alex Boamfa und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

5 Kommentare zu “Zeiten der Völlerei: Wofür lohnt es sich zu leben?

  1. In 90% sind wir konsumorientierten Liebe, Frieden und Freude, die fotaleza enrriquece Armut, Reichtum Beherrschung des Wissens.

  2. “Denn auch ein Gefühl des Schmerzes kann von uns in ein Gefühl von Glück verwandelt werden. Dafür allerdings bedarf es Einfühlungsvermögen in einen selbst, Ruhe und Zeit.”

    “Einfühlungsvermögen in einen selbst” – was ist das? sowas wie einem selbst zuhören können? Selbstgespräch und Autismus?

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